Zwischen seinen beiden Romanen Das Licht und Sprich mit mir veröffentlichte T. C.Boyle den Erzählband Sind wir nicht Menschen. Der Klappentext spricht vom „Meister der American Short Story“ und verspricht: „Böser, witziger und unterhaltsamer denn je.“ Die Sammlung umfasst neunzehn Kurzgeschichten, von denen jede einzelne im Durchschnitt 21 Buchseiten umfasst. Kurze Texthäppchen, die man schon mal zwischendurch verschlingen und eine Weile darüber nachdenken kann, was uns der Autor da mit auf den Weg geben wollte. Denn Boyles Geschichten sind so gut wie nie lediglich schöner Tand, formale Noblessen. Der US-Schriftsteller hat eigentlich immer eine Moral von der Geschicht‘ zur Hand. Und dieser letzte Erzählband beschäftig sich und die Leserschaft mit der Natur, gegen die der Mensch letztlich machtlos ist. Wen wundert’s? Unser Planet, seine Flora und Fauna ist seit Jahren das zentrale Thema T. C. Boyles.
„Den Menschen lieb‘ ich sehr, mehr noch die Natur.“
(Literarisches Motto; von Lord Byron, Ritter Harolds Pilgerfahrt, 1812)
Die Geschichtensammlung ist in dieser Zusammenstellung übrigens nur auf Deutsch erschienen. Die englischen Originale wurden in verschiedenen Medien bereits zwischen den Jahren 2011 und 2017 veröffentlicht. Dieser Umstand erklärt auch, warum nur die neueren Erzählungen von Dirk van Gunsteren ins Deutsche übersetzt wurde, die älteren hingegen von Anette Grube.
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1. – The Way You Look Tonight
Todd Jameson ist 31 und Lehrer, verheiratet mit der gleichaltrigen Laurie. Eines Tages schickt ihm sein Bruder per E-Mail einen kurzen Videoclip mit dem Kommentar „Das wird Dich interessieren.“ Denn das Filmchen ist ein Ausschnitt aus einem Porno, in der Darstellerin erkennt Todd seine eigene Frau. Laurie, vor Jahren, als er sie noch nicht gekannt hatte. Todd rastet aus. Er konfrontiert Laurie mit dem Video, es kommt zum Streit, und Todd zieht durch die Bars, betrinkt sich. Doch als er spät nachts nach Hause kommt, ist sein Zorn verraucht. Er legt sich leise zu seiner schlafenden Frau ins Ehebett.
Mit 16 Seiten ist das die kürzeste Erzählung der Sammlung. Die knappe Zusammenfassung der Ereignisse liest sich banal, womöglich plump und einfallslos. Interessant wird die Geschichte erst durch die typisch boyleschen Nebenschauplätze. Zum Beispiel der Hinweis auf Todds Getränk in der Bar: Er trinkt aus Gründen der Familientradition eigentlich nichts anderes als irischen Whiskey der Marke Jameson und denkt am Tresen an einen historisch belegten Ausrutscher des Namensvetters und Whiskeyerben James Jameson während einer Afrikaexpedition am Kongo. Afrikaexpedition? Afrikanischer Fluss? Klingelt da nicht etwas? – Doch, da ist man als Boylefan sogleich wieder bei dessen erstem Roman, Wassermusik.
★★★
2. – Die Nacht des Satelliten
Schon wieder Streit! – Paul und Mallory sind ein Paar. Und sie sind ewige Studenten, die keine Anstellung finden und nebenbei an der Uni als Hilfskräfte herumwursteln. Die beiden geraten in heftigen Streit: ausgerechnet wegen des Streits eines anderen, unbekannten Pärchens! Mallory will der jungen Frau zu Hilfe eilen, Paul will sich nicht einmischen und blockt ab. Mallory nimmt ihrem Freund seine Haltung übel, die beiden beschimpfen sich wie die Kesselflicker. Mitten im stundenlangen nächtlichen Gezetere flitzt ein Lichtstreif über den Himmel und Paul wird von einem Metallteil an der Schulter getroffen. War das ein Teil eines verglühenden Satelliten? Über das merkwürdige Metallstück entbrennt in den folgenden Tagen erneut wilder Streit, und irgendwann flieht Paul, um Abstand zu gewinnen. Ob die beiden noch einmal zusammenfinden werden?
Sind wir alle womöglich abstürzende Satelliten, die in der Erdatmosphäre verglühen? Gibt es denn keinen Weg raus aus der selbstzerstörerischen Katastrophe. Weil wir alle störrischer sind als Maulesel und keinen Millimeter von unserem selbstgerechten Kurs abweichen wollen oder können? Oder, um es positiver zu formulieren, weil Gefühle unwägbar sind? – Boyle jagt uns durch 18 Buchseiten der Zerstörung. Dabei werden zwischenmenschliche Bindungen zerfetzt, solange bis eine Stabilisierung auf einer gemeinsamen Umlaufbahn kaum mehr vorstellbar ist. Denn ja, leider sind wir alle nur Menschen!
