Es sind sieben Jahre vergangen, seit T. C. Boyle den Roman Hart auf Hart veröffentlicht hat. Doch im Verlauf der gesundheitlichen und gesellschaftlichen Krise um das Coronavirus während der beiden zurückliegenden Jahre, haben wir alle gelernt, uns auch mit Mitbürgern zu befassen, die zuvor ein eher wenig beachtetes Randgruppendasein fristeten: mit Wutbürgern, Leugnern, Verschwörungstheoretikern, mit Reichsbürgern und Rassisten. Genau um solche Menschen geht es in Boyles Geschichte. Ich habe sie aus diesem Blickwinkel noch einmal gelesen.
Hart auf Hart ist Boyles fünfzehnter Roman und erschien zwei Jahre nach San Miguel und ebenso zwei vor Die Terranauten.
In der Art eines Vorwortes stellt der Autor seinem Roman ein Zitat von D. H. Lawrence voran, das die Essenz der Erzählung wie eine prägnante Zusammenfassung vorwegnimmt:
Die amerikanische Seele ist ihrem Wesen nach hart, einzelgängerisch, stoisch und ein Mörder. Sie ist noch nicht geschmolzen.
(Studies in Classic American Literature, 1923)
Dreimal umgeblättert, und schon jagt uns Boyle gnadenlos – „hart auf hart“ – durch seine Story. Erst wenn wir uns durch die knapp vierhundert Textseiten hindurch gefiebert haben, bekommen wir Gelegenheit, durchzuatmen und den Stoff zu verdauen, der uns da vorgesetzt wurde.
Worum es geht
Der Roman erzählt die Geschichten dreier Protagonisten; die von Sten Stensen, seinem Sohn Adam sowie dessen Zufallsbekanntschaft und Lebensabschnittsgefährtin Sara. Alle drei sind uramerikanisch, individualistisch bis egoistisch und auf unterschiedliche Weise psychisch deformiert. Fast die gesamte Handlung spielt innerhalb weniger Monate im Norden Kaliforniens, im Mendocino County, gut hundert Meilen nördlich von San Francisco.
Sten Stensen
Sten ist Ex-Marine, der es nach dem Vietnamkrieg als Schuldirektor in einer Kleinstadt zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat. Ein Baum von einem Mann – wenn auch ein alter Baum –, der zusammen mit seiner Frau Carolee versucht, als Rentner in seinen Siebzigern einen würdigen Platz in der Gesellschaft zu finden. Zufrieden mit seinem Leben ist Sten allerdings eher nicht. Unter anderem weil sich diese Gesellschaft so unbegreiflich verändert hat; aber auch deshalb, weil sein Sohn von Anfang an ein Problemkind war und geblieben ist. Doch immerhin: Sten ist ein respektierter Bürger und versucht auch stets, diesem offiziellen Bild gerecht zu werden.
Sten Stensen macht den Einstieg in die Romanhandlung. Auf einer Kreuzfahrt unternimmt er mit seiner Frau und anderen Luxusreisenden einen Landausflug an der Karibikküste Costa Ricas. Die Ausflügler geraten in einen Überfall dreier jugendlicher Banditen, die es auf die Wertgegenstände der begüterten Touristen abgesehen haben. Doch Sten entwaffnet in einem Marine-Reflex den Anführer der Bande, der dabei sozusagen versehentlich ums Leben kommt. Mit einem Mal ist Sten zwar ein Totschläger, aber dennoch ein Held.
Adam Stensen, alias Colter
Spätgeborener Sohn von Sten und Carolee. Er tanzte von Anfang an durch sein autistisch-aggressives Verhalten aus der Reihe. Seine Eltern schleppten Adam in seiner Jugend von Psychiater zu Psychiater. Als er volljährig ist, bricht er aus der Kleinfamilie aus und quartiert sich bei seiner Großmutter ein. Die lässt ihn in Ruhe, und Adam widmet sich ganz dem Studium seines Idols John Colter, eines amerikanischen Trappers des achtzehnten Jahrhunderts, der einst den Wilden Westen eroberte.
