
Auf meinem Weg durch das literarische Werk T. C. Boyles habe ich auf Empfehlung einen Zwischenstopp beim zweiten Roman eines anderen US-Schriftstellers eingelegt. Nämlich bei Ein Sohn der Stadt von Kent Haruf. Beide Autoren sind Kinder der gleichen Generation, nur fünf Jahre auseinander. Und beide schreiben über eine Welt im Wandel, zwischen Einsamkeit, Gemeinschaft, Zerfall und Hoffnung. Über Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Haruf und Boyle wird noch zu sprechen sein. Harufs Roman, der im Original 1990 erschien, erzählt die Geschichte von Jack Burdette, einem Sohn der fiktiven Kleinstadt Holt im Bundesstaat Colorado. Jack ist anders als die anderen Jungs und Männer von Holt, kompromissloser, unberechenbarer, selbstgerechter; oder schlicht und einfach asozial. Seine Romangeschichte zieht sich über gut vier Jahrzehnte hinweg, von den Neunzehnvierziger-Jahren bis in die Achtziger.
Erzählt wird Jacks Geschichte von Pat Arbuckle, zu Beginn einer seiner Kindheits- und Jugendfreunde; später sein Gegenspieler. Pat ist Sohn des Herausgebers des örtlichen Kreisblättchens, des Holt Mercury, und nur ein Jahr jünger als Jack. Nach seinem Collegeabschluss übernimmt Pat den Zeitungsverlag von seinem Vater und ist von da an ein zuverlässiger – wenn auch selbst eng beteiligter – Chronist der Lebensgeschichten von Jack Burdette und dessen Geschädigter.
Worum es geht
Wie auch in Harufs anderen Geschichten sind in dieser 275 Textseiten langen Erzählung die Menschen im Mittleren Westen das zentrale Thema des Schriftstellers. Die erfundene Kleinstadt Holt mit ihrer Landwirtschaft und den gerade einmal dreitausend Einwohnern liegt in den High Plains, beinahe schon am Ostanstieg der Rocky Mountains. Die beiden nächsten größeren Städte sind Boulder und Denver im Herzen des US-Bundesstaates Colorado. Dort also wächst Jack Burdette auf, Sohn eines Trinkers und einer frömmelnden Mutter. 1959, als Jack achtzehn ist, wird der Vater vom Zug erfasst. Von seiner Mutter sagt er sich los.
Ein Spiegel der Gesellschaft
Tatsächlich aber ist dieser Jack nur vordergründig die Hauptperson des Romans. Denn wir erfahren so gut wie nichts von seinem Innenleben, seinem Antrieb. Wir sehen lediglich die Reaktionen, die die impulsiven, verantwortungslosen Aktionen Burdettes bei seinen Mitmenschen auslösen.
Jungs und Männer beeindruckt Jack zunächst mit seiner überlegenen Physis, auf dem Footballfeld der Kleinsatdt ist er der große Star. Männerfreundschaftliches Schultergeklopfe, viele Daumen nach oben. Ein persönliches Groupie hat Jack natürlich auch. Wanda Jo Evans himmelt den Kerl an, hilft ihm durch die Schulfächer, die nicht in seinen Kopf passen, wäscht ihm später seine Wäsche und lässt ihn in ihr Bettchen. Allerdings versteht Wanda nicht, dass ihr Jack sie niemals heiraten wird. Erst als ihr Angebeteter eines Tages mit einer Fremden nach Holt zurückkommt, die er irgendwo geehelicht hat, zerplatzt Wandas Lebenstraum wie eine Seifenblase.
Doch auch seine frisch Angetraute, Jessie, nutzt Jack aus. Er schwängert sie dreimal und lässt sie dann sitzen. Allerdings geht er dann ohnehin mit einem großen Knall ab. Er pumpt noch einmal alle Bekannten und Geschäftsinhaber des Städtchens an, kauft auf Kredit, was er bekommen kann, und verschwindet mit 150.000 Dollar in der Tasche, die er bei der örtlichen Landwirtschaftsgenossenschaft veruntreut hat. Ganz Holt tobt, stößt Todesdrohungen aus und verwünscht den Betrüger auf ewig. Tatsächlich aber unternimmt niemand etwas Konkretes. Polizeiermittlungen verlaufen im Sande und werden sogleich eingestellt.