★★★
Slate Mountain
3. –Brice ist Ende sechzig und lebt mit seiner Frau Syl im Sequoia Nationalpark. Er ist naturverbunden und im Vorstand eines Ortsverbandes der ältesten und größten Naturschutzorganisation der USA aktiv. Für Touristen bietet Brice Gebirgswanderungen in der Gegend an. Die Geschichte trägt sich an einem Oktobertag zu, an dem er eine Seniorenwanderung auf den Slate Mountain begleiten soll. Unter den Teilnehmern ist nicht nur Syl, sondern auch Mal Warner, ein enger Freund aus Jugendzeiten. Während des Aufstiegs setzt heftiger Regen ein, die Gruppe muss umkehren. Doch als Brice und seine Schützlinge wieder am Ausgangspunkt angekommen sind, fehlen zwei Teilnehmer. Die Nacht setzt ein.
Im Grunde war es das. Aber Boyle schafft es, auf nur 21 Seiten eine aus dem Leben gegriffene Szene aufzubauen, die einerseits die Herrlichkeit der Natur herausstreicht und andererseits die Geringschätzigkeit und Undankbarkeit der Menschen im Umgang mit dieser Natur deutlich macht. – „Typisch Boyle eben“, könnte man sagen. Aber als wäre das noch nichts, baut der Autor ganz nebenbei noch die halbe Lebensgeschichte seines Protagonisten Brice ein; dessen Beharrlichkeit, sein unterschwelliger Konkurrenzkampf mit dem alten Freund oder Feind Mal, Betrachtungen zum Thema Schönheit und Altern, ein paar Randnotizen zur ehelichen Treue. T. C. Boyle lüpft den Vorhang und wir tauchen ein in das Leben eines Anderen, nur ein paar Minuten zwar, für die Dauer einer Kurzgeschichte.
Für mich ist Slate Mountain das Highlight des Erzählbandes aus dem vergangenen Jahrzehnt. Und ein bisschen Boyle selbst steckt schon auch in seiner Hauptfigur Brice.
★★★★★
Sic transit
4. –Mit einem bekannten lateinischen Zitat zur Vergänglichkeit alles Weltlichen steigt Boyle in die vierte Geschichte der Sammlung ein. Sie trägt sich in einer kalifornischen Kleinstadt zu, ganz ähnlich der, in der die Boyles leben. Gutsituierte Nachbarschaft, hohe Grundstückspreise, alle Annehmlichkeiten, die das Leben der Arrivierten lebenswert machen. Unter diesen Rahmenbedingungen wird ein Toter gefunden, ein ehemaliger Rockmusiker, der einsam in seinem Haus auf einem verwahrlosten Grundstück verstarb. Der Ich-Erzähler der Geschichte ist entfernter Nachbar des Toten, dringt eines frühen Morgens in das verlassene Haus ein und entwendet einen Band einer Tagebuchreihe des Musikers. Mit dem Lesen der Einträge baut sich das Leben des Unbekannten vor ihm auf: das Rockmusiker-Typische, Groupies, Sex, Drogen; aber auch das bürgerliche Leben des Mannes mit Ehefrau, Tochter, Freunden und ehelicher Untreue.
Ein spannendes Panorama, das sich über 25 Buchseiten erstreckt und die Leserschaft mit der Endlichkeit jeden Seins konfrontiert. Dieser tote Rockmusiker könnte jeder von uns sein, seine Fehler könnten unsere eigenen sein, das unspektakuläre Leben eines Unbekannten unterscheidet sich nur in Details von den unseren. – „Carpe diem!“, ruft uns Boyle zu, während sein Protagonist die Walking-Partnerin seiner Ehefrau vögelt.
★★★★
Hell lodernd
5. –In seiner fünften Kurzgeschichte konfrontiert uns Boyle auf 24 Seiten mit dem kranken Wahnwitz der Menschen im Umgang mit wilden Tieren. Denn es geht hier um Tiger, die wir einerseits in Zoos einpferchen und andererseits dann wieder auszuwildern versuchen, um deren Ausrottung vorzubeugen. In beiden Fällen rechnen wir nicht mit angeborenen Jadginstinkten und auch nicht mit der tödlichen Gefahr, die von einem ausgewachsenen Tiger ausgeht – egal ob der in einem Zoo gehalten wird oder sich in seiner natürlichen Umgebung frei bewegt. Ich musste bei der Geschichte unwillkürlich an die zweitplatzierten Preisträger des Darwin Awards 1996 denken, von denen sich Boyle womöglich hat inspirieren lassen. (Wer mehr darüber wissen will, kann die Hintergrundgeschichte hier aufklappen und nachlesen.)
Darwin Award 1996
Darwin Award verbergen
Darwin Award 1996
Die Zweitplatzierten des Darwin Award 1996 waren zwei junge Inder, Prakesh Tiwari und Suresh Rai, beide um die zwanzig. Sie waren betrunken, als sie am 2. Januar im Zoo von Kalkutta Blumenkränze kauften und damit den Graben um ein Tigergehege überquerten. Dort versuchten die jungen Männer, einem 13-jährigen männlichen Königstiger einen Blumenkranz überzuwerfen, der nach dem Hindugott der Zerstörung „Shiva“ genannt wurde. Als Suresh die Girlande um Shivas Hals warf, griff der Tiger ihn an. Sein Freund Prakesh griff ein und trat dem Tiger ins Gesicht. Shiva ließ von Suresh ab, stürzte sich auf Prakesh und tötete ihn.
