Jenseits des Flusses

Jenseits des Flusses, Caryl Phillips, 1995
Caryl Philips, 1995

Jenseits des Flusses ist der fünf­te Roman des Schrift­stel­lers Caryl Phillips. In seinem Werk beschäf­tigt sich Philipps vor­ran­gig mit den The­men Her­kunft, Zuge­hörig­keit und Exklu­sion. In Jenseits des Flusses beleuch­tet er die Hin­ter­gründe des afri­kani­schen Skla­ven­han­dels in einer vier­stim­migen Erzäh­lung. Ihren Ur­sprung nimmt die Geschich­te in einem Vor­wort eines namen­lo­sen afri­kani­schen Vaters, der soeben seine drei Kinder Nash, Mar­tha und Tra­vis an Skla­ven­händ­ler ver­kauft hat.

Der Autor Caryl Phillips ist selbst dunkel­häuti­ger West­inder, weder Jude noch Euro­päer oder Afri­kaner. Aber er weiß wovon er spricht, wenn er Natio­nalis­mus und Rassis­mus als schlimmste Übel dieser Welt bezeich­net.
Phillips wurde 1958 auf der Karibik­insel St. Kitts geboren, wuchs in Eng­land auf, stu­dier­te in Oxford und lehrt heute mit gut sech­zig Jahren in New Haven, USA, als Litera­tur­pro­fessor an der Yale Uni­versity. Er hat am eige­nen Leibe erlebt, was es bedeu­tet, „ein farbi­ger Ein­wan­derer“ zu sein.

Für seinen fünften Roman, der im Ori­gi­nal Cros­sing the River heißt, hat er den Common­wealth Writers‘ Prize und den James Tate Black Memo­rial Prize erhal­ten und wurde für den Booker Prize nomi­niert.

Jenseits des Flusses – II – Die Heidenküste

Im Jahr 1841 macht sich Edward Williams, ein wohl­haben­der wei­ßer Ameri­kaner, daran, von New York aus an die afri­kani­sche West­küste nach Libe­ria zu rei­sen. Er begibt sich auf die Suche nach Nash (!) Williams, einen sei­ner frei­gelas­senen schwar­zen Skla­ven. Etwa ein Jahr­zehnt zuvor hatte er Nash im Rah­men eines Pro­gram­mes des Ameri­kani­schen Koloni­sierungs­vereins nach Afrika geschickt. Dort sollte der ehe­ma­lige Skla­ve das Wort Gottes ver­brei­ten. Doch der Kon­takt zwi­schen Edward und Nash war abge­ris­sen, das Schick­sal Nashs unbe­kannt.

Wir lesen meh­re­re Briefe Nashs an Edward, die die­ser nie zu Gesicht bekom­men hatte. Über Jahr­zehn­te hin­weg verwan­delt sich der einst glü­hende Missio­nar Nash in einen ein­fachen orts­ansä­ßigen Schwarz­afri­kaner, der an der Dis­kre­panz unter­schied­licher Kultu­ren und Werte­systeme schei­tert. In seiner neuen Heimat hat er zuletzt christ­liche und ameri­kani­sche Ideale auf­gege­ben und will ein­fach nur noch über­leben.

Schließlich strandet Edward auf seiner Suche in einer höchst primi­tiven, verdreck­ten Ansied­lung im Landes­inneren, in der Nash gelebt hatte. Der Mann selbst war kurz zuvor ver­stor­ben.

Eine groteske, fürchter­liche Geschich­te, die bestens dazu geeig­net sein könnte, den Leser in Ago­nie zu stür­zen ange­sichts der Aussichts­losig­keit des mensch­lichen Daseins. Formu­liert hat der Autor dieses Frag­ment in der gestelz­ten, anti­quier­ten Sprache längst ver­bliche­ner Gene­ratio­nen. Deren Ideale und deren Frömmig­keit wer­den zu Gra­be getra­gen mit Nash und Edward Williams.