Was einmal geht, funktioniert auch ein zweites Mal
Acht Jahre später, die Wunden, die Jack Burdette hinterlassen hatte, sind mehr schlecht als recht verschorft, kehrt der menschliche Tsunami nach Holt zurück. Seine Straftaten sind verjährt, persönliche Kränkungen schlucken die Betroffenen zähneknirschend hinunter. Und dann nimmt sich Jack auch noch den Rest. Alles was er Jahre zuvor achtlos weggeworfen hat, reißt er sich nun in gewohnter Manier unter den Nagel und verschwindet erneut. Warum? Weil er es kann. Weil es niemanden gibt, der Jack etwas entgegenzusetzen hätte. Was unternehmen die Einwohner von Holt, nachdem sie ein weiteres Mal gedemütigt wurden? Nichts. Sie wünschen dem Albtraum aus ihrer Mitte die Pest an den Hals und gehen zur Tagesordnung über. Auch und gerade unser Erzähler Pat Arbuckle handelt nicht anders.
Über den Autor
Alan Kent Haruf wurde im Jahr 1943 in Pueblo, Colorado geboren und wuchs in verschiedenen Ortschaften des amerikanischen Bundesstaates im Nordosten des Mittleren Westens auf. Er verstarb im Jahr 2014 im Alter von 71 Jahren an einer unheilbaren Lungenfibrose. Haruf schrieb sechs Romane und mehrere Kurzgeschichten, die alle in Colorados High Plains handelten, hauptsächlich im prototypischen Ort Holt. Obwohl seine ersten beiden Romane von der Kritik gelobt wurden, blieb kommerzieller Erfolg aus, bis er 1999 Plainsong | Flüchtiges Glück veröffentlichte, das breite Anerkennung und Bestsellerstatus erlangte. Es folgten zwei Fortsetzungen. Sein sechster und letzter Roman erschien im Original postum im Jahr 2015.
Mehr über Kent Haruf
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© Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif
Alan Kent Haruf wurde 1943 als eines von vier Kindern von Eleanor und Louis Haruf geboren. Sein Vater war Methodistenpfarrer, deshalb zog die Familie mehrmals innerhalb der Region um. Über die eigentlichen Wurzeln der Harufs gibt es keine gesicherte Erkenntnis. Der Nachname Haruf ist relativ ungewöhnlich, manche vermuten gar deutsche oder schweizerische Ursprünge. Vom Schriftsteller selbst gibt es dazu jedoch keine Angaben.
Zunächst studierte Haruf Biologie an der Universität in Nebraska, schloss jedoch Jahre später, 1965, mit einem Bachelorgrad in Englisch am renommierten Iowa’s Writer’s Workshop ab. Im Anschluss unterrichtete er im Rahmen eines Einsatzes des US-Friedenscorps Englisch in der Türkei und schrieb gleichzeitig Kurzgeschichten; eine Zeit, die er später als „eine gute Erfahrung für mich, aber von geringem Wert für die Türken“ bezeichnete. Außerdem arbeitete er als Hausmeister, Bauarbeiter und Landarbeiter, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Harufs erste zur Veröffentlichung angenommenen Werke erschienen 1984, im Alter von 41 Jahren.