Wie dumm kann man sein? Jedenfalls ist diese Geschichte keine erfundene urbane Legende, sondern durch verifizierte Presseberichte bestätigt.
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Darwin Award verbergen
Tara, Tatiana, Siobhan & Vijay
Seine eigene Tigergeschichte erzählt T. C. Boyle in atemlosem Wechsel aus drei verschiedenen Perspektiven. Zu Wort kommt der Teenager Siobhan, deren ältere Schwester in einem Pavillion im Zoo von San Francisco heiratet. Siobhan und ein befreundeter Junge streifen nachts unerlaubt durch den Zoo, trotz aller Absperrungen. Ist das womöglich Blut, was die beiden da auf dem Asphalt entdecken?
Außerdem sprechen auch zwei Tigerweibchen vor, Tara und Tatiana. Tara wurde in einem englischen Zoo geboren und später in Nordindien erfolgreich ausgewildert. Doch ein paar Jahre danach kommt es zu mehreren menschlichen Todesopfern, nachdem ein Tiger durch Ortschaften gestreift war, „bei helllichtem Tag mitten auf der Hauptstraße entlanggegangen war, als hätte er überhaupt kein Angst vor Menschen“ (Seite 2 der Kurzgeschichte). Tatiana ist eine sibirische Tigerin im Zoo von San Francisco, die nach einem Angriff auf Besucher abgeschossen wird.
Die eigentliche Geschichte aber wird aus Sicht eines jungen Mannes namens Vijay erzählt, der von indischen Sikhs abstammt, allerdings in den USA geboren wurde. An einem Weihnachtsnachmittag streifen Vijay, sein älterer Bruder Vikram und ein Freund namens Manny durch den Tierpark in San Francisco. Die drei haben getrunken, Hash geraucht und finden einfach alles zum Brüllen komisch. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als sie die Tigerin Tatiana solange aufgestachelt haben, bis diese in ihrer hell lodernden Wut den Graben des Geheges überwindet. Nun ja: Wie dumm kann man sein? (Aber das kann man ja oben beim Darwin Award nachlesen.)
★★★★
6. – Der Marlbane Manchester Musser Preis
Eine gute Portion Selbstironie gepaart mit dem Albtraum aller rechtschaffenen Menschen: Ich versuche das einzig Richtige zu tun und werde dafür bestraft! – T. C. Boyle erzählt eine Begebenheit aus dem Leben eines Schriftstellers namens Anent Riley, dem ein bescheidener literarischer Preis verliehen werden soll und der sich dafür auf eine Zugreise nach Albany begibt. Seinem Herrn Riley verpasst Boyle ein paar Eigenschaften, die nur den Rückschluss zulassen, dass es sich bei der Figur um keinen anderen als den Autor selbst handeln kann. Alter, Kleidung, wilde Vergangenheit, Anzahl der Romane, das hundert Jahre alte Haus, in dem Riley lebt, das passt einfach alles nur zu gut auf Boyle selbst. Handelt es sich also hier um eine Schreckensvision, die den Schriftsteller irgendwann einmal überfallen haben mag?
Während seiner Zugfahrt fällt nämlich diesem Riley ein weißer Mann auf, der mit einem kleinen Jungen mit dunklerer Hautfarbe unterwegs ist. Schon da geht die Fantasie mit Riley durch: „Ein Pole? Kroate? Oder doch Russe?“, denkt er. Und dann ist der Mann auf einmal weg und hat den Jungen bei Riley zurückgelassen. Als der Junge „Socorro!“ flüstert, also „Hilfe!“ auf Spanisch, kann Riley mangels Sprachkenntnissen nichts damit anfangen. Aber er merkt, dass da etwas nicht stimmt, und nimmt den Jungen in Albany mit auf den Bahnsteig, um ihn der Polizei zu übergeben. Aber dazu kommt es nicht mehr. Denn kaum hat Riley den Zug verlassen, wird er von eben der gesuchten Polizei zu Boden geworfen, in Handschellen gelegt und verhaftet. Er soll den Jungen missbraucht haben. Himmel, hilf!
20 Buchseiten Albtraum über schlechte Menschen und über einen weltfremden, ein bisschen eitlen Schriftsteller, der in einem Thriller landet, den er selbst geschrieben haben könnte.
★★★
7. – Birnam Wood
Keith und Nora sind ein junges Pärchen, das seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hat. Er arbeitet als Aushilfslehrer auf Abruf, sie hat gerade ihr Studium abgeschlossen. Die warme Jahreszeit haben sie in einem Sommerhäuschen verbracht und in den Tag hineingelebt. Doch als ein regnerischer Herbst anbricht, brauchen sie ein andere Bleibe. Zufällig geraten die beiden an ein älteres Ehepaar, das jemanden sucht, der den Winter über auf ihr Haus am See in Birnam Wood aufpasst. Und so landen Nora und Keith in einem winterfesten Nebenhäuschen mit ein paar Annehmlichkeiten, wo sie die kalten Monate verbringen können. Eines Abends taucht ein Kerl bei ihnen auf, den Keith zuvor in einer Bar kennengelernt hatte. Steve kommt direkt zur Sache, er macht sich an Nora heran. Als diese Steve nicht sofort empört die Tür weist, rennt Keith kommentarlos, verletzt und wütend aus dem Haus.
