Wenn das Schlachten vorbei ist

T. C. Boyle, Wenn das Schlachten vorbei ist, 2012
T. C. Boyle, 2012

Gibt es einen Unterschied zwischen Naturschutz und Tierschutz? Und wenn ja: Welcher der beiden Ansätze ist der bessere, wenn es um unseren Umgang mit dem Planeten geht? Der vernünftigere? Der humanere? – In seinem dreizehnten Roman mit dem Titel Wenn das Schlachten vorbei ist stellt der amerikanischer Bestsellerautor T. C. Boyle ein weiteres Mal das Thema Mensch und Natur ins Zentrum einer turbulenten Geschichte, die sich an der US-Westküste zwischen Santa Barbara und Oxnard sowie auf den vorgelagerten Pazifikinseln Anacapa und Santa Cruz zuträgt. Dort prallen die Vertreter des staatlichen National Park Service und die einer Tierschutzorganisation namens FPA aufeinander. Und natürlich mischt auch die unerbittliche Kraft der Natur in bewährter boylesker Manier mit.

Erzählt wird die Geschichte aus den Perspektiven zweier Protagonisten. Dr. Alma Boyd Takesue, Wissenschaftlerin im Dienst des National Park Service, ist zur Hälfte japanischer Abstammung und im Jahr 2001, zu Beginn der eigentlichen Erzählung, 33 Jahre alt. Ihre Aufgabe als Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit besteht darin, der Presse und Bürgern das Vorgehen der Bundesbehörde plausibel zu erklären.

Almas Gegenspieler ist Dave LaJoy, rund zehn Jahre älter als sie, ein erfolgreicher Geschäftsmann in der Region. Er kann es sich leisten, sich aus seinen Unternehmen herauszunehmen und die Zeit in ein persönliches Anliegen zu investieren. Dave ist ein spät berufener Tierschutzaktivist, der mit Gleichgesinnten die Bewegung For the Protection of Animals, kurz FPA, ins Leben gerufen hat.

Dave predigt mit geradezu religiöser Inbrunst die These: Jedes Tierleben ist unantastbar, lasst der Natur einfach ihren Lauf! Der National Park Service hingegen sorgt sich um das Gleichgewicht in der Natur: Wenn der Mensch einst dafür gesorgt hat, dass bestimmte Spezies andere verdrängen konnten, dann sollten wir jetzt dafür sorgen, solche Ungleichgewichte zurückzudrehen. – Die beiden Kontrahenten stehen sich in grimmiger Entschlossenheit gegenüber. Selbstverständlich sehen sich beide unumstößlich im Recht.

Wenn das Schlachten vorbei ist – Worum es geht

Der Vorwurf, den Alma auch im Namen ihres Arbeitgebers den Aktivisten um Dave macht, ist die Kurzsichtigkeit derer Argumente:

Leute wie Dave LaJoy […], die es vielleicht gut meinen, oder jedenfalls glauben, es gut zu meinen, deren Handeln letztlich aber einzig und allein von Dummheit und Rachsucht bestimmt wird.
(Seite 133)

Die Ratten auf Anacapa

Erstmals prallen Alma Boyd und Dave LaJoy in der Frage um eine Rattenplage auf Anacapa aufeinander. Etwa 150 Jahre zuvor war ein Raddampfer an der schmalen Insel vor Oxnard auf ein Riff gelaufen. Die Ratten verließen damals im wahrsten Sinn des Wortes das sinkende Schiff und vermehrten sich auf Anacapa explosionsartig. Dank der Ratteninvasion sind einheimische Tierarten im Laufe der Jahrzehnte ausgestorben oder stehen kurz vor der Ausrottung.

Der National Park Service plant nun, das bedrohte Gleichgewicht der Natur zu retten und die Nager durch den Abwurf von Rattengift zu verdrängen. Dave hält diesen Plan für Genozid und versucht, die Ratten mit Hilfe von Vitamin-K-Tabletten gegen das Gift zu immunisieren.

Die wilden Schweine auf Santa Cruz

Die nächste Konfrontation spielt sich zwei, drei Jahre nach der Schlacht um die Ratten ab; diesmal auf Santa Cruz, der großen Nachbarinsel neben Anacapa. Auch dort ist das sensible Gleichgewicht zwischen Tierarten bedroht. Die Lösung des Problems läuft unter anderem darauf hinaus, verwilderte Schweine auf der Insel zu bejagen, die der Mensch vor über hundert Jahren dort zurückgelassen hatte. Dadurch will der National Park Service letztlich für das Auspendeln der Natur sorgen.

