Der Samurai von Savannah

T. C. Boyle, Der Samurai von Savannah, 1992
T. C. Boyle, 1992

Der junge Halbwaise und Halbjapaner Hiro Tanaka ist es leid, in seiner Heimat, dem Land des Lächelns, stets als Bastard und „Butterstinker“ beschimpft zu werden. Also macht er sich auf, im Lande der Verheißung sein Glück zu finden; in den USA, wo doch alle Menschen gleich waren, egal welcher Abstammung oder welcher Hautfarbe. Der zwanzigjährige Hiro ist die abgrundtief naive Hauptfigur in T. C. Boyles viertem Roman mit dem Titel Der Samurai von Savannah. Nach heftigem Streit auf einem japanischen Frachter, auf dem Hiro als Aushilfskoch angeheuert hatte, springt der junge Mann vor der Küste des US-ame­ri­ka­ni­schen Bundesstaates Georgia von Bord und rettet sich mit Müh und Not an Land.

Dort, da ist sich Hiro sicher, würde er mit offenen Armen aufgenommen werden. Doch hätte er gewusst, was ihn in den amerikanischen Südstaaten tatsächlich erwartet, dann hätte er sich seine Flucht bestimmt zweimal überlegt:

Schließlich war es ein echter Knüller, mit Sex, Gewalt, Fremdenhaß, haarsträubenden Gefängnisausbrüchen, mit vor Schlangen und Alligatoren wimmelnden Sümpfen, Gerüchten von offizieller Inkompetenz und heimlicher Beihilfe durch eine höchst suspekte Bande von Schriftstellern und Künstlern.
(Seite 377)

Diese Zusammenfassung seiner Romangeschichte legt Boyle einer der Nebenfiguren in den Mund, die sich an die Verfolgung des illegalen Eindringlings machen. Besser kann man in dieser Kürze wohl kaum zusammenfassen, was alles über Hiro hereinbricht.

Der Samurai von Savannah – Worum geht es?

Tatsächlich erreicht Hiro nicht das Festland, sondern landet auf der (fiktiven) Insel Tupelo Island, südlich der (realen) Südstaatengroßstadt Savannah. Die Insel besteht großenteils aus Sumpfland, ihre Bevölkerung aus den Nachfahren afrikanischer Sklaven, die früher auf den Baumwollplantagen der Gegend schuften mussten, und aus geistig minderbemittelten Rednecks, deren Dialekt noch nicht einmal anderen US-Ame­ri­ka­nern verständlich ist.

„Nargn wargn, dröde schmitt“, sagte der Sheriff gerade.
(Seite 379)

Auf der Suche nach Wasser und Nahrung trifft Hiro auf einen alten Farbigen. Er bittet um Hilfe, doch der Alte glaubt, in dem unerwarteten Besucher den Geist seines verstorbenen Bruders wiederzuerkennen. Es kommt zum Handgemenge, die Hütte des Farbigen geht in Flammen auf. Hiro flieht und wird von da an als Brandstifter gehetzt. Durch glückliche Fügung gerät der junge Mann schließlich an Ruth Derschowitz, die zweite Hauptfigur der Romangeschichte. Rusu, wie Hiro die junge Frau nennt, hat Mitleid mit ihm. Derschowitz, Mitglied einer aus Zeit und Raum gefallenen Künstlerkolonie, versteckt ihn vor den Häschern und versorgt ihn mit Essen und Kleidung.

Vom Regen in die Traufe

Doch irgendwann wird Hiro in seinem Unterschlupf entdeckt, überwältigt und verhaftet. Bevor er allerdings von Tupelo Island weggebracht werden kann, gelingt Hiro erneut die Flucht und versteckt sich im Kofferraum eines Autos auf dem Gelände der Kolonie. Und wie es das Schicksal will, verlässt dieses Auto noch am gleichen Abend die Insel und transportiert den blinden Passagier aufs Festland.

Allerdings: als Hiro endlich aus dem Kofferraum springen kann, findet er sich erneut im Sumpfland wieder. Der Wagen hatte inmitten der Okefenokee-Sümpfe gehalten und der junge Asiate ist ein weiteres Mal auf der Flucht durch eine lebensfeindliche Umgebung, gegen die die Landschaft auf Tupelo Island geradezu paradiesisch harmlos anmutete. – In diesem Ambiente würde Hiro keine Woche überleben können!

Der Samurai von Savannah – Erfolgsrezept

Wer bis hierhin gelesen hat, worum es im Roman geht, wird sich womöglich den Kopf kratzen und fragen: Was soll diese ein bisschen gestelzt wirkende, umgekehrte Rambogeschichte? Ein Japaner im Überlebenskampf in den USA? Da haben wir doch schon überzeugendere Filmdrehbücher gelesen, oder?

