Der Friedhof der vergessenen Bücher

La Ciudad de Vapor, Carlos Ruiz Zafón, 2020 | Der Friedhof der vergessenen Bücher, 2022
Carlos Ruiz Zafón, 2022

Fünf Monate nach dem Krebstod Carlos Ruiz Zafóns, des weltweit meistverkauften spanischsprachigen Autors nach Miguel de Cervantes, erschien ein knapp zweihundertseitiger Erzählband mit dem Originaltitel La Ciudad de Vapor – etwa „Stadt aus Dunst“. Der Fischer Verlag hat daraus zwei Jahre später den deutschen Buchtitel Der Friedhof der vergessenen Bücher gemacht. Es handelt sich um eine Sammlung von elf Erzählungen, von denen sieben bis dahin unveröffentlicht waren. Eine der vier anderen, bereits bekannten Geschichten trägt den Titel El Principe de Parnaso | Der Fürst des Parnass. Diese Episode war schon einmal zu Lebzeiten Ruiz‘ – 2014 auch auf deutsch – als Kurzgeschichte veröffentlicht, nach seinem Tod jedoch aus den Verlagsprogrammen zurückgezogen worden. (Nur um wenig später wie Phönix aus der Asche in der neuen Nachbarschaft dieses Erzählbandes wieder aufzuerstehen.)

Der Fürst des Parnass ist die längste Erzählung des Bändchens. Sie macht alleine mehr als ein Viertel des Gesamtumfangs aus. Der Verdacht liegte nahe: Verlag und Witwe des Ausnahmeautors wollten noch einmal Kasse machen mit Textfragmenten aus der Schreibtischschublade von Carlos Ruiz Zafón. – Sehen wir doch einmal, was da sonst noch alles postum versilbert wurde!

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Der Friedhof der vergessenen Bücher – 1. – Blanca und der Abschied

Der Untertitel dieser ersten Episode lautet Aus den nie erschienenen Memoiren eines gewissen David Martín¹. Die treue Leserschaft der ruizschen Romane um den Friedhof der vergessenen Bücher erinnert sich gewiss: Dieser David Martín hatte seinen ersten Auftritt im zweiten Romanband, Das Spiel des Engels. Er war dort ein Freund der Familie Sempere und Altersgenosse von Daniel Semperes Vater.

David erzählt uns von einer Begebenheit seiner Kindheit, als er acht Jahre alt war; also irgendwann zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die düstere Atmosphäre des schaurigen Barrio Gótico in der Altstadt Barcelonas dominiert die Stimmung der Geschichte in diesem Rückblick. Wir erinnern uns daran, dass die Romanfigur David Martín ein paar Jahre später seine schriftstellerische Karriere als Schreiber von Groschenromanen beschreiten wird. Denn genau im Ton solcher Trivialliteratur mäandert die düstere Kurzgeschichte dahin:

David also, ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen, trifft zufällig auf Blanca, ein gleichaltriges Mädchen aus reichem Hause. Die beiden fassen Vertrauen, schließen Freundschaft und David verliebt sich erstmals in seinem Leben. Ein paar Wochen lang treffen sich Blanca und der Junge alle zwei Tage für eine halbe Stunde in einer Kirchenbank, während das Kindermädchen Blancas dort ihre Beichte ablegt. Doch dann beendet Blancas Familie die kleine Romanze der beiden so unterschiedlichen Kinder. Das Mädchen verschwindet aus Davids Leben, und letztlich verblassen auch seinen Erinnerungen an diese erste Freundin.

★★★

2. – Namenlos

Die zweite Geschichte des Bandes ist keine sieben Seiten lang. Sie trägt sich in einer Nacht im Winter des Jahres 1905 zu, in einem der damals übelsten Viertel Barcelonas zwischen Fabrikanlagen und Lagerhallen, irgendwo in der Nähe des Pueblo Nuevo. Wir begleiten ein junges Mädchen von kaum siebzehn Jahren, das sich mit letzten Kräften durch die vergifteten Straßenzüge und dichten Schneefall schleppt. Sie ist hochschwanger und sucht offenbar Hilfe, um ihr Kind zur Welt zu bringen.