Natürlich ist Dave LaJoy empört. Diesen hundert- oder tausendfachen Tiermord wird er nicht zulassen. Also kommt es unausweichlich zum Showdown auf Santa Cruz. Und zum Tod eines Menschen. Hier könnte die Geschichte enden. Aber wie in so vielen seiner Romane, will es Boyle nicht bei einer einfachen Tragödie belassen. Ja, auch diesmal hat der Autor noch eine erschütternde Wendung parat, die er oben drauf setzt.

Wenn das Schlachten vorbei ist – Rankwerk

Eine wirklich spannende Geschichte, könnte man nun resümieren, der ganzen Schlachterei drei oder vier Wertungssterne verpassen und es dabei belassen: Ein lesenswerter Roman über zwei Repräsentative, die sich gegenseitig nicht verstehen wollen, weil sie völlig unterschiedliche Wertvorstellungen und Temperamente haben.

Aber damit würde man dieser Geschichte T. C. Boyles nicht gerecht werden. Denn um die Konfrontation zwischen dem National Park Service und Dave LaJoy herum, hat der Schriftsteller ein Geflecht zusätzlicher Erzählungen angelegt, die der Kerngeschichte erst ihre ungeheure Wucht verleihen.

Ratten auf Anacapa

Natürlich erzählt uns Boyle, wie es damals war, als die Ratten beim Untergang der S. S. Winfield Scott die Insel in Besitz nahmen. Und wie Jahrzehnte später eine junge Frau beim Leckschlagen eines Bootes ihren Mann verliert, sich selbst aber auf Anacapa retten kann, wo sie auf ein Rattenregiment trifft und darüber beinahe den Verstand verliert, bevor sie gerettet wird.

Diese Beverly auf Anacapa war Alma Boyds Großmutter. Der Leserschaft wird schnell klar: Sie trug damals ein Ungeborenes im Bauch, als die See sie zur Witwe machte. Häppchenweise, immer zwischendurch erfahren wir, wie das damals war, als Almas Mutter Kathleen als Halbwaise aufwuchs, irgendwann den Sohn japanischer Einwanderer heiratete und schließlich Alma zur Welt brachte. Wie sich dann die Geschichte wiederholte und Almas Vater bei einem tragischen Tauchunfall ums Leben kam.

Wird die junge Frau dem gleichen Schicksal entrinnen? Oder ist das eine Art Familienfluch, den uns Boyle auftischt? Lest selbst, es lohnt sich wirklich.

Schafe auf Santa Cruz

Ganz offensichtlich ist T. C. Boyle ein Fan starker Frauen auf einsamen Inseln. Man denke nur an Elizabeth Lester auf San Miguel, deren Geschichte der Schriftsteller nur ein Jahr nach Wenn das Schlachten vorbei ist in Romanform goss. Oder eben an Beverly Boyd auf der Ratteninsel. Eine weitere starke Frau verpflanzt Boyle ebenfalls auf die Insel: Rita Reed lässt sich als Köchin auf einer Schafsfarm verdingen und bringt ihre Tochter Anise mit auf Santa Cruz, wo sie der Erzähler ebenso scheitern lässt wie seine Elizabeth im Nachfolgeroman.

Doch Boyle wäre nicht der Magier, der er ist, wenn diese Kurzgeschichte im Roman einfach so für sich stünde. Nein, denn eben diese Anise taucht viele Jahre später als Freundin an der Seite von Dave LaJoy auf. Alles ist mit allem verwoben, ein Rankwerk von Geschichten in der Geschichte, die sich zu einem monumentalen Panorama verflechten. Die Momente, in denen man während der Lektüre erkennt, wie sich schon wieder ein Puzzlestückchen ins Gesamtbild fügt, gehören zum Besten in diesem Roman.

Mensch und Natur

Ein weiteres Detail, das zur Qualität der Romangeschichte beiträgt, sind die Charakterportraits, die Boyle seinen beiden Erzählenden und selbst den Nebenfiguren in der zweiten Reihe angedeihen lässt. Da ist die nicht allzu selbstsichere Alma, die sich dann aber als weitaus stärker erweist, als sie das je von sich selbst dachte. Ihr gegenüber steht der cholerische Dave, der in schlechten Momenten ein selbstgerechtes, egomanisches und gar rassistisches Arschloch sein kann.