Die Kurzgeschichte zieht sich über 20 Buchseiten. Einige autobiografische Ansätze sind auch hier erkennbar, spielt sich die Handlung doch etwa in der Nähe von Peekskill ab, dem Ort in dem Boyle aufwuchs. Der Autor merkte in einem Interview an: „Die Geschichte enthält autobiografische Elemente, aber natürlich wurde alles zu dem Zweck aufgepeppt, aus den Trümmern der Erinnerung ein dynamisches und fesselndes Stück Unterhaltungsliteratur zu machen.“
Für meinen Geschmack ist diese Erzählung jedoch nicht allzu dynamisch und fesselnd. Sie ist mir zu ziellos angelegt, plätschert dahin. Und ja, dieser Keith könnte empathischer sein. Irgendwie geschieht ihm recht, was sich da in seiner Abwesenheit zwischen Nora und Steve abspielen mag. Wahrscheinlich hätte er den Aufdringling einfach hochkant vor die Tür setzen sollen. Doch sehr viel anfangen kann ich nicht mit Birnam Wood.
★★
8. – Wiedererleben
„Erinnerungen machen das Leben manchmal unmöglich. Vergesslichkeit befreit.“
(Fadime Aliciya Delice)
Erinnerungen können tröstlich sein. Oder aber uns das Leben zur Hölle machen. Je älter wir werden, desto mehr Zeit verbringen wir damit, an längst Vergangenes zu denken. Und glücklicherweise neigen wir dabei dazu, die Vergangenheit schön zu färben. Was aber, wenn es eine Zeitmaschine gäbe, so etwas wie ein Denkarium in den Harry-Potter-Romanen, mit der wir jeden beliebigen Moment unseres Lebens wiedererleben könnten? Die guten wie die schlechten Zeiten? Unsere dunkelsten und strahlendsten Momente in hyperrealistischen 3D-Bildern mit Standbild und Replay-Funktion?
In Boyles achter Kurzgeschichte gibt es so ein Ding. Ein alleinerziehender Vater namens Wes und seine fünfzehnjährige Tochter Katie besitzen – wie fast alle anderen Menschen auch – eine „Relive-Box“. Die beiden machen sich die Nutzungszeiten der Box Tag und Nacht gegenseitig streitig. Das echte Leben in der Gegenwart wird zur unwichtigen Randkulisse: Lieferdienste, Müllberge in der Wohnung, null Kontakte zu anderen Menschen; Arbeit, Schule und sogar der Gang zur Toilette sind nichts als lästige Unterbrechungen des stundenlangen Eintauchens in vergangene Momente. Die unvermeidliche Katastrophe im Leben von Katie und Wes erspart uns der Autor. Aber wir können uns ausmalen, was irgendwann kommen wird. So sicher wie das Amen in der Kirche.
22 Seiten Science-Fiction der bösesten, heimtückischsten Art. Ein Abgesang auf virtuelle Realität, künstliche Intelligenz, persönliche intelligente Assistenten und was da noch alles auf uns zukommen mag.
★★★
9. – Bombig
Hochschulabschlussfeier am Hibernia College, New York. Hailey Phegler ist Studentin im Absolventenjahrgang und hat ein Problem: Sie hat den Abschluss nicht geschafft. Aber unter den Gästen der Feier ist ihre Familie, der sie ihr Versagen um keinen Preis gestehen will. Um der bevorstehenden Schmach zu entgehen, ruft Hailey im Collegebüro an und platziert eine Bombendrohung. Kann das gut gehen? Den Anruf hat das Mädchen über sein Mobiltelfon getätigt. Nun ja, lest selbst.
Eine 17-seitige Erzählung, geschrieben aus der Sicht einer jungen Frau, die unter enormem Druck steht und nicht mehr ein noch aus weiß. Erklärungen, Rechtfertigungen, Suche nach Auswegen. Stress pur. Eine Geschichte über Prokrastination, Überforderung, Erwartungshaltungen, Versagen und Einsamkeit. Ganz ehrlich: Bombig hat mich nicht allzu sehr mitgerissen.
★★
10. – Sind wir nicht Menschen?
Lektürehalbzeit: Neun Kurzgeschichten haben wir hinter uns, weitere neun liegen noch vor uns. Dazwischen liegt die Titelgeschichte der Sammlung: Sind wir nicht Menschen? Da dürfen wir doch schon mal sehr gespannt sein.