Jenseits des Flusses – II – Im Westen

Martha (!) Randolph ist in die Jahre gekom­men. Sie hat sich krumm geschuf­tet mit Skla­ven­arbeit. Wurde ver­kauft und dabei von Mann und klei­ner Toch­ter getrennt. War geflo­hen und hatte es nach dem Ende der Skla­verei zwischen­zeit­lich zu beschei­denem Glück gebracht mit einem neuen Mann. Der wird erschos­sen und Martha bleibt nichts anderes übrig, als sich erneut auf den Weg zu machen: gemein­sam mit einem Treck ehe­mali­ger Sklaven in den Westen. Doch die Alte behin­dert das Voran­kommen des Trecks. Also lassen die Männer Martha im winter­kal­ten Den­ver zurück, ohne jede Aus­sicht auf eine Zukunft oder auch nur auf Über­leben.

Diese zweite Erzäh­lung Phillips‘ besteht aus einer Serie von ver­schach­telten Flash­backs: Erinne­rungen an gute wie an böse Zeiten. An die nie­mals ver­ges­sene, aber längst im Uni­versum ver­schwun­dene Toch­ter Eliza Mae. Auch hier domi­niert abgrund­tiefe Resi­gnation. Ein Wissen um die eigene Bedeu­tungs­losig­keit, an der weder gut­mei­nende noch bös­wil­lige Nächste auch nur das Gering­ste ändern kön­nen. Ein Alb­traum, der ver­sickert im zwei­fel­los bevor­stehen­den Tod Marthas.

Jenseits des Flusses – III – Über den Fluss

Wir schreiben das Jahr 1752 und beglei­ten über das Log­buch der Duke of York ein engli­sches Skla­ven­schiff auf seinem Weg von Liver­pool an die afri­kani­sche Küste. Dort geht der 26-jährige Kapi­tän James Hamil­ton auf Ein­kaufs­tour und belädt das Schiff nach und nach mit afri­kani­schen Skla­ven.

Fassungs­los lesen wir, wie die Skla­ven noch wäh­rende der Küsten­tour – beglei­tet von bedau­erndem jedoch stets geschäfts­mäßigem Achsel­zucken des Kapi­täns – wie die Flie­gen ver­ster­ben. Außer­dem schei­nen Auf­stände unter der mensch­lichen Fracht zur Tages­ord­nung zu gehö­ren und wer­den erbar­mungs­los abge­würgt. Mit 210 Skla­ven an Bord macht sich Hamil­ton schließ­lich auf den Weg über den Atlan­tik.

Das Geschäfts­mäßige des Schiffs­tage­buches, in dem die haar­sträubend­sten Unge­heuer­lich­keiten in einem oder zwei Halb­sätzen geschil­dert wer­den, steht im Kon­trast zu Liebes­brie­fen, die der Kapi­tän zwischen­durch an seine in Eng­land verblie­bene jun­ge Frau schreibt.
Der Autor über­lässt es der Fanta­sie seiner Leser zu erah­nen, welche Dra­men sich unter Deck in den Skla­ven­ver­schlä­gen abspie­len, wäh­rend Hamil­ton über Liebe und Fami­lie plau­dert.

Jenseits des Flusses – IV – Irgendwo in England

Eine gewisse Joyce erzählt ihre Leben­ge­schichte irgend­wo im briti­schen Nor­den. Zer­split­terte Zeit­frag­mente, durch­ein­ander gera­ten, so als ob Joyce ein Schuh­karton mit Notiz­zetteln herun­ter­gefal­len wäre. Mal ein kurzer Text aus 1942, mal einer aus 1936, dann aus 1963. Ein wil­des Durch­ein­ander haupt­sächlich aus den Jahr­zehnten um den zwei­ten Welt­krieg. Doch mit der Zeit kann die Leser­schaft dem Auto­ren und seiner Joyce fol­gen:
Mit achtzehn von einem Schau­spieler geschwän­gert, Abtrei­bung, Bruch mit der fana­tisch reli­giö­sen Mutter. Wenige Jahre spä­ter Hei­rat mit einem Dorf­laden­besit­zer, der jedoch in den ersten Kriegs­jah­ren wegen Schwarz­han­dels ins Gefäng­nis geht. Ankunft einer US-ameri­kani­schen GI-Truppe. Tanz­ver­gnü­gen und schließ­lich ein Verhält­nis mit einem far­bigen Ameri­kaner namens Travis (!).

