Die Reise des Elefanten ist der vorletzte Roman des portugiesischen Schriftstellers José Saramago. Die deutsche Ausgabe erschien eine Woche nach Saramagos Tod im Jahr 2010. Seine Geschichte um den Elefanten Salomon und dessen Führer, den Mahut Subhro, ist historisch belegt: Sie trug sich im sechzehnten Jahrhundert zu. Johann III. von Portugal und dessen Gemahlin Katharina von Kastilien suchten ein Hochzeitsgeschenk für den Vetter, den Erzherzog Maximilian von Österreich. Sie verfielen auf die bizarre Idee, einen Elefanten, der bis dahin unbeachtet sein Leben in einem Gehege in Belém fristete, Maximilian als Gabe zu überreichen. Der sollte das ungewöhnliche Tier nach Wien überführen, um dort seine Untertanen zu beeindrucken.
Im Nachwort seines Romans erklärt José Saramago, er habe nach einem Vortrag in Salzburg zufällig im Restaurant Der Elefant Holzschnitzereien entdeckt. Diese hätten Stationen der Reise eines Elefanten im Jahre 1551 dargestellt. Er habe das Gefühl gehabt, „dies könnte eine schöne Geschichte werden“.
Über den Autor
José Saramago war Zeit seines Lebens ein Kritiker der Mächtigen und der Institutionen. Angelegt hatte er sich unter anderem mit Silvio Berlusconi, mit Sarkozy und mit dem Papst. Er war Unterstützer von Attac und bis zu seinem Lebensende Mitglied der Kommunistischen Partei Portugals. Katholische Bischöfe und konservative Kolumnisten bezeichneten den Schriftsteller als „Ketzer“. Als Saramago 1998 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, verstieg sich der Vatikan zu öffentlicher Missbilligung dieser Verleihung.
Deshalb nimmt es wohl nicht wunder, dass die Amtskirche auch während der Elefantenreise ihr Fett abbekommt. – Aber immer schön eins nach dem anderen!
Beginn der Geschichte
„Die Königin murmelte ein erstes Gebet und wollte gerade ein zweites anstimmen, als sie unvermutet innehielt und fast verdutzt schrie, Wir haben doch Salomon, Was, fragte der König verdutzt, ohne der ungebührlichen Anrufung des Königs von Juda gewahr zu werden, Ja, mein Gebieter, Salomon, den Elefanten, Was tut der Elefant hier zur Sache, fragte der König, bereits leicht gereizt, Als Geschenk, mein Gebieter, als Hochzeitsgeschenk, antwortete die Königin und erhob sich euphorisch und überschwänglich, Es ist kein Hochzeitsgeschenk, Aber so etwas Ähnliches.“
(Seite 10 f.)
Ist das nicht wunderbar? – Ein ganzer Hochzeitsgeschenkfindungsdialog in einem einzigen Satz. Das ist eine ganz besondere stilistische Spezialität dieses Romans, die mir ausnehmend gut gefällt. Saramagos bewusst chaotische Erzähltechnik unterscheidet nicht zwischen direkter und indirekter Rede. Er reiht verschiedene Sprecher trennungslos aneinander und verblüfft uns mit seiner ungewöhnlichen Zeichensetzung. Eine einzige Lektorenhölle.
Zwar erleichtert dieser Stil nicht unbedingt das Lesen. Doch der Roman hat ja auch nur 136 Seiten. Und es geht gar nicht darum, schnell voran zu kommen. Vielmehr erzieht uns der Autor zu Langsamkeit, zu Gemächlichkeit und Besonnenheit nach Elefantenart.