Schließlich findet das Mädchen den Ort, den es sucht, wird eingelassen. Ein rasch herbeigerufener Arzt entbindet auf einem Küchentisch das Kind per Kaiserschnitt. Doch von einem Happy End sind wir weit entfernt. Denn eine ominöse, weiß gekleidete Dame nimmt das Neugeborene an sich, und die blutjunge Mutter wird in den letzten Zügen ihres Lebens wie eine Fuhre Müll entsorgt.

Die kurze Episode wirkt dank verschiedener Details, als sei sie aus einem größeren Zusammenhang entnommen worden. Möglicherweise handelt es sich um einen Ausriss aus einer Entwurfsfassung von Das Spiel des Engels, also um eine Episode, die ihren Weg in den Roman letztlich nicht gefunden hat und in der Schreibtischschublade des Autors landete? Denn der Erzähler der schaurigen Schilderung ist erneut ein gewisser David, der aus dem Hörensagen von seiner eigenen Geburt berichtet.

★★

Der Friedhof der vergessenen Bücher – 3. – Ein junges Mädchen aus Barcelona

„Laia war fünf Jahre alt, als ihr Vater sie zum ersten Mal verkaufte.“¹
(Seite 49)

Dieser erste Satz der Erzählung, die sich über 21 Buchseiten erstreckt, lässt das Schlimmste erahnen. Doch tatsächlich handelt es sich gar nicht um die zunächst angenommen Überlassung eines Vorschulkindes gegen Geld als Gegenleistung für sexuelle Handlungen. Vielmehr ist Laias Vater Eduardo ein wenig erfolgreicher Fotograf, dem ein steinreicher Kunde nach einem Fototermin, zu dem ihn die kleine Tochter begleitete, ein eher verzweifeltes Angebot macht: Die kleine Laia solle der verwirrten Ehefrau des Auftraggebers für ein paar Stunden als Ersatz für die jüngst verstorbene Tochter dienen. Dafür wird Eduardo fürstlich entlohnt.

Das Mädchen macht seine Sache so gut, findet sich perfekt in die ihr zugedachte Rolle hinein, dass Vater und Tochter nach kurzer Zeit für ihre Verhältnisse in Geld schwimmen. Denn weitere solvente Kunden kommen hinzu, Laia wird zur käuflichen Projektionsfläche.

„Sie hatte gelernt, sich in andere Personen zu verwandeln, niemand und nichts zu sein, in der Haut anderer zu leben.“¹
(Seite 56)

Doch das Leben in den Geschichten Carlos Ruiz‘ bleibt niemals unschuldig, hier gibt es keine glücklichen Ausgänge. Der Vater verpulvert die Einnahmen in Spielcasinos. Und irgendwann ist Laia alt genug, dass die Wünsche der Kunden dann doch ins Körperliche wechseln. Laia wird zur Edelprostituierten. Als das Mädchen schwanger wird und der Vater sie zur Abtreibung begleitet, gerät die Geschichte aus dem Lot. Um ein Haar stirbt Laia während der Kurpfuscherei. Ihr Vater Eduardo hält sie für tot und sucht das Weite.

Von diesem Moment an wird die Geschichte recht bizarr. Denn der langjährige Hausarzt Laias nimmt sich der Halbtoten an. Dieser Mann trägt aus nicht erklärten Gründen den gleichen Nachnamen wie Laia und ihr Vater, nämlich Sentís, kein Allerweltsname in Spanien. Das Mädchen hegt töchterliche Gefühle für den Doktor, sorgt auch noch für ihn, als der Mann spinnert wird. Doch die Erzählung endet schließlich überstürzt und sehr sonderbar. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich bei dieser insgesamt durchaus geglückten Episode auch wieder nur um ein Textfragment des Autors handelt, das er letztlich nicht stimmig zu Ende bringen konnte oder in einem seiner Romane unterbringen wollte.