Was uns aber T. C. Boyle unter dem Deckmäntelchen dieser reißerischen Handlung wirklich präsentiert, ist ein Potpourri aus seinen Lieblingsthemen. Natürlich finden wir auch hier wieder die boylesche Bewunderung für die Übermacht der Natur, für deren Unüberwindbarkeit durch alle menschlichen Anstrengungen.

Der Tag mochte eine Komödie gewesen sein, doch die Nacht war tragisch. Sie legte sich um ihn wie ein Leichentuch, sie war tödlich und gespenstisch. Die Kälte sank herab, überall im Sumpf erklangen Schreie des Protests, und Hiro zitterte in seinem nassen T-Shirt und den nassen Bermudas. Die Insekten fraßen ihn auf, inzwischen schlug er auch nach ihnen, aber er war ein Nadelkissen, eine Blutbank, seine Haut war schon zu Hügeln und Tälern geschwollen, daß sie sich anfühlte wie ein Brief in Blindenschrift. Spät, sehr spät, als der Mond ein gefrorenes Pünktchen am Himmel war, schlängelte sich ein Reptil von der Dicke seines Fußknöchels heran, um an seiner Körperwärme Anteil zu nehmen. Er spürte, wie es in seine Achsel und zwischen seine Beine glitt, den kahlen Kopf zu seinen Nasenlöchern reckte, um sich in seinem heißen Atem zu wärmen.
(Seite 433)

Fremdenhass & Rassismus

Das Misstrauen, Unverständnis und Hass zwischen verschiedenartigen Kulturen treibt der Autor in diesem Roman auf die Spitze. In alle Richtungen. Für Amerikaner ist der Asiate Hiro entweder der grundverdächtige Chinese oder gar die schlitzäugige Japsendrecksau. Andersherum nennt Hiro die Amerikaner gaijin („Außen-Menschen“, eine negativ belastete Bezeichnung für Nichtjapaner) oder Butterstinker (bata-kusai). Belastend für ihn selbst ist dabei die Tatsache, dass er als Sohn einer Japanerin und eines Amerikaners in seiner japanischen Heimat oft den gleichen Beschimpfungen ausgesetzt war.

Hinzu kommen inneramerikanische Kulturkonflikte. Etwa zwischen hochnäsigen Yankees und den als unkultiviert, gewalttätig und rassistisch geltenden Hillbillies der Südstaaten. Oder zwischen der reichen weißen Oberschicht und den ehemaligen Plantagensklaven. In seinen Schilderungen des Lebens um die Künstlerkolonie nimmt Boyle unverholen Bezug auf überholte Südstaatenromantik à la Vom Winde verweht oder Onkel Toms Hütte.

Und dann taucht auch noch ein wahnsinniger Vietnamveteran auf, der versucht, Hiro mit Discobeschallung einzufangen. In einer Art irrer Verzerrung des Bildes von Helikopterattacken unter dem Klang von Wagners Ritt der Walküren in Apocalypse Now.

Künstlerkosmos Thanatopsis

Wenn wir nun eben schon bei der Künstlerkolonie auf Tupelo Island gelandet sind: Mit schelmischem Vergnügen zieht T. C. Boyle gegen die narzisstische, überhebliche Gilde der Schriftsteller blank. Eine steinreiche Mäzenin hatte auf Tupelo Island unter dem schwülstigen Namen Thanatopsis¹ eine Kolonie gegründet, in der mehr oder weniger angesagte Literaten und bildende Künstler luxuriösen Unterschlupf finden konnten. Um dort Hof zu halten, sich gegenseitig zu beweihräuchern oder aber sich zu beeifersüchteln. Die hohe Schule der sozialen Kriegsführung, stets mit einem zu Stein erstarrten Lächeln auf den Lippen. Und doch sind sie allesamt Versager, die Insaßen von Thanatopsis.

Samurai trifft Selbstgefälligkeit

Ruth lässt sich von ihren Künstlerkolleg¦innen gerne als „La Derschowitz“ feiern. Dabei ist sie nichts anderes als eine eitle, wenig begabte Möchte­gern-Li­te­ra­tin, ewig neunundzwanzigjährig, die keinen Verleger finden kann. Als Hiro bei ihr auftaucht, beherbergt sie ihn, auch weil sie sich Inspiration für ihren aktuellen Romanstoff über eine japanische Selbstmörderin erhofft.

Hiro hingegen hatte sich in Japan mit den Idealen der Samuraitradition befasst und eine Verehrung von Yamamoto Jōchō und dessen Werk Hagakure aufgebaut, einer Art Ehrenkodex der Samurai. In seinem ungleichen Kampf gegen die Verfolger, versucht Hiro, sich auf Leitsätze Jōchōs zu verlassen. Letztlich gelingt es dem jungen Mann, zu seinen Grundsätzen zu stehen und zu einem wahrhaftigen Samurai zu werden; bei aller Traurigkeit zumindest formal.