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Was von Haruf bleibt
Der Schriftsteller war zweimal verheiratet und hatte drei Töchter. Kent Haruf veröffentlichte im Laufe seines Lebens sechs Romane, die alle letztlich auch in deutschen Übersetzungen erschienen sind:
- The Tie That Binds (1984) | Das Band, das uns hält (2023)
- Where You Once Belonged (1990) | Ein Sohn der Stadt (2021)
- Plainsong (1999) | Flüchtiges Glück (2001) / Lied der Weite (2019)
- Eventide (2004) | Abendrot (2019)
- Benediction (2013) | Kostbare Tage (2020)
- Our Souls at Night (2015) | Unsere Seelen bei Nacht (2017)
Kent Haruf erhielt für sein Werk mehrere regionale Literaturpreise: 1989 wurde der Autor für seinen ersten Roman mit dem New Yorker Whithing Foundation Writer’s Award for Fiction ausgezeichnet. 1999 war Flüchtiges Glück immerhin Finalist des National Book Award. Ein Jahr später folgte der Mountains & Plains Bookseller Award, 2005 stand Abendrot auf der Shortliste des Book Sense Award. Im gleichen Jahr wurde Flüchtiges Glück mit dem Colorado Book Award bedacht. 2006 erhielt Haruf den Dos Passos Prize for Literature, sechs Jahre danach den Wallace Stegner Award. Zuletzt stand in seinem Todesjahr der Roman Kostbare Tage auf der Shortliste des Folio Prize. Unsere Seelen bei Nacht wurde 2017 als Kinofilm auf den Festspielen von Venedig vorgestellt, mit Robert Redford und Jane Fonda in den Hauptrollen.
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Einordnung und Bewertung
„Haruf beherrscht die seltene Kunst, traurige Geschichten in einen schönen Roman zu verwandeln.“
(Goslarsche Zeitung?)
Nun, eine traurige Geschichte ist das allemal. Traurig vor allem für die persönlich und menschlich Betroffenen: in erster Linie also für Wanda, die schmählich verlassene Ex-Freundin, die ihr Leben einem Taugenichts verschrieben hatte; für Jessie, die einen sehr hohen Preis dafür bezahlen musste, von Jack aus der Trostlosigkeit ihres Elternhauses befreit zu werden; und schließlich für Pat, der seinem Jugendfreund immer wieder aus der Patsche geholfen hatte und dessen bescheidenem familiären Glück Jack unerbittlich ein Ende setzt.
Aber auch für die Gemeinschaft der amerikanischen Kleinstadt Holt ist die Geschichte traurig. Ich meine damit gar nicht so sehr die erlittenen finanziellen Einbußen durch Betrug und Unterschlagung. Ich denke vielmehr an das Versagen einer ganzen Gemeinde, die sich schon einmal übers Ohr hauen hat lassen und nichts daraus gelernt hat. Man möchte jeden Einzelnen am Revers packen, schütteln und ihn anbrüllen: „Seid Ihr denn klüger nicht?“ Angefangen beim Sheriff, über die Geschäftsleute und Landwirte bis hin zum Erzähler Pat Arbuckle.
Was bei mir hängengeblieben ist
Als ich den Romanband nach der letzten Zeile zugeschlagen hatte, war mein erstes Gefühl eben diese Enttäuschung über das vollumfängliche Versagen einer menschlichen Gemeinschaft. Wie können die eine derartige Demütigung einfach achselzuckend hinnehmen? Mit Vergebung hat das ja nichts mehr zu tun. Und mit juristischer Ohnmacht braucht mir Haruf auch nicht daherzukommen. In Romanen gibt es andere Möglichkeiten, für Gerechtigkeit zu sorgen, als im echten Leben. Es ist schon ein sehr deutliches Bild, das der Autor hier zeichnet: Der Mensch ist grundsätzlich bequem, und der Begriff Zivilcourage wird zumindest in Holt nur in Kleinbuchstaben sowie winziger Schiftgröße geschrieben.