★★★

Der Friedhof der vergessenen Bücher – 4. – Die Feuerrose

„Als also der 23. April gekommen war, wandten sich die Häftlinge auf dem Zellengang David Martín zu, der mit geschlossenen Augen im Schatten seines Kerkers lag, und baten ihn, ihnen eine Geschichte zu erzählen, um ihre Langeweile zu vertreiben.
»Ich werde euch eine Geschichte erzählen«, sagte er. »Eine Geschichte von Büchern, von Drachen und von Rosen, so wie es das Datum* verlangt, aber vor allem eine Geschichte von Schatten und Asche, wie es diese Zeiten verlangen.«
(Aus den verlorenen Fragmenten von Der Gefangene des Himmels)“¹

Mit diesem vollmundigen Möchtegernzitat aus dem dritten ruizschen Roman um den Friedhof der vergessenen Bücher steigen wir ein in die vierte Erzählung des Bandes, die zwar nur dreizehn Seiten umfasst, trotzdem jedoch in sieben Kapitel untergliedert ist. Die Geschichte ist ein kleines strukturelles Meisterwerk, das sich auf mehreren Erzählebenen abspielt.

Geschichten in der Geschichte

Der Autor, also Carlos Ruiz Zafón, lässt eine seiner Romanfiguren, nämlich diesen David Martín, im Verlies des Montjuïc eine Legende erzählen, um seine Mithäftlinge zu unterhalten. Davids Saga spielt sich im finsteren Mittelalter ab, nämlich im Jahr 1454. In diesem Jahr hatte Barcelona gerade eine todbringende Fieberepidemie überstanden – besonders dunkle Zeiten also! –, als ein fremdes Schiff vor der Stadt auf Grund läuft.

Ein Schiff voller Toter, der einzige Überlebende ist ein Abenteurer namens Edmond de Luna, der ein Reisetagebuch mit sich führt, das auf Persisch verfasst ist. Doch auch das Leben dieses de Luna hängt am seidenen Faden, völlig unansprechbar landet er im Krankenhaus. Um das Rätsel zu lüften, wird ein sprachkundiger Barcelonese hinzugezogen. Der Mann heißt Raimundo de Sempere. Ach, und der ist natürlich ein Urahn der Familie Sempere aus dem Friedhofszyklus Don Carlos‘. Raimundo wird also zum Sprachrohr Edmond de Lunas.

Das Tagebuch von Edmond de Luna

De Luna war drei Jahrzehnte zuvor in Richtung Orient aufgebrochen und hatte so einige Abenteuer erlebt, bevor er sich der Baukunst von Labyrinthen verschrieb. Mit seinen besonderen Fähigkeiten, erwarb der Mann Reichtümer und hohes Ansehen. Schließlich beschloss er, seine Kunst nur mehr dann anzubieten, wenn er ganz außergewöhnliche Gegenleistungen erhalten sollte.

Seinen größten und wichtigsten Auftrag bekam de Luna dann vom Herrscher über Konstantinopel. Dieser bat ihn, eine Geheimbibliothek unter den Katakomben der Hagia Sophia zu erbauen, in der für immer und ewig geschützt die literarischen Meisterwerke aller Zeiten untergebracht werden sollten. Als Gegenleistung übergab der Herrscher dem Baumeister eine Phiole mit einem Blutstropfen des letzten aller Drachen – das Geheimnis der Unsterblichkeit! – sowie ein Amulett mit einer Träne Jesu Christi. Der Bau des Labyrinths konnte jedoch nicht mehr durchgeführt werden, da die Osmanen Konstantinopel belagerten und die Stadt wenig später fallen sollte. Edmond de Luna floh noch rechtzeitig auf Befehl des Herrschers. Er sollte die bereits fertig geplante Geheimbibliothek an einem geeigneten Ort seiner Wahl statt in Konstantinopel errichten.

Doch die Besatzung des Schiffes, auf dem Edmond floh, starb nach dem Genuss vergifteten Weins. De Luna war der einzige, der nicht davon getrunken hatte. Verzweifelt schnupperte der letzte Überlebende an Bord an der Phiole mit dem Drachenblut und musste doch feststellen, dass er sich alleine durch den flüchtigen Duft der Essenz um ein Haar selbst in einen Drachen verwandelt hätte. Der Lohn des Herrschers von Konstantinopel war keineswegs ein Segen, sondern das Tor zur Hölle!