Nur an diesen Figuren werden übrigens die Sympathien des Schriftstellers erkennbar. Denn argumentativ schlägt sich T. C. Boyle weder auf die Seite der Naturschützer noch auf die der Tierschutzaktivisten. Doch an der Charakterisierung und Entwicklung dieses Dave LaJoy erfassen wir, dass der Autor es mit der Wissenschaft und den Behörden hält. Selbst wenn er auf den allerletzten Seiten doch noch einen kleinen Verrat an Almas Position begeht.

Und natürlich wie immer: Boyles Liebe gilt der Natur. An vielen Stellen macht er sehr deutlich, dass es fast immer der Mensch ist, der Katastrophen verursacht. Etwa ein paar  schießwütige Idioten auf Santa Cruz, die Panik in einer Schafsherde verursachen, in deren Folge ein Schwarm von Raben über die von ihren Müttern verlassenen Lämmer herfallen. Ja, genau diese Raben, die auf dem Schutzumschlag der gebundenen deutschen Ausgabe abgebildet sind. Schlaue aber unbarmherzige Geschöpfe.

Tatsächlich erweist sich Boyles Natur in dieser Geschichte oft als gnadenlos und grausam. Neun menschliche Leichen habe ich über alle Buchseiten hinweg gezählt, alle im Wasser ums Leben gekommen, allerdings jede durch eigene Fehler.

Wenn das Schlachten vorbei ist – Bewertung

Ohne jeden Zweifel gehört Wenn das Schlachten vorbei ist zu den besten Romangeschichten des US-ame­ri­ka­ni­schen Autors. Sie ist zornig, gnadenlos und dabei so schmerzhaft folgerichtig, dass in keinem Moment der Wunsch aufkeimt, es müsse doch jetzt mal reichen. Von der ersten bis zur letzten der 450 Textseiten war ich gefesselt, habe meine Lektüre nur einmal unterbrochen, weil es doch sehr spät geworden war. Noch deutlicher als in anderen Geschichten mit ähnlichem Thema lautet Boyles Botschaft: Die Natur ist unberechenbar und bleibt unbeherrschbar. Alle Kreaturen auf diesem Planeten sind in einen dauernden grausamen Kampf verwickelt, entweder weil sie dazu gezwungen sind, oder weil sie es nicht anders wollen. Es gibt keinen Frieden und nur wenig Hoffnung.

Auszusetzen habe ich nur sehr wenig an diesem Roman. An einigen wenigen Stellen sind mir Ungereimtheiten oder kleine Fehler aufgefallen, von denen ich nicht weiß, ob sie schon im englischen Original vorhanden waren oder sich erst in der Übersetzung eingeschlichen haben.
In einer Aufzählung der Kanalinseln heißt es „Santa Barbara, San Miguel und Santa Cruz“ (Seite 92). Doch Santa Barbara ist die Stadt an der Küste gegenüber. Es hätte wohl Anacapa oder Santa Rosa heißen sollen.
An einer zweiten Stelle erzählt Anise ihrem Freund Dave von der letzten Frau auf San Nicolas, einer der weiter südlich gelegenen Kanalinseln vor der kaliformischen Küste. Der kleine Bruder dieser Frau sei von wilden Hunden getötet worden. Dave fragt nach: „Wilde Hunde? Auf San Miguel?“ (Seite 159)
Auf Buchseite 94 schließlich schwadroniert LaJoy davon, wie er sein Geschäft „in den Nullerjahren“ erweitert habe. An dieser Romanstelle ist es aber gerade mal November 2001.

Wie auch immer, ein aufmerksameres Lektorat hätte solche Widersprüche verhindert.

~

Wer diese Rezen­sion gern gele­sen hat, inte­res­siert sich even­tuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind.

Fazit:

Wer sich für das Werk von T. C. Boyle interessiert, sollte sich unbedingt Wenn das Schlachten vorbei ist besorgen. Wenn ein Autor inzwischen fast zwanzig Romane veröffentlicht hat, bleibt es nicht aus, dass auch schwächere Geschichten darunter sind. Selbst bei einem literarischen Virtuosen wie Boyle. Aber diese Erzählung über Natur, Naturschutz und Tod auf den kaliformischen Kanalinseln gehört ganz bestimmt zu den Glanzlichtern des Schriftstellers. Uneingeschränkte Empfehlung, unbedingt auch als Einstiegsroman geeignet!

Nach Drop City und Die Terranauten ist Wenn das Schlachten vorbei ist erst der dritte boylesche Roman, dem ich die vollen fünf Wertungssterne zugestehe.

T. C. Boyle: When the Killing’s Done
| Wenn das Schlachten vorbei ist
🇺🇸 Viking Press, 2011
🇩🇪 Carl Hanser Verlag, 2012

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