Im Kern betrachtet ist die Erzählung eine Allerweltsgeschichte. Ein gut situiertes Paar, Connie und Roy, leben in einer Vorortwohngegend für Wohlhabende. Beide sind berufstätig. Eines Tages eröffnet Connie ihrem Partner, dass es an der Zeit sei, ein Kind zu bekommen. Der Plan nimmt seinen Lauf. Doch Roy hat noch ein zweites Pferdchen am Start. Er ist mit der alleinstehenden Nachbarin Allison fremdgegangen, die nun ebenfalls schwanger ist. So weit, so normal.
Science-Fiction?
Die Geschichte bekommt allerdings einen Kick der besonderen Art, weil Boyle sie in eine womöglich gar nicht so ferne Zeit versetzt, in der es gang und gäbe ist, die Gensequenzen aller Lebewesen zu „optimieren“. Mitte der Zehnerjahre gab es reichlich Debatten um die sogenannte CRISPR-Technologie, mit der Gensequenzen isoliert und in beliebigen Zellen zielsicher an der richtigen Stelle eingefügt werden sollen. In Connies und Roys Welt gibt es blaugrünen Rasen, der im Dunklen leuchtet, kirschrote Pitbulls, Katzenhunde, Nachbarmädchen mit merkwürdiger Augenfarbe und ungewöhnlichem Körperwuchs, die ganz selbstverständlich mehrere Fremdsprachen beherrschen. Das künftige Baby des Paares wird natürlich auch nicht im Bett, sondern im Reagenzglas gezeugt: ein Mädchen mit grünen Augen, vorbestimmter Körper- und Körbchengröße, musikalischem Talent und einem Grübchen am Kinn. Allisons und Roys Kind hingegen war ein unvorhergesehener Unfall, weder Vater noch Mutter kennen also das Geschlecht oder gar andere Eigenschaften des künftigen Menschleins. Da ist er wieder, der Silberstreif am boyleschen Horizont!
Ich möchte nicht von Science-Fiction reden, weil wir selbst ja nur mehr ein paar Augenblicke von dieser Zukunft entfernt leben. Beim Gedanken daran, dass womöglich längst Designerbabys in irgendwelchen abgeschotteten Labors gezüchtet werden, läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter. (Niemand kann mir weismachen, dass nicht alles durchgeführt wird, was technisch möglich ist.) Mit den 21 Seiten des Textes legt T. C. Boyle wieder einmal die Finger in eine Wunde der gesellschaftlichen Entwicklung, die wir nicht zu heilen vermögen. – Sind wir nicht Menschen? Achtung: Jede¦r Leser¦in möge sich der Provokation bewusst werden, die in der ungewöhlichen Wortanordnung der Titelgeschichte enthalten ist. Sind wir noch Menschen? Oder sind wir es eben nicht mehr?
★★★★
11. – Der Fünf-Pfund-Burrito
Salvador, Sohn mexikanischer Einwanderer, betreibt in den Sechzigern seit vier Jahrzehnten einen Imbissladen in einer namenlosen amerikanischen Stadt. Ich komme nicht umhin, Euch den grandiosen Einleitungsabsatz der Geschichte zu präsentieren:
„Bratfett war sein Leben, und ganz gleich, wie oft er sich wusch, […] das Fett saß unter seinen Fingernägeln und in den Hautfalten, die jetzt, da er nicht mehr jung war, tiefer und zahlreicher waren. Es bestimmte sein Leben, er verdiente Geld damit, und wenn das seine Nachteile hatte – er war zweiundsechzig und hatte nie geheiratet, denn welche Frau würde einen Mann wollen, der aus allen Poren nach gebratenem Schweinfleisch roch? –, so hatte es doch auch gewisse Vorzüge.“
(Seite 1 der Erzählung)
Vierzig Jahre Arbeit, ohne Pausen, aber auch ohne großartige Geschäftserfolge. Dieser Sal schafft es gerade so durchs Leben. Bis er auf die Idee kommt, einen riesigen Burrito anzubieten. Sein Laden wird zum Stadtgespräch, die Kunden rennen ihm die Bude ein. Doch eines Tages sind es keine Menschen mehr, die sein Geschäft betreten. Sal ist plötzlich umgeben von lauter Hühnern, die um ihn herum gackern. Dreht der Mann durch? Ist er wahnsinnig geworden? Da erscheint Sal auf einer Tortillascheibe das Gesicht seines Vaters und ermahnt ihn, von seiner Großmannssucht abzulassen.
Jetzt streiten zwei Seelen in meiner Brust. Zum einen ist die Geschichte einfach grandios erzählt, siehe zum Beispiel den zitierten Abschnitt da oben. Aber auf der anderen Seite ist mir die Story schlicht und einfach zu abgedreht. Auf 21 Buchseiten vom Tellerwäscher zum Millionär, was aber dann nicht passiert, weil der Millionär doch lieber Tellerwäscher bleiben will, um das Schicksal nicht herauszufordern?