Wir erinnern uns: Dieses Abenteuer übersetzt Raimundo Sempere aus dem persischen Tagebuch de Lunas. Doch sein Zuhörer, der gierige Großinquisitor Jorge de León, lässt den unglückseligen Sprachkundigen augenblicklich in den Kerker werfen, wo der Geheimnisträger verrotten solle.

Das Erbe Konstantinopels

Bekanntlich ist Gier niemals ein guter Ratgeber. Der Inquisitor kann dem Drachenblut nicht widerstehen und trinkt. Sofort verwandelt er sich in eine feuerspeiende, schuppenhäutige Bestie, die eine ganze Woche lang die Stadt Barcelona in Schutt und Asche legt. Am siebenten Tag jedoch tritt dem Drachen der genesene Edmond de Luna entgegen, das Amulett mit der Träne Christi in der Faust: Ein finaler Kampf des Bösen gegen das Gute!

Derweil birgt der aus dem Kerker entflohene Raimundo Sempere die Baupläne des sagenumwobenen Labyrinths aus dem Schiffswrack am Strand vor Barcelona. Und wir alle wissen natürlich längst, wo dieser Bau schließlich errichtet werden sollte.

Ja, dies ist also die Geschichte, die David Martín im Kerker des Montjuïc zum Besten gibt. Wahrlich, für dieses wortgewaltige literarische Kleinod, das Carlos Ruiz Zafón seiner Romanfigur David in den Mund legt, muss ich mich post mortem vor dem Meister verneigen, oder gar in den Staub und die Asche des zerstörten Barcelonas zu seinen Füßen werfen.

★★★★

*) Der 23. April wird in Spanien als Tag des Buches und der Rose gefeiert.

Der Friedhof der vergessenen Bücher – 5. – Der Fürst des Parnass

Die zentrale Erzählung des Bändchens steigt im Jahr 1616 ein, nämlich am Tag der Beerdigung von Miguel de Cervantes. Ruiz erzählt uns eine abenteuerliche Geschichte um die große Liebe Cervantes‘, deren Tod und die Entstehung des berüchtigten Friedhofs der vergessenen Bücher. Auftritte bekommen nicht nur der spanische Dichterfürst und seine geliebte Francesca. Auch ein Vorfahre der Semperes sowie der alterslose Andrea Corelli und Sancho Pansa alias Fer­mín Romero de Torres – allesamt Figuren aus dem Friedhofszyklus des Autors – spielen mit. Ein wilder und fantastischer Ritt durch die Jahrhunderte, der Wahrheit mit Fabel verwirbelt. Darüber habe ich im Detail bereits vor einigen Jahren geschrieben; nachdem die Erzählung ursprünglich erschienen war.

Dass diese fünfte Geschichte mit über fünfzig Buchseiten die weitaus längste Erzählung des gesamten Bandes ist, habe ich in der Einleitung bereits erwähnt. Spätestens bei der Lektüre dieses Textes, mit dem wir in der Buchmitte ankommen, wird der Leserschaft klar, dass es sich mit der postumen Veröffentlichung um …, sagen wir es doch deutlich: um Profitmacherei der Erben eines erfolgreichen Autors handelt.

★★★

Der Friedhof der vergessenen Bücher – 6. – Eine Weihnachtsgeschichte

Am 19. Dezember 1843 erschien Charles Dickens‘ berühmter Roman A Christmas Carol | Eine Weihnachtsgeschichte. Der böse, geizige, alte Ebenezer Scrooge zeigt sich am Ende geläutert und bringt den Kindern seines Neffen Geschenke. Der eine oder die andere weiß vielleicht, dass der italie­nische Corriere della Sera den Schrift­steller Carlos Ruiz Zafón einst als den „Dickens von Barcelona“ bezeichnet hatte.