Doch nach kurzer Zeit wurde mir auch bewusst, dass ich den Text sehr gerne gelesen habe. Trotz meiner Entrüstung über mangelnde Gerechtigkeit. Denn die Goslarer Zeitung hat schon Recht: Ein Sohn der Stadt ist eine wirklich traurige Geschichte, aber eben auch eine sehr schön geschriebene. Der deutsche Schriftsteller und bekannte Kolumnist Axel Hacke schrieb in der ZEIT über das Buch: „Ich kann sagen, dass in jenen zwei Wochen, in denen ich das Buch abends im Bett las, nie die Sonne aufging, ohne dass ich mich auf die Zeit vor dem Einschlafen gefreut hätte.“ – So ähnlich ist es mir auch gegangen, auch wenn ich keine zwei Wochen für diesen Sohn der Stadt gebraucht habe.
Über Boyle und Haruf
Ganz oben, im ersten Absatz über den Haruf-Roman habe ich angemerkt, dass Haruf und T. C. Boyle Zeitgenossen waren. Haruf war nur fünf Jahre älter als Boyle. Er verstarb vor elf Jahren mit 71 Jahren, Boyle wird im kommenden Dezember 77. Beide haben das Schriftstellerhandwerk im Iowa’s Writer’s Workshop erlernt. Der eine lässt seine Romane in Holt spielen, der andere nicht selten in Peterskill. Und wir dürfen davon ausgehen, dass beide Autoren mit diesen Orten ihre jeweiligen Heimatstädtchen meinen. Beide arbeiten mit stark regionalem Bezug, der allerdings exemplarisch für größere gesellschaftliche Zusammenhänge steht. Und sowohl Boyle als auch Haruf setzen auf intensive Personencharakterisierung, um größere Themen zu transportieren. Außerdem und nur nebenbei bemerkt spielt in beider Autoren Romane der Alkohol eine tragende Rolle.
Beide werfen tiefgründige Blicke auf das amerikanische Selbstbild und die soziale Realität – einer durch Reduktion, der andere durch Überzeichnung. Zwei uramerikanische Schriftsteller verfolgen verschiedene Wege, mit ihrer Sprache die gleiche Welt zu erfassen. Während Haruf reduziert und eher leise schreibt, ist Boyles Stil bildhaft, oft ironisch, sarkastisch oder explosiv.
Rein numerisch dürfte der Unterschied zwischen den beiden Literaten am auffälligsten sein. Denn den sechs Romanen und womöglich ebensovielen Kurzgeschichten Harufs stehen bislang zwanzig Romane und dreizehn Bände mit Kurzgeschichten Boyles gegenüber.
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Fazit:
Kent Harufs Ein Sohn der Stadt ist ein zurückhaltenderer, eindrucksvoller Roman über das Aufwachsen und Leben in einer ländlichen Gemeinde im amerikanischen Westen. Mit klarer, unaufgeregter Sprache und großer Einfühlsamkeit erzählt Haruf von Familie, Verlust, Verantwortung, Versagen und der Suche nach Zugehörigkeit. Die Figuren wirken authentisch und nah, ihre alltäglichen Kämpfe berühren die Leserschaft. Ohne Pathos, aber mit großer Menschlichkeit zeigt der Autor, wie sich Charaktere im Laufe des Lebens formen; allerdings selten zum Vorteil der Figuren.
Eine eindringliche Lektüre, die lange nachhallt. Ideal für Leser/-innen, die echte Geschichten über echte Menschen schätzen. Durch die Figur des unaufhaltsamen, dreist egoistischen Jack Burdette wirkt die Erzählung in einzelnen Szenen härter und düsterer als andere Romane des Autors. (Zumindest wenn man Besprechungen der anderen fünf Bücher Glauben schenken darf.)
Nach Anwendung meines Sternealgorithmus schafft es Ein Sohn der Stadt auf vier von fünf möglichen Sternen. Zwar nimmt er die Hürde von drei auf vier nur knapp, aber letztlich hat er sich diese außergewöhnlich hohe Bewertung durchaus verdient.
Kent Haruf: Where You Once Belonged
| Ein Sohn der Stadt
EN Summit Books, 1990
DE Diogenes Verlag, 2021
Ich bedanke mich herzlich bei meiner bibliophilen Nachbarin für ihre Empfehlung und das Ausborgen des Romans
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