Der Gefangene des Himmels ist der dritte Roman des Schriftstellers Carlos Ruiz Zafón, der im Umfeld des sagenumwobenen Friedhofs der Vergessenen Bücher in Barcelona angesiedelt ist. In diesem dritten Teil der Saga knüpft der Autor an beide vorangegangenen Teile an und bringt die zuvor nur sehr lose zusammenhängenden Geschichten in inhaltlichen Zusammenhang. Wir tauchen also erneut ein in die Geschichte von Daniel Sempere, dem jüngsten Nachfolger einer Buchhändlerfamilie, und seines Vertrauten, Fermín Romero de Torres, eines Tausendsassas mit dunkler Vergangenheit.
Der Geschichte dritter Teil setzt ein im Jahr 1957, also drei Jahre nach dem Ende des Schatten des Windes. Ruiz Zafón nimmt seine Erzählung in der Weihnachtszeit auf und erinnert uns an das Ende seines ersten Romans: Daniel Sempere ist mit Bea Aguilar verheiratet. Die beiden sind dabei, die Buchhandlung der Semperes von Daniels alterndem Vater zu übernehmen. Fermín fungiert nach wie vor als „bibliografischer Berater“ der Buchhandlung, also als Hilfskraft mit unerschütterlichem Optimismus und unerschöpflichem Erfindungsreichtum. Außerdem steuert der Mann seiner eigenen Hochzeit entgegen. Er will endlich seine Bernarda aus dem ersten Romanteil ehelichen.
In dieser zeitlichen Klammerung zwischen zwei Hochzeiten spielen die Abenteuer, mit denen sich die beiden Protagonisten des ersten Romans nun erneut konfrontiert sehen. Doch diesmal ist es nicht Daniel sondern Fermín, der als Handlungsträger in den Vordergrund tritt. Fermín, der begnadete Aphoristiker und glückliche Egomane, das großartige Unikat. Vom Sidekick zum Frontman.
Über die Handlung
Der Autor teilt seine Geschichte in fünf Teile. Wir steigen ein, wo der ersten Band sein Ende fand. Der spanische Bürgerkrieg ist beendet, das Land lebt schlecht und recht unter der Diktatur Francisco Francos. Noch liegen die Schrecken der politischen Säuberung nicht allzu lange zurück. Und Fermín hat ein Problem: In den Wirren des Krieges und der Nachkriegszeit hatte er seinen wahren Namen abgelegt und durch einen Kampfnamen ersetzt, den er einst von einem Stierkampfplakat abgelesen hatte. Doch er besitzt keine Personaldokumente, mit denen er vor den Traualtar treten könnte. Die Suche nach einer dokumentierten Identität für Fermín bildet das Handlungsgerüst für die Erzählung.
Fermín Romero de Torres‘ Geschichte
Im zweiten Teil springen wir zurück ins Jahr 1935. Fermín berichtet Daniel und der Leserschaft, wie er die Schreckensjahre um den Bürgerkrieg verbrachte. Nämlich in der Zelle 13 des berüchtigten Gefängnisses in der Festung Montjuic am Südende Barcelonas. Dort machte er die Bekanntschaft eines Mannes, der für die Handlung der gesamten Friedhofsgeschichte wichtig ist. Einer seiner Zellennachbarn war ein gewisser David Martín. Wir erinnern uns: Dieser David war die Hauptperson im Spiel des Engels, dem zweiten Romanband. Eben dieser David Martín verhilft Fermín zur Flucht aus der Festung.
Der dritte Teil der Erzählung handelt von Fermíns Leben nach dieser Flucht. Denn das Treffen von Daniel und Fermín an der Plaza Real im ersten Band war kein Zufall. Fermín hatte David Martín als Gegenleistung für die Fluchthilfe versprochen, an seiner statt über dessen große platonische Liebe Isabella zu wachen, über die Mutter Daniels. Nur deshalb hatte Fermín damals den jungen Daniel auf der Straße angesprochen.