Nun, hier haben wir ihn, den katalanischen Dickens: Auf nur vier Buchseiten erzählt er uns eine alternative Weihnachtsgeschichte, nämlich über „den reichsten Mann der Stadt, den Anwalt Eveli Escrutx“. Jedes Jahr am Weihnachtsabend schickt Es­crutx seine blinde, krallenfingrige, schwarzlippige Haushexe Candela hinaus in die Gassen der Altstadt Barcelonas, um ihm ein neues Opfer zuzuführen. Bankiers oder Obdachlose, egal, sie alle bewirtet er mit einem opulenten Weihnachtsmahl und lässt sie dann zu einer Schachpartie antreten. Gewänne einer von ihnen, so übertrüge ihm Escrutx all seine Schätze. Doch natürlich verlieren sie alle ohne Ausnahme und müssen dem bösen Mann auf immer und ewig ihre unsterblichen Seelen überlassen. Diese Seelen sammelt der Anwalt in gläsernen Phiolen. Solange bis eines Weihnachtsabends, nun ja …

Ich weiß selbstverständlich nicht, ob der Autor diese spaßige Episode als Antwort auf den Corriere della Sera verfasst hat. Aber zugetraut hätte ich es ihm auf jeden Fall. Und für die gemeine Katalanisierung des Namens „Ebenezer Scrooge“ gebührt ihm ohnehin ein Extrasternchen.

★★★

7. – Alicia im Morgengrauen

Auf den „Escrutx“ der sechsten Erzählung folgt gleich noch eine Weihnachtsgeschichte, ebenfalls nur viereinhalb Buchseiten lang. Der namenlose Laufbursche des Ramschladenbesitzers Odón Llofriu erzählt eine Begebenheit aus dem Kriegsjahr 1938. Italienische Bomben fallen auf Barcelona, die Stadt befindet sich in unsäglichem Ausnahmezustand.

Eine junge Frau will ein kostbares Kollier zu Geld machen. Doch auf das unverschämt niedrige Kaufangebot des Trödlers lässt sie sich nicht ein und verlässt den Laden wieder. Llofriu schickt seinen Gehilfen dem Mädchen hinterher. Er solle auf sie aufpassen, damit ihr niemand das Geschmeide abnähme. Denn irgendwann würde die schon wiederkommen mit ihrem Schmuckstück. So wie alle anderen auch.

Es folgt eine betroffen machende, bizarre Episode, in der der Bursche bei der Frau in einem verwahrlosten, riesigen Haus landet. Alleine zu zweit im zerstörten Glanz längst vergangener Zeiten verbringen die beiden einen unwirklichen, verzweifelten gemeinsamen Abend. Als das Mädchen im Morgengrauen einschläft, will sich der Erzähler mit dem gestohlenen Kollier davonmachen. Doch er kommt nicht weit. Sein schlechtes Gewissen lässt ihn kehrt machen. – Was für finstere Zeiten!

★★

Der Friedhof der vergessenen Bücher – 8. – Graue Männer

Auf den folgenden neunzehn Seiten begleiten wir einen Auftragskiller durch einen seiner Arbeitstage. Wie schon unzählige Male zuvor, erhält der Mann durch einen Boten den Auftrag, einen Mord auszuführen. Doch diesmal sind die Umstände anders als sonst. Denn seine Zielperson ist nicht irgendwer. Diesmal handelt es sich um jemanden, den der Killer persönlich kennt. Jemanden, den er schon sehr lange Zeit sehr gut kennt. Fast wäre man geneigt zu sagen, es handle sich um einen Freund.

Allerdings haben Auftragsmörder keine Freunde; höchstens Weggefährten. Und letztlich sind Mordaufträge auch niemals persönliche Angelegenheiten, sondern Geschäfte, die mit professioneller Präzision durchgeführt werden müssen. Außerdem ist jedem Profikiller eine unumstößliche Tatsache bewusst: Irgendwann kommt der Tag, an dem er selbst Ziel eines anderen gedungenen Mörders wird, einfach weil er im Laufe der Jahre zu viel weiß und dadurch zum Risiko für die Auftraggeber wird.

Dem Autor gelingen auf den wenigen Textseiten zwei Dinge: Zum einen wird vor den Augen der Leserschaft der Lebensweg eines skrupellosen Individuums sichtbar, von dessen Jugendjahren bis zu dem Moment, in dem er selbst im besten Mannesalter zur Zielscheibe wird.
Zum anderen bekommen wir ein Gefühl für die politische und menschliche Grausamkeit der Jahrzehnte des spanischen Bürgerkrieges und der nachfolgenden Dekaden, in denen Aufträge zu tödlichen Problemlösungen sogar noch zunahmen.