★★
12. – Die argentinische Ameise
Ein Paar Ende zwanzig zieht samt Kleinkind aus der Großstadt nach Il Nido, in ein Fischerdörfchen weit im Süden Italiens. Dort will der junge Familienvater in Ruhe an einer wichtigen mathematischen Veröffentlichung arbeiten, während der Sohn in gesunder Umgebung aufwachsen kann. Doch „Il Nido“ – „das Nest“ – erweist sich in erster Linie als Nest einer gewaltigen Ameisenplage. Schwarze Insekten bedecken alles, egal ob im Freien oder in Innenräumen. Die anderen Bewohner des Dorfes haben sich alle ihren eigenen Umgang mit der Pest zugelegt, ihre eigenen Rezepte, um die Viecher loszuwerden. Aber keines dieser Rezepte funktioniert. Obwohl es eine eigens von der Regierung bestellte Gesellschaft für Ameisenbekämpfung gibt. Allerdings geht das Gerücht, die Gesellschaft bekämpfe die Ameisen gar nicht, sondern füttere sie sogar an. Im Dorfladen flüstert die Kassiererin dem Erzähler zu: „Signore, über so was sprechen wir hier nicht.“
Spätestens an dieser Stelle habe ich mich an eine andere Boyle-Erzählung erinnert, nämlich an die Ehrenwerte Gesellschaft mit dem Schneckenproblem. Die 25 Buchseiten kann ich nur als Parabel verstehen, in der die Ameisen für Korruption und mafiöse Strukturen stehen. Die fremden Insekten aus Argentinien verkörpern dabei womöglich die importierten südamerikanischen Drogenkartelle. Aber wie auch immer: Die Geschichte ist unwirklich, geradezu surreal, kafkaesk.
Der Untertitel der Erzählung lautet übrigens Hommage an Italo Calvino. Dieser Calvino war italienischer Schriftsteller und genoss Anfang der Siebzigerjahre Popstarstatus in US-amerikanischen Universitätskreisen. Insbesondere sein Werk Die unsichtbaren Städte gilt dort noch heute als Kultbuch. Darin geht es in einem fiktiven Dialog zwischen Marco Polo und dem Kublai Khan um ein beklemmendes Weltuntergangspanorama. Calvino legt Marco Polo eine finstere Erkenntnis in den Mund:
„Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das erst noch kommen wird. Wenn es eine gibt, ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden.“
(Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, 1972)
★★★★
Surtsey
13. –Vor der Festlandküste östlich der Tschuktschensee befindet sich ein schmaler Sandstreifen, eine von Tausenden von Barriereinseln, die sich entlang der zerklüfteten Küste Nordwestalaskas erstrecken. Seit Hunderten von Jahren nutzten die Iñupiat-Inuit die Insel als Basislager, für den Walfang im Frühjahr und die Karibujagd im Winter. Heute ist die Insel dauerhaft besiedelt, dort leben knapp 400 Einwohner, von denen die meisten Iñupiat sind. Sie nennen ihre Insel Kivalina.
Boyles Erzählung trägt sich Anfang der Zehnerjahre auf Kivalina zu. Während einer Sturmflut, die in Zeiten des Klimawandels immer häufiger auftreten, müssen der sechzehnjährige Erzähler A. J. und seine Familie mit Vater, Mutter und Schwester das überflutete Haus verlassen und sich im erhöht liegende Schulgebäude der McQueens-Highschool in Sicherheit bringen. So wie all die anderen Einwohner ebenfalls. Der gesamte Ort richtet sich in der Schule ein, um dort das Ende der Flut abzuwarten.
Auf den 20 Seiten der Geschichte lässt uns Boyle in die Gedanken eines heranwachsenden Inuit blicken, seine familiären Sorgen, Stress mit den anderen Jungs und seine Unruhe wegen der Zukunft, die sich in seinem Alter noch nicht um das Verschwinden seines Lebensraumes dreht, sondern um das Problem, dass seine Freundin Cherry dem Willen ihrer Eltern nach weit weg von Kivalina studieren soll. Er selbst aber bleiben würde, wo er immer gelebt hatte.
In den letzten Sätzen der Erzählung träumt A. J. von Surtsey, diesem kleinen Vulkankegel, der 1963 nach einem Seebeben südlich von Island entstand. Der Junge weiß natürlich nicht, dass auch Surtsey schrumpft und vielleicht schon in hundert Jahren nur mehr als nackte Felsspitze aus der See ragen wird. – Mr. Boyle? Wo bleibt denn da der Silberstreif?
★★★
14. – Diebstahl und andere Sachen
Ja, es geht in dieser Kurzgeschichte um Diebstahl. Damit beginnt jedenfalls die Erzählung. James Mackay ist 36 und arbeitet in Santa Barbara als Projektentwickler für Weingüter. Diesem James wird sein alter Ford geklaut. Zusammen mit dem Hund seiner Freundin Leah, ein paar Golfschlägern und einer alten Angelrute. Aber tatsächlich geht es in der Geschichte mehr um die „anderen Sachen“ aus dem Titel. Denn der Hund wird wiedergefunden, der Dieb erwischt. Nur der alte Ford bleibt verschollen.
Wir sind hier wieder bei einem von Boyles Lieblingsthemen gelandet, nämlich dem stets unterschwellig lauernden Streit in Paarbeziehungen. Die jähzornige Leah gibt ihrem James die Schuld am Schockerlebnis ihres geliebten Hundes namens Bidderbells. Sie macht ihrem Freund die Hölle heiß und verschwindet irgendwann mit Bidderbells. Allzu lange trauert James seiner Leah jedoch nicht nach, sondern bandelt mit der Polizistin Sarah Mortenson an, die den Diebstahl aufgeklärt hat.