Im vierten Teil handelt Ruiz Zafón – wieder zurück in der Zukunft im Jahr 1957 – die zwischendurch immer wieder aufblitzende Thrillerkomponente seiner Geschichte ab. Einer der ehemaligen Zellengenossen Fermíns kehrt zurück, um sich zu nehmen, was ihm gehörte und was Fermín damals bei seiner Flucht mitgenommen hatte.
Und der fünfte Romanteil klärt Entstehung und Schicksal des Spiels des Engels, des Romans, den David Martín unter schaurigen Umständen in der Festung Montjuic geschrieben hatte und der ja gleichzeitig den zweiten Teil der ruizschen Romanserie darstellt. Außerdem findet nun endlich auch die Hochzeit der Bernarda und Fermíns statt. – Happy end, oder?
Über lose Enden
Es bleibt uns gar nichts anderes übrig als anzuerkennen, wie meisterlich es Carlos Ruiz Zafón gelungen ist, seine beiden Vorgängerromane nicht nur über den Pol des Friedhofs der Vergessenen Bücher zu verbinden sondern gar eine stimmige Geschichte um das gesamte Personal der beiden so unterschiedlichen Erzählungen zu weben.
Doch damit nicht genug. Nachdem Ruiz nun fast alle losen Enden der bisherigen Märchenstunden verknotet hat, legt er auch noch ein paar Fährten für künftige Fortsetzungen. Denn auch wenn wir es nicht schon wüssten: Bei so vielen Cliffhangern muss es einfach weitergehen!
Julián Carax
Der stets schemenhafte Schriftsteller Julián Carax aus dem Schatten des Windes kommt direkt im Vorwort des Romans zu Worte:
„Ich habe immer gewusst, dass ich auf diese Straßen zurückkehren würde, um die Geschichte des Mannes zu erzählen, der Seele und Namen verloren hat zwischen den Schatten jenes Barcelona, das versunken ist in einem trüben Traum von Zeiten aus Asche und Schweigen […]
Julián Carax, Der Gefangene des Himmels
(Editions de la Lumière, Paris, 1992)“
Was aus diesem Carax wurde, ist nie geklärt worden. Jetzt erhebt er jedoch erneut seine Stimme in einem Zitat, das angabegemäß aus eben dem vorliegenden Roman stammen soll, der bereits im Jahr 1992 erschienen und vom Verlag Andreas Corellis, des Teufels aus dem zweiten Band, herausgegeben sein soll? – Aha. Da haben wir es wieder, das Faible des Autors, seine Leserschaft in Spekulationen über Unergründliches zu stoßen. Und dies schon auf der allerersten Romanseite.
Wir fragen uns: Wo ist Carax abgeblieben? Wird er irgendwann nochmals in der Geschichte auftauchen? Oder ist er doch nichts anderes als ein Alter Ego einer anderen Identität seiner Romanfiguren? Ein Schemen, ein Irrlicht?
Mauricio Valls
Doch sehen wir einmal von aberwitzigen Andeutungen ab. Denn schließlich hat Ruiz noch andere, unschwer zu interpretierende Spuren gelegt. In Fermíns dunkler Vergangenheit spielte eine der tragenden Rollen ein Emporkömmling namens Mauricio Valls. Der war in den Dreißigern Gefängnisdirektor auf Montjuic und die personifizierte Qual vieler der damaligen Häftlinge. Später wurde Valls zum einflussreichen Politiker und mischt nun, in der Romangegenwart, aus bislang unbekannten Gründen in Daniel Semperes Privatleben mit.
Der Roman endet am Grab Isabella Semperes, dem Daniel mit seinem Sohn einen Besuch abstattet. Dabei zerbricht versehentlich eine kleine Engelsfigur – ein Schelm, wer dabei an den Teufel Corelli denkt – und gibt eine Notiz frei, auf der Daniel die Adresse von Mauricio Valls entdeckt.
Der Friedhof der Vergessenen Bücher
Der Friedhof kommt in diesem Romanband ziemlich kurz. Tatsächlich schleppt Daniel seinen Freund Fermín erst im fünften Teil am Vorabend vor dessen Hochzeit dorthin. Doch immerhin ergeben sich aus diesem Besuch zwei weitere lose Enden der Geschichte.