Eine knappe Reiseübersicht
„Die Marschkolonne war in der bereits angekündigten Weise aufgestellt worden, vorneweg, in luftiger Höhe auf den Schultern seines Tieres, der Mahut, dahinter die beiden Männer, die ihm bei allen Erfordernissen zur Hand gehen sollten, sowie jene, die für die Versorgung zuständig waren, ferner der Ochsenkarren mit einer Riesenladung verschiedener Futterballen und dem Wasserbottich, der wegen der Unebenheiten des Weges ständig hin und her rollte, anschließend der Reitertrupp, verantwortlich für den Schutz der Reisenden und die Ankunft im sicheren Hafen, und zuletzt ein vom König damals noch vergessener, von zwei Maultieren gezogener Wagen der Militärintendantur.“
(Seite 29)
Erneut nur ein einziger langer Satz! So also machen sich Salomon und Subhro im August 1551 auf den Weg. Es ist ein Pilgerweg, nur dass das Ziel nicht etwa Santiago de Compostela sondern das endlos weit entfernte Wien ist. Ein Weg, der den Elefanten und seinen Pfleger über geschätzte 3.100 Reisekilometer quer durch Europa führt. Von der portugiesischen Atlantikküste bei Lissabon bis ins Zentrum der Habsburg-Monarchie.
Quer durch die iberische Halbinsel
In der soeben zitierten Aufstellung geht es zunächst bis zur Grenzstadt Figuera de Castelo Rodrigo an die Grenze zu Spanien. Von dort an wird die Reisegruppe zusätzlich von vierzig österreichischen Kürassieren bis Valladolid begleitet, zur Hauptstadt des damaligen Königreichs Kastilien. Die ersten 600 Kilometer haben Salomon und Subhro mit dieser Etappe bewältigt.
In Valladolid nimmt Erzherzog Maximilian sein Geschenk entgegen und tritt sogleich die weite Heimreise nach Wien an. Weitere 700 Kilometer müssen bewältigt werden, bis die illustre Reisegesellschaft im Mittelmeerhafen von Rosas an der Costa Brava eintrifft.
Von Rosas aus geht es mit dem Schiff nach Italien. Nach einer Passage von 600 Kilometern legen Herzog Max samt Gefolge, der Elefant und dessen Führer in Genua an.
In Italien über die Alpen
Bis dahin beschreibt der Autor die Reiseroute nur ungenau. Das ändert sich mit der Ankunft auf italienischem Festland. Saramago erspart uns auf diesem Abschnitt des Fußmarsches nur sehr wenige der einzelnen Tagesetappen. Wir marschieren mit; über Piacenza, Mantua, Verona, Padua und durch das winterliche Südtirol.
Die Frage, warum der Erzherzog ausgerechnet im Dezember die Alpen überqueren wollte, stellt sich auch Saramago. Eine logische Antwort gibt er natürlich nicht – wie immer, wenn im Roman höhere Mächte das Sagen haben. Logik oder Schlüssigkeit haben Machthaber nämlich gar nicht nötig. Ihr Wort gilt auch ohne Begründung. Das hämmert uns der Autor immer wieder ein.
Beispielhaft für die Willkür der Mächtigen ist das Zusammentreffen von Maximilian und dem Elefantentreck in Valladolid. Seine erste Amtshandlung besteht darin, Salomon auf den Namen Soliman umzutaufen. Der Pfleger Subhro soll ab sofort Fritz heißen. – Warum? Niemand weiß es.
Jedenfalls dürften die gut 300 Kilometer zwischen Padua und Innsbruck die Reisenden an die Grenze des Menschen- und des Elefantenmöglichen gebracht haben. Saramago spart auch nicht an Vergleichen mit historischen Vorbildern, etwa der Alpenüberquerung durch Hannibal. Über den Jahreswechsel zu 1552 erklimmt Maximilians Treck den Brennerpass und erreicht am Dreikönigstag die Stadt Innsbruck.
Von Innsbruck nach Wien
Das Schlimmste ist überstanden. Die nächsten rund 400 Kilometer legt die erzherzögliche Reisegruppe erneut auf dem Wasserweg zurück. Auf Schiffen und Flößen geht es über Inn und Donau bis nach Linz.
Warum man nicht auch noch den Rest der Strecke, immerhin knapp weitere 200 Kilometer, bequem auf der Donau reiste? Saramago stellt auch diese Frage und beantwortet sie mit der ihm eigenen Ironie: Weil der Erzherzog nur auf dem Fußweg einen triumphalen Einzug in seine Hauptstadt zelebrieren konnte, auf dem Schiff hätte ihn ja kaum jemand gesehen!