T. C. Boyle hat die wenigen 21 Seiten der Kurzgeschichte in sage und schreibe elf Unterkapitel gegliedert. Deren Übersschriften erinnerten mich sofort an die uralten Schwarzweiß-Stummfilme, deren kurze Szenen mit plakativen Titel unterteilt wurden: Der Hund, Der Arm des Täters, Der nächtliche Anruf …
Eine witzige, toll erzählte Geschichte über allzu Zwischenmenschliches und all die Typen, die nicht aus ihrer Haut herauskönnen. Angefangen bei James und seiner frustrierten Freundin; über den Kleinganoven Reg-Dog; bis zur frisch verliebten Polizistin Sarah. Eine Geschichte über Sachen, die eben passieren.
★★★
15. – Ein Tod weniger
Der Schriftsteller Riley ist sechsundfünfzig und taucht in die Vergangenheit ein. Er und seine Frau Caroline reisen zur Beerdigung seines Jugendfreundes Lester, zurück in die Gegend, wo Riley groß geworden ist: an den Hudson River, nördlich von New York. Weil die großen Hotels ausgebucht sind und auch weil Riley Naturfreund ist, mieten die beiden sich für ein paar Tage in einem gerade leer stehenden Privathaus ein, direkt am Hudson.
Gemeinsam mit Riley erleben wir die erkaltende Beziehung zu Caroline, das prickelnde Wiedersehen mit seiner Jugendliebe Meg und die Nachricht eines weiteren Todesfalls: Der Vermieter des Hauses, in dem Riley und Caroline soeben untergekommen sind, wurde bei einem Terroranschlag während eines Italienurlaubs getötet. Und am nächsten Tag kommt um ein Haar auch noch Riley selbst bei einer Kanutour ums Leben. Aber er springt dem Tod von der Schippe: Ein Tod weniger.
Natürlich trägt dieser Riley wieder einmal Züge Boyles. Er stammt aus eben der beschriebenen Gegend am Hudson River, Boyles alter Heimat, lebt inzwischen in einem „restaurierten Farmhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert“, ist Schriftsteller „im oberen mittleren Auflagenbereich“ und paddelt gern im Kanu herum.
(Frage am Rande: Ist das etwa der gleiche Riley wie in der sechsten Geschichte um den Marlbane Manchester Musser Preis?)
Zufall, Schicksal, die Zwangsläufigkeit der Entfremdung, Tod, Vergangenheit, last man standing. – Das sind Motive, die T. C. Boyle immer wieder beschäftigen. Auf den 21 Seiten dieser nachdenklich machenden Geschichte vertieft er ein weiteres Mal seine Lebensthemen.
★★★
Was Wasser wert ist, weißt du (erst, wenn du keins mehr hast)
16. –Im Einzugsgebiet des Colorado River, der bedrohten Lebensader im kalifornischen Südwesten der USA lebt das Ehepaar Micki und Scooter. Seit ihr Sohn an der Ostküste studiert, sind die beiden alleine. Die Geschichte spielt sich im Laufe mehrerer regenloser Jahre in Folge ab, in denen die zwei Protagonisten ihren Wasserverbrauch immer weiter nach unten schrauben. Die Bewässerung von Pflanzen stellen sie nach und nach ein, geduscht wird nicht mehr, sie baden einmal in der Woche gemeinsam, waschen danach ihre Wäsche im Badewasser und begießen zuletzt mit dem Brauchwasser die geliebten Zitrusbäumchen.
Tatsächlich wird der Wasserverbrauch schließlich rationiert, Micki rasiert ihren Schädel kahl, um Wasser zu sparen, im Ort kommt es zu aberwitzigen Begebenheiten wie Wasserdiebstahl durch Nachbarn, Prostitution für eine Tanklasterladung mit Wasser und schließlich zur Beauftragung einer Schamanin, einer Regentänzerin. Wird das den Umschwung bringen? Wird es denn endlich regnen?
„[…] und dann denke ich, was für ein großes, großes Glück wir haben, in diesem Augenblick auf diesem Planeten zu leben, der uns mit solchem Überfluss und unendlicher Gnade beschenkt.“
(Schlussatz der Geschichte)
Die Erzählung ist nur 17 Seiten lang. Eine kurze Groteske, bei deren Lektüre der Leserschaft das Grinsen im Gesicht erstarrt. Denn gar so abwegig ist das alles nicht, was uns Boyle da auftischt. In leicht abgeschwächter Form verarbeitet der Autor das Motiv dieser Erzählung ein paar Jahre später in seinem Roman Blue Skies. Und wer es gerne noch eine Nummer härter hätte, dem empfehle ich den Ökothriller Die Dürre von J. G. Ballard aus dem Jahr 1965 (!).