★★★

Der Friedhof der vergessenen Bücher – 9. – Die Frau aus Dunst

Mit diesem neunten Text des Bandes wird es formal richtig spartanisch: die Episode erstreckt sich gerade einmal über zweieinhalb Buchseiten, und doch ist es nicht die kürzeste. Aber die minimalistische Geschichte hat es in sich. Erzähler ist ein vermutlich noch recht junger Mann, offenbar frisch aus dem Gefängnis entlassen. Eines Abends, als er es sich wieder einmal auf einer Parkbank gemütlich gemacht hat, weckt ihn ein junges Mädchen, Laura. Sie führt in in ein Wohnhaus aus dem vergangenen Jahrhundert. In diesem Haus verbringt der Erzähler die Zeit seines Lebens; nachts mit Laura und tagsüber mit verschiedenen der Bewohner der alten Immobilie, die ihm alle herzlich zugeneigt zu sein scheinen.

Nun ja, zumindest glaubt das der Erzähler. Er bildet es sich ein oder erträumt es sich. Zumindest solange, bis ein Abbruchunternehmen in dem Gebäude auftaucht …

★★★

Der Friedhof der vergessenen Bücher – 10. – Gaudí in Manhattan

Diese vorletzte Erzählung über den katalanischen Ausnahmearchitekten Antoni Gaudí ist eine der Kurzgeschichten, die bereits als eigenständige Veröffentlichung noch zu Lebzeiten des Autors erschien; sogar in einer deutschen Übersetzung. Gelesen hatte ich sie damals nicht. Und ich kann auch nicht ganz nachvollziehen, wieso man Mitte der Zehnerjahre eine eigene Buchausgabe aus einer derartig kurzen Episode machte, die hier gerade einmal zehn Buchseiten füllt und damals textgleich mit Hilfe von Leerseiten und architektonischen Abbildungen auf rund 50 Seiten aufgebläht wurde.

An der Handlung der Geschichte kann es nicht gelegen haben. Denn die ist überschaubar und provoziert nicht gerade Stürme der Begeisterung: Der junge Architekturstudent Miranda ist ein Verehrer Gaudís. Als er das Angebot erhält, sein Idol, das am liebsten Katalanisch, ungern Spanisch und gar nicht Englisch spricht, nach New York zu begleiten, um ihm dort als Dolmetscher zu dienen, sagt er sofort zu. Im Waldorf-Astoria in Manhattan wird Miranda Zeuge einer rätselhaften abendlichen Begegnung Gaudís mit einer verstörend schönen, jedoch unheimlich wirkenden jungen Frau. „Ihre Bewegungen waren katzengleich; ihr Lächeln reptilienhaft.“¹

Die dämonische Gestalt fordert Miranda auf, sie mit Gaudí alleine zu lassen. Am nächsten Tag findet der Student den Maestro verstört und um Jahre gealtert betend vor dem Altar einer Kirche. Er habe an jenem Abend Mittel zum unterfinanzierten Bau der Sagrada Familia in Barcelona erhalten sollen, räumt Gaudí ausweichend auf die Fragen seines Begleiters ein. Welchen Preis er dafür bezahlen hätte müssen, enthüllt der Baukünstler jedoch nicht.

«Déu no té pressa i jo no puc pagar el preu que se’m demana.»
| Gott hat es nicht eilig und ich kann den Preis nicht bezahlen, der von mir verlangt wird.

Aus meiner Sicht bemerkenswert ist die Erzählung deshalb, weil der 1964 in Barcelona geborene und dort aufgewachsene Carlos Ruiz Zafón darin zum ersten und einzigen Mal überhaupt in seinen Texten mit den gesellschaftlichen Diskrepanzen zwischen dem kastilischen Spanisch und dem Katalanischen spielt. In der deutschen Übersetzung geht diese Besonderheit leider vollständig unter. Darin werden die katalanischen Passagen unterschiedslos zu den kastilischen ins Deutsche übertragen. Dabei verleiht gerade dieses sprachliche Geplänkel der Kurzgeschichte einen guten Teil ihres Reizes. – „Té collons!“ | „Hat der Eier!“

★★★

11. – Apokalypse in zwei Minuten

Der Erzählband endet mit der definitiv kürzesten aller Kurzgeschichten. Auf nur eineinhalb Buchseiten (45 Druckzeilen, um präzise zu sein) schildert uns der namenlose Erzähler, wie ihn mitten in Manhattan, an der Ecke Fifth Avenue 57th Street, das Ende der Welt überrascht. Ein dramatisch kurzer Spaß, ein Abschied, in dem eine silberäugige junge Frau im Gothic-Look, der Sinn des Lebens, Schokoladeneis und die Liebe die wichtigsten Rollen spielen.