Joyces Glück ist jedoch nur von kur­zer Dauer. Als ein gemein­sames Kind unter­wegs ist, heira­ten Tra­vis und Joyce. Doch der GI wird nach Ita­lien abkom­mandiert und stirbt dort im Gefecht. Joyce gibt den „kaffee­braunen“ Jun­gen namens Greer zur Adop­tion frei. Erst acht­zehn Jahre später, 1963, steht der junge Mann vor ihrer Tür, als Joyce längst ein neues Leben mit einem ande­ren Mann begon­nen hat.

An und für sich liest sich die letzte der vier Erzäh­lun­gen am ver­söhn­lich­sten. Ja, natür­lich hat Joyce kein ein­faches Leben. Allzu viel Glück ist ihr nicht beschie­den. Ein sol­ches Leben möchte wohl nie­mand füh­ren müs­sen.
Aber das wahre Drama erken­nen wir erst, wenn wir uns in die Posi­tion Travis‘ ver­set­zen, der selbst nie­mals zu Wort kommt. Die Liebe zu Joyce ist von vorne herein zum Schei­tern verur­teilt. Als schwar­zer GI hatte er schon unter seinen Kame­raden zu leiden. Und ein Leben mit der Wei­ßen Joyce in den USA war kom­plett unvor­stell­bar, das würde nie­mals erlaubt wer­den. – Gibt es über­haupt eine Per­spek­tive, die Travis offen steht?

Durch die will­kür­liche Anord­nung der Zeit­frag­mente dau­ert es eine Weile, bis der Leser erkennt, welch unge­heuer­liche Will­kür sich zusammen­braut und es zwei wirk­lich Lieben­den verwehrt, eine gemein­same Zukunft zu begin­nen. Alleine nur des­halb, weil die bei­den unter­schied­liche Haut­farben haben.

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Bewertung

Eine müh­selige und darü­ber hinaus auch noch äußerst depri­mie­rende Lek­türe bür­det uns Caryl Phillips da auf. Gewiss, das Thema Skla­verei ließ von vorne herein keines­falls erbau­liche Lese­stun­den erwar­ten. Die Beschau­lich­keit von Onkel Toms Hütte hatte ich auch nicht erwar­tet.

Nur 257 Seiten lang ist der Text. Aber dennoch brei­tet er die ganze Trag­weite eines gesell­schaft­lichen Dramas aus, das sich die Mensch­heit in einer Zeit­spanne von zwei Jahr­hun­der­ten aufge­halst hat, als sie damit begann, eine Klassen­gesell­schaft durch Ein­tei­lung in Rassen zu schaf­fen. Dass wir dieses Problem auch heute noch längst nicht auf­gear­beitet, geschweige denn besei­tigt haben, zeig­ten zuletzt die Schick­sale, die Martin Luther King am 4. April 1968, Eric Gar­ner am 17. April 2014, oder George Floyd am 25. Mai 2020 erlei­den musste.

Caryl Phillips hat seine Finger auf äußerst schmerz­hafte Weise in eine Wunde gelegt, die wir uns aus Über­heb­lich­keit, Will­kür und Grau­sam­keit selbst zuge­fügt haben.

Fazit:

Wie noch keiner der zuvor gele­se­nen und bespro­che­nen Romane hat mich Jenseits des Flusses in einem Dilemma zurück gelas­sen, das unauf­lös­bar erscheint. Einer­seits hat mich bei der Lek­türe eine Empö­rung befal­len, die einen Auf­schrei uner­läss­lich schei­nen lässt: Fünf Sterne, min­destens, für diese grauen­hafte Erweckung; für diese meister­liche Schilde­rung eines mensch­lichen und gesell­schaft­lichen Skan­dals!
Andererseits befiel mich auch schreck­liche Lethar­gie: So genau hatte ich das alles gar nicht wis­sen wollen. Die Lese­stun­den mit Caryl Phillips Geschich­te waren alles andere als erfreu­lich. – Lese­spaß? Gewiss nicht! Dafür kann man doch nicht mehr als einen oder zwei Sterne ver­geben.

Letztlich habe ich mich mit einem ungu­ten Gefühl im Bauch für drei der fünf mög­li­chen Ster­ne entschie­den. Und ich bin mir sicher: Dieses Buch werde ich kein weite­res Mal aus meinem Regal zie­hen. Nicht etwa weil es schlecht wäre. Son­dern weil ich es nicht noch ein­mal ertra­gen könnte.

Caryl Phillips: Jenseits des Flusses,
Carl Hanser Verlag, 1995

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