★★★★★
17. – Der Beauftragte
Mason Kenneth Alimonti ist achtzig Jahre alt, Professor im Ruhestand und frisch verwitwet. Ach ja, und bevor ich es vergesse: Mason ist auch ein unglaublicher Volltrottel. Er fällt nämlich auf einen Vorschussbetrug herein, den wir alle seit fast dreißig Jahren als Masche von Trickbetrügern der sogenannten Nigeria-Connection kennen: „Mein Name ist Graham Shovelin, Director für Operations & IT bei der Yorkshire Bank PLC und persönlicher Fondsmanager von Mr Jing J. Kim […] Kontostand beträgt £ 38 886 000 […] so dass wir Ihnen als dem Alleinerben das genannte Vermögen aushändigen können.“
Ich muss sagen, die Lektüre dieser Geschichte, die Boyle über 28 Seiten und 14 kurze Kapitel streckt, hat mir geradezu körperliche Schmerzen bereitet. Obwohl es sich hier um die längste Erzählung der Sammlung handelt, war jeder Satz, jeder Absatz so schrecklich vorhersehbar – und dennoch in gewisser Weise nachvollziehbar. T. C. Boyle hat tief in die Analysekiste der Opferpsychologie gegriffen. Die Story hat zwar einen Bart wie Methusalem, ist aber wirklich prima erzählt.
★★★
18. – Jesus der Krieger
In seiner vorletzten Kurzgeschichte portraitiert T. C. Boyle einen jungen Mann namens Devon, der in einem zähen Morast aus christlich-religiösem Eifer, Rassismus und Frauenverachtung, Minderwertigkeitsgefühlen, Selbstgefälligkeit und Hinterhältigkeit dahindümpelt. Ein erbärmlicher Kerl, der ständig dabei ist, sich selbst und den Lesern gegenüber zu betonen, wie tolerant er sei, nur um Sekunden später genau das Gegenteil zu beweisen.
Gerahmt wird Devons Charakterstudie durch Comicstrips, die der junge Mann zeichnet und in denen Jesus als Mischung aus Conan dem Barbaren und Rambo auftritt. Devons martialischer Jesus „ist gekommen, den Abschaum der Welt zu beseitigen“.
Boyles Geschichte erstreckt sich über 21 Seiten und endet mit Devons Frage an die Leserschaft: „Na, was meinen Sie? Stark oder?“ – Er meint damit seine Comicstrips. Boyle aber meint ihn, Devon.
★★★
Der Flüchtling
19. –Den Abschluss der Kurzgeschichtensammlung macht die Erzählung eines dreiundzwanzigjährigen Mexikaners, der sich mit Gelegenheitsarbeiten im Südwesten der USA über Wasser hält. Er heißt Marciano und ist einer, der in einer Zwischenwelt lebt: Nach seiner Geburt in San Diego wurden seine Eltern ausgewiesen, Marciano aber blieb. Er wuchs ohne Schulbildung in einer spanischsprachigen Umgebung auf, auf dem Papier aber ist der Junge Amerikaner. Marciano spricht und versteht kein Englisch, und nun hat er sich zu allem Übel mit Tuberkulose angesteckt.
Nachdem er die erste Behandlung abbrach, als es ihm etwas besser ging, kehrt die Krankheit in einer resistenten Form zurück. Nun muss Marciano in Gegenwart anderer Maske tragen und über Jahre hinweg Tabletten einnehmen. Aber der Junge hält sich nicht daran; wegen fehlender Bildung, aus Sorglosigkeit und dank mangelnden Problembewusstseins. Also nimmt Marcianos Weg in den Untergang seinen Lauf.
Eine erschreckende Erzählung, die über 18 Buchseiten geht, aber viel kürzer erscheint, weil die Reaktionen des jungen Protagonisten so vorhersehbar und doch unabwendbar sind. Eine tragische Geschichte tischt uns T. C. Boyle zum Ausklang auf, wahrscheinlich eine von Tausenden ähnlicher Schicksale. Die Stimme des Autors habe ich hier nirgends durchgehört. Er überlässt es uns Leser¦innen, Partei zu ergreifen oder auch nicht.
★★★★
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Wer diese Besprechungen gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Rezensionen zu Boyle-Romanen und -Erzählungen auf dieser Website zu finden sind.
Fazit:
Sind wir nicht Menschen ist eine umfangreiche Sammlung einprägsamer Bilder und Charaktere, die (insbesondere die US-amerikanische) Gesellschaft ausmachen. Nicht nur durch seine Romane, sondern auch dank seiner Erzählsammlungen ist T. C. Boyle inzwischen zur moralischen Instanz geworden. Seine Konfrontationen zwischen Mensch und Natur sowie die zwischenmenschlichen Debakel wirken manchmal verstörend oder sogar verärgernd, in anderen Fällen komisch. Spannend aber sind fast alle Geschichten.
Diese Geschichtensammlung ist tatsächlich ein äußerst lesenswertes Buch, auch wenn der mathematische Durchschnitt meiner Sternebewertungen für die neunzehn Kurzgeschichten die drei von fünf möglichen Sternen zwar überschreitet, aber nicht für ein Aufrunden auf vier Sterne ausreicht.
T. C. Boyle, Sind wir nicht Menschen
Carl Hanser Verlag, 2020
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