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Mehr als 3.100 Kilometer haben Elefant und Mahut zwischen Belém am Atlantik und Wien an der Donau zurückgelegt, davon sicher mehr als 2.000 zu Fuß, also auf vier Elefantenfüßen.
Gut ein halbes Jahr haben sie für den Weg gebraucht. Berücksichtigen wir dabei die Schifffahrtsstrecken (wahrscheinlich etwa 50 Tage) und einige Pausenwochen an verschiedenen Stationen, dann ergibt sich eine durchschnittliche Tageswanderstrecke von 20 Kilometern. Sehr beachtlich, darauf kann ein Elefant durchaus stolz sein!
Saramagos Erfolgsrezept
Aber die eigentliche Leistung liegt ja nicht in der zurückgelegten Wegstrecke. Aus diesem Grund hat uns der Autor die Wegstreckenberechnung erspart, die ich gerade aufgemacht habe. Saramago nimmt den Pilgerweg nach Wien lediglich als Rahmenhandlung für seine Spitzen gegen Gott Kirche und die Welt.
Den Elefanten nimmt er dabei als stoisches Element. Salomon ist der Gleichrichter, der in seinem unergründlichen Verhalten menschliche Fehlleistungen korrigiert und alles ins göttliche Gefüge stellt. Sein Mahmut Subhro dient ihm als Sprachrohr. Der Mann nimmt die Rolle eines Hofnarren ein, der den Mächtigen das eine oder andere ins Gesicht sagen darf. Andere als er hätten durch ein solches Verhalten längst ihr Leben verwirkt.
Den gewitzten Subhro darf man wohl als Alter Ego Saramagos sehen. Und der hinduistische Elefantengott Ganesha gilt als gütiger, humorvoller, kluger und verspielter Gott, der oftmals Streiche spielt. Nicht zuletzt gehören zu seinen Angelegenheiten die Poesie, Musik, Tanz, Schrift und Literatur.
Wunder über Wunder!
Ich schrieb ja bereits: Die Amtskirche bekommt ihr Fett ab in Die Reise des Elefanten. Das beginnt bereits in Portugal. Ein eifriger Dorfpfarrer wittert Blasphemie, nachdem ein paar Dorfbewohner Subhros Geschichte über den Elefantengott Ganesha aufgeschnappt haben. Doch seinen Versuch, an Salomon eine exorzistische Zeremonie durchzuführen, vereitelt der Elefant durch einen leichten, geradezu versehentlichen Fußtritt, der den Vertreter Gottes aufs Krankenlager schickt.
In Padua fordern die Kirchenoberen die Unterstützung des Elefanten ein. Die Probleme, die Luthers Thesen der katholischen Kirche drei Jahrzehnte zuvor eröffnet hatte, sollen durch das „Wunder von Padua“ aus der Welt geschafft und die Gegenreformation gestärkt werden: Salomon soll durch einen elefantösen Kniefall vor der Basilika der Stadt „bestätigen, dass die Botschaft des Evangeliums sich an das gesamte Tierreich richtet“, „während […] die Mumie des glorreichen heiligen Antonius vor Freude in ihrem Grab erzittert“ (Seite 179).
Subhro lässt Salomon antreten, der Kniefall gelingt. Allerdings nutzt der Elefantenpfleger die Euphorie der Bevölkerung dazu, einen schwunghaften Handel mit Elefantenhaar aufzuziehen; als Mittel gegen Durchfall und Haarausfall. Parallelen zum Ablasshandel sind unübersehbar.
Bei der Ankunft in Wien schließlich ereignet sich erneut ein Wunder. Ein kleines Mädchen reißt sich los und stürmt auf Salomon zu, den sicheren Tod vor Augen!
„Doch sie kannten Salomon schlecht. Er umfing den Körper des Mädchens mit seinem Rüssel, als wollte er es umarmen, und hob es in die Lüfte wie eine neuartige Fahne, nämlich die eines im letzten Augenblick geretteten, bereits verloren geglaubten Lebens.“
(Seite 232)
Ironische Kommentierung
Natürlich bleiben all die Wundertaten nicht unkommentiert. In aller Ausführlichkeit und voll Spott ergießt sich der Autor und lässt keinen Zweifel daran, wie lächerlich die offizielle Auslegung der wunderbaren Ereignisse sind. Aber er wäre nicht Saramago, wenn er im Anschluss nicht noch einen oben drauf setzte.