Zum einen erfahren die beiden Freunde von Isaac Monfort, dem Hüter der verborgenen Bibliothek, dass David Martín mitnichten tot oder unrettbar dem Wahnsinn verfallen ist. Vielmehr hatte Martín erst kürzlich ein Manuskript seines Romans Das Spiel des Engels auf dem Friedhof deponiert.
Es stellt sich auch heraus, dass Martín Namensgeber für den vorliegenden Romanband ist: Er ist der „Gefangene des Himmels“, womöglich in einer Anspielung auf seine psychische Entwicklung; er drohte nämlich, den Verstand zu verlieren, während er seine Engelsgeschichte zu Papier brachte. Zumindest im Spanischen kann man einen Gefangenen des Himmels durchaus als liebevoll umschriebenen Wahnsinnigen verstehen.
Oder/und darf man diese Himmelsgefangenschaft gar als Anspielung auf David Martíns Abhängigkeit vom gefallenen Engel/Teufel Andreas Corelli interpretieren? Carlos Ruiz Zafón liebt derlei Wort- und Gedankenspielerei, mit der er die Fantasie seiner Leserschaft aufs Äußerste strapaziert.
Wo oder was ist also dieser David Martín?
Und last but not least wird zwar angedeutet, bleibt aber letztlich offen: Wird Fermín den alten Isaac beerben und zum neuen Hüter des Friedhofs der Vergessenen Bücher avancieren?
Ein Übergangsroman
Mit dem Gefangenen des Himmels hat der Autor ein literarisches Bindeglied geschaffen. Ein Bindeglied zwischen den beiden Vorgängern und dem anstehenden Schlusspunkt in Form einer vierten Romanfolge. Einen klassischen Übergangsroman also, so wie etwa Joanne K. Rowling sechs Jahre zuvor ihren Halbblutprinzen. – Einmal Atem holen vor dem Showdown.
Zumindest eine sinnvolle und sogar äußerst spannende Verknüpfung des bisher Geschehenen ist Ruiz mit seinem dritten Romanband gelungen. Es bleibt nun abzuwarten, ob auch die Vorbereitung auf den großen letzten Auftritt geglückt ist. Wir dürfen gespannt sein, was uns noch alles erwartet.
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Wem diese Buchbesprechung gefallen hat, wird sich vielleicht für das Autorenprofil von Carlos Ruiz Zafón interessieren, das ich als Nachruf zu seinem Tod im Juni 2020 zusammengestellt habe. Darin sind auch meine Rezensionen seiner anderen Romane verlinkt.
Fazit:
Der Gefangene des Himmels ist wieder ein Geniestreich des Autors Carlos Ruiz Zafón. Erneut schlägt er seine Leserschaft in Bann mit einer Mischung aus elektrisierender Spannung, überbordender Erzähllaune und listig gelegten Fährten. Für alle, die die voran gegangenen Romanbände gelesen haben, ist der dritte Teil nicht nur ein Muss sondern geradezu Erleuchtung. Ob auch Leser¦innen, die die Geschichten um den Friedhof der Vergessenen Bücher nicht kannten, in gleicher Weise ihren Spaß am vorliegenden Roman haben, weiß ich nicht. Zu viele Details beziehen sich sehr konkret oder versteckt auf die Vorgeschichte. Wenn man über dieses Wissen nicht verfügt, könnte die Erzählung an einigen Stellen unverständlich oder gar an den Haaren herbei gezogen wirken.
Obwohl Der Gefangene des Himmels ein wahrlich beeindruckender Roman ist, eine wunderbare Erzählung voller Witz und Spannung, so kommt er doch nicht an seine beiden Vorgänger heran. Und obwohl ich auch diesen Band mit sehr großem Vergnügen gelesen habe, lässt mir mein Algorithmus zur Bestimmung der Bewertung leider keine Wahl. Der Himmelsgefangene ist knapp an vier Sternen vorbeigeschrammt und bekommt drei (dicke) von den möglichen fünf Sternen.
Carlos Ruiz Zafón:
El prisionero del cielo | Der Gefangene des Himmels,
🇪🇸 Planeta, 2011
🇩🇪 Fischer Verlag, 2012
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