★★

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Nachruf:

„Carlos Ruiz Zafón hat neu erfunden, was es bedeutet, ein großer Schriftsteller zu sein. Seine visionäre Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, ist ein Genre für sich.“
(USA Today)

Der Erzählband endet mit einer Sammlung von 37 lobenden Zitaten zeitgenössischer Schriftsteller und internationaler Medien über den Schatten des Windes und den Friedhof der vergessenen Bücher. Eine Art komprimierter Nachruf auf einen der bemerkenswerteren Prosaisten des Jahrtausendwechsels. – Te echaremos de menos, Carlos | Wir werden Dich vermissen.

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Wem diese Buchbe­sprechung gefallen hat, wird sich viel­leicht für das Autoren­profil von Carlos Ruiz Zafón interes­sieren, das ich als Nach­ruf zu seinem Tod im Juni 2020 zusammen­gestellt habe. Darin sind auch mei­ne Rezen­sionen sei­ner vier Romane des Friedhofszy­klus ver­linkt.

Fazit:

Ich gebe zu, meine Erwartungshaltung an den Friedhof der vergessenen Bücher war vor der Lektüre mäßig. Das lag einerseits an verschiedenen Wortmeldungen Carlos Ruiz Zafóns noch zu seinen Lebzeiten, in denen er der ungehemmten Vermarktung seiner Romane widersprach. Seine unbeugsame Weigerung, den erfolgreichen Romanzyklus auch noch lukrativ verfilmen zu lassen, sichert dem Schriftsteller bis heute meine Bewunderung. Andererseits war aber auch die pathetisch vorgetragene Einleitung des Verlags im Vorwort dieses letzten Erzählbandes ein Grund für meine Skepsis:

„Zu diesem Zweck vertraute er [der Autor] diesem Herausgeber die Geschichten an, die hier zum ersten Mal das Licht der Welt erblicken werden, und beauftragte ihn, die im Laufe der Zeit bereits veröffentlichten Stücke zu bergen, um einen Band zu arrangieren, der keine bloße Zusammenstellung all seiner Erzählungen sein sollte.“¹

Wieso sollte mich das Verramschen der Schubladeninhalte des unlängst Verstorbenen vom Hocker reißen? Grenzte das nicht an Leichenfledderei? Nun, ein Geschmäckle hat es tatsächlich, bereits veröffentlichte Kurzgeschichten wie Die Feuerrose, den Fürsten des Parnass und Gaudí in Manhattan aus dem Verkauf zu nehmen, um genug Material für eine Neuveröffentlichung anhäufen zu können.

Aber dennoch hat mir die Lektüre des Sammelbandes überwiegend Lesespaß bereitet. Für diejenigen, die sich wirklich für den kompletten Carlos Ruiz Zafón interessieren, ist Der Friedhof der vergessenen Bücher eine empfehlenswerte Ergänzung; sie ist schließlich eine geschickt komponierte Anthologie. Das will ich nicht bestreiten und summa summarum vergebe ich daher knappe drei von fünf möglichen Sternen für diese hoffentlich allerletzte Veröffentlichung.

Carlos Ruiz Zafón:
La Ciudad de Vapor
| Der Friedhof der vergessenen Bücher,
🇪🇸 Planeta, 2020
🇩🇪 Fischer Verlag, 2022

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Fußnote:

¹ — Ich habe den Erzählband im spanischen Original gelesen. Deshalb bitte ich um Nachsicht, wenn die eine oder andere Textpassage hier nicht wörtlich der offiziellen Übersetzung durch Lisa Grüneisen und Peter Schwaar entspricht.

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