Um möglichen Kritikern vorgeblicher Gotteslästerung vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen, relativiert er in unnachahmlich ironischer Weise seine zuvor getätigten Aussagen.
„Dies war keineswegs von uns beabsichtigt, aber wir wissen ja bereits, wie das mit dem Schreiben ist, nicht selten zieht ein Wort das nächste nach sich, nur, weil sie zusammen gut klingen, weshalb oftmals der Respekt der Leichtfertigkeit und die Moral der Ästhetik zum Opfer fällt, falls solch feierliche und überdies niemandem dienliche Konzepte in einem Diskurs wie diesem überhaupt angebracht sind.“
(Seite 162 f.)
Rezeption
In seiner Buchbesprechung in der FAZ nennt Florian Borchmeyer den Roman „ein heiteres, wenn auch melancholisches Divertimento, in dem der Autor spielerisch seine erzählerischen Mittel und Möglichkeiten vorführt“. „Auf ein bedeutendes Erzählvermächtnis aus der Feder eines der bekanntesten Autoren der Gegenwart wartet man vergebens“, ergänzt der Kritiker.
Es ist wohl Schicksal großer Schriftsteller, dass sie stets nur an ihren Meisterwerken gemessen werden. Ich bin allerdings der Ansicht, dass es keine Pflicht zum Epos geben sollte. Saramago hat Die Reise des Elefanten zu einem Lesevergnügen ausgestaltet, das seinesgleichen sucht. Der Behauptung, dass seine anachronistischen Einschübe und Kommentare sich abnutzten und ermüdend wirkten, kann ich beim besten Willen nicht zustimmen. Nicht einmal ansatzweise.
Das historische Ende
Nachdem ja bereits darauf hingewiesen wurde, dass diese Elefantenreise tatsächlich stattgefunden hat, möchte ich noch den Epilog nachschieben. Wie schon Hannibals Elefanten überlebte auch Salomon/Soliman nach seiner Reise nur noch einen Winter in Wien. Er verstarb im Dezember 1553.
Dem toten Dickhäuter wurde nicht nur die Haut abgezogen. Seine Vorderbeine dienten als Behältnisse für Stöcke, Stäbe und Schirme am Palasteingang. „Wie man sieht, hat Salomon das Niederknien nichts genützt.“ (Seite 235)
Auch Saramago selbst nutzte die Widmung des Romans an seine Frau nichts: „Für Pilar, die nicht zugelassen hat, dass ich sterbe“. – Keine zwei Jahre nach Veröffentlichung der Originalversion verstarb auch er im Juni 2010 und im Alter von 87 Jahren in seiner Wahlheimat auf Lanzarote.
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Fazit:
Die Reise des Elfanten ist eine der ganz großen Erzählungen des Abendlandes. Zwei offensichtlich unabsichtlich in der Zeit gestrandete Außerirdische in Gestalt eines indischen Elefanten und seines bengalischen Führers Subhro, dessen Name nichts anderes als „weiß“ bedeutet, begleiten Europa und seine Bürger in einer Zeit des Wandels, mit dem sich abzufinden nur wenige bereit sind.
Es ist große Kunst, wenn schwere Dinge so leichtfüßig daherkommen wie der Dickhäuter in José Saramagos Geschichte. Das macht das Buch zu einer wunderbar leichten Abhandlung über die allzu schweren Dinge des Lebens. Auf unnachahmliche Weise gelingt es dem Autor, seine Leser zu seinen Komplizen zu machen, und fordert auch unser Urteil über die historische Expedition.
Ich gebe der Reise des Elefanten auf jeden Fall alle fünf möglichen Sterne. Und dies kommt hier wirklich sehr selten vor.
José Saramago: Die Reise des Elefanten,
Hoffmann und Campe Verlag, 2010
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