Der Samurai von Savannah – Bewertung

Schwer beindruckt hat mich der rasante Wechsel zwischen den hektischen Reaktionen, zu denen Hiro seit seiner Landung in Amerika von Anfang bis Ende gezwungen ist, und den szenischen Beschreibungen vollkommen statischer Sozialgefüge in Boyles Erzählung.

In der Künstlerkolonie bewegt sich den ganzen Roman über rein gar nichts. Nicht einmal dann, wenn ein japanischer Invasor durch Thanatopsis pflügt. Oder wenn eines der literarischen Sternchen der Kolonie vom Pferd fällt und sich die Knochen bricht. Stoisch verbringen die Bewohner ihre Morgenrituale, die Gour­met-Mit­tag­es­sen und den abendlichen, alkoholgetränkten Klatsch in der immer gleichen Behäbigkeit.
Auch die anderen Inselbewohner betrachten zwar die Jagd auf den Eindringling mit dem gleichen Interesse, das sie einem besonders schillernden Käfer zuteil werden ließen. Aber aus ihrem Alltagstrott lassen sie sich dadurch nur widerwillig, höchstens ganz kurz herausreißen.
Und sogar die Strafverfolger, die Hiro nachjagen (müssen), sind an nichts anderem interessiert, als ihren Status Quo gegen den Vorwurf von Inkompetenz zu verteidigen und möglichst bald wieder in träge Selbstzufriedenheit versinken zu können.

America the Beautiful

Ganz Amerika hat es sich bequem eingerichtet in seinem schwerfälligen Gefüge. Und dann kommt auf einmal einer daher, ein störender Fremder, der eigentlich auch nichts anderes will, als ein Stückchen vom Cheese Cake abzubekommen. Aber das geht ja nun gar nicht. Wo käme man denn da hin?

Mit scharfem soziologischen Blick und durch seine unvergleichliche Fähigkeit, kulturelle Vorurteile durch manische Übertreibung zu parodieren, zerrt T. C. Boyle die Leserschaft durch sein neurotisches Marionettentheater. Sein legendärer Sprachwitz – oder sollen wir sagen: sein verrückter, sprachbesessener Teil? – verhindern, dass die überschaubare Handlung dabei langweilig werden könnte.

~

Wer diese Rezen­sion gern gele­sen hat, inte­res­siert sich even­tuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind. Der Samurai von Savannah erschien drei Jahre nach World’s End und zwei vor Willkommen in Wellville.

Fazit:

Wer Der Samurai von Savannah einfach als schwungvollen Abenteurroman durchliest, läuft Gefahr, letzten Endes von der unspektakulären Auflösung enttäuscht zu werden. In Romanen Boyles auf ein Happy End zu hoffen, ist ohnehin ein aussichtsloses Unterfangen. (Ich kann mich nur an sehr wenige Protagonisten erinnern, die unbeschadet aus seinen Geschichten hervorgehen.) Aber wer den Roman weniger an dessen Handlungsablauf misst, sondern sich auf die wie immer skurrilen boylesken Szenen und die dahinter sichtbar werdenden gesellschaftlichen Abgründe einlässt, wird seine helle Freude am Kampf der Kulturen in den Sümpfen des amerikanischen Südens haben.

Ich habe mich auch durch diesen vierten Roman des Autors durchgehend gut unterhalten gefühlt. Und wenn ich nur ganz leise ein wenig kritisch werden darf, dann sei mir der Hinweis gestattet, dass es Boyle-Romane gibt, deren Ausklang mich nachdenklicher oder meinetwegen auch fassungsloser zurückgelassen hat als das Ende dieses Samurais.

Im Einklang mit meinem Bewertungssystem vergebe ich hier immerhin ausgezeichnete drei von fünf möglichen Sternen.

T. C. Boyle: East is East | Der Samurai von Savannah
🇺🇸 Viking Press, 1990
🇩🇪 Carl Hanser Verlag, 1992

* * * * *

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Fußnote:

¹Thanatopsis ist der Titel eines Gedichts des amerikanischen Dichters William Cullen Bryant. Das Wort ist aus dem Griechischen abgeleitet und bedeutet etwa „Betrachtungen des Todes“. Passend hierzu hat die Mäzenin allen Künstlerstudios auf dem Gelände die Namen von Kunstschaffenden gegeben, die ihren Leben durch Selbstmorde ein Ende gesetzt hatten. Ruth Derschowitz etwa schreibt im Hart Crane, benannt nach einem Dichter, der 1932 von einem Schiff gesprungen war (und dies im Gegensatz zu Hiro Tanaka nicht überlebt hatte). Der Wunderknabe Sandy arbeitet im Diane Arbus, die 1971 an einer Überdosis Medikamente starb. Und Kollegin Patsy wirkt im John Berryman, der 1972 von einer Brücke sprang.

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