Adam verachtet seine Eltern und die Gesellschaft, die diese repräsentieren. Und er hasst die staatliche Ordnungsmacht. Ein wenig Geld verdient sich Adam mit einer im Wald versteckten Opiumplantage. Mit Ende zwanzig hat er – nicht zuletzt dank Alkohol und Drogen – eine schizoide Persönlichkeit entwickelt. Immer wenn sich „das Rädchen in seinem Gehirn“ dreht, sieht er überall Aliens, Chinesen und Echsenmenschen, die es in Ermangelung von Blackfoot-Indianern in seiner Rolle als Colter zu bekämpfen gilt.
Sara Hovarty Jennings
Sara ist vierzig, längst geschieden und trauert den Männern kaum hinterher. Sie ist selbstständige Hufschmiedin mit festem Kundenstamm, von dessen Aufträgen sie recht gut leben kann. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit ihrer Freundin Christabel bei Wein oder Bier, ein paar Drinks und gutem Essen. Begleitet wird Sara stets von Kutya, einem weißhaarigen Puli mit langen Dreadlocks.
Ähnlich wie Adam akzeptiert die Frau keine staatliche Ordnung, die in ihren Augen nichts anderes als eine „unrechtmäßige Autorität“ darstellt. Sie sieht sich als „souveräne Bürgerin, in Amerika geboren und aufgewachsen“ und erkennt die „Illegitime Regierung des Amerikas der Konzerne“ und deren Rechtsordnung nicht an. Deshalb weigert sie sich, Steuern zu bezahlen, ihr Auto zuzulassen und beim Fahren den Sicherheitsgurt anzulegen. In Deutschland würde man Sara als Reichsbürgerin und Selbstverwalterin bezeichnen. Weil sie diesbezüglich absolut kompromisslos ist, legt sie sich immer wieder mit der Staatsgewalt an und zieht dabei regelmäßig den Kürzeren.
Nach einem dieser Zusammenstöße mit der Polizei war ihr Hund Kutya ins Tierheim in Quarantäne verbracht worden. Da liest Sara den Autostopper Adam auf, überredet ihn dazu, ihr bei der „Befreiung“ ihres Haustieres zu helfen und landet danach mit dem jungen Radikalen bei sich zu Hause zum Feiern – und schließlich im Bett.
Die brisante Persönlichkeitsmischung dieser drei Protagonisten in Hart auf Hart explodiert, als Adams Eltern das Haus der Großmutter verkaufen und den Sohn vor die Tür setzen. Der Junge rastet vollständig aus, flieht – nun unwiderruflich als Colter – mit seinem Schnellfeuergewehr in die Wildnis und begibt sich auf einen Rachefeldzug, der Leben kostet.
Psychogramme von Außenseitern
Boyle kratzt mal wieder den Kitt aus den Fugen der Gesellschaft. Alle drei Hauptfiguren fühlen sich ungerecht behandelt von ihrer Nation. Vater Sten hadert nämlich noch immer mit seinen Erlebnissen während des Kriegseinsatzes in Vietnam und der Behandlung, die heimkehrende Soldaten in Amerika erdulden mussten. Er reagiert oft aufbrausend und unkontrollierbar wütend. Und doch hat er resigniert. Er weiß, dass er weder etwas gegen die mexikanischen Drogenbanden in den kalifornischen Wäldern tun kann, noch dem eigenen Altern etwas entgegenzusetzen hat.
Radikale Wut
Diese Wut hat sein Sohn Adam wohl geerbt. Von Resignation ist der allerdings weit entfernt. Schließlich ist er ja kein Geringerer als Colter, ein durchtrainierter Held der Freiheit, der es all dem lebensunwerten Gesindel um ihn herum schon noch zeigen wird! Dass er sich dabei hoffnungslos verrannt hat, wird ihm selbst nur in kurzen klaren Momenten und auch dann bloß ansatzweise klar. Tatsächlich ist Adam alkohol- und drogenabhängig. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis der junge Radikale dank seiner Selbstüberschätzung und seiner absurden Ausraster kollossal scheitern wird.
Ich weiß natürlich, dass der Roman längst vor Donald Trumps Regierungszeit entstanden ist. Aber ich kann mich trotzdem eines Gedankens nicht erwehren. Während meines zweiten Lektüreanlaufes hatte ich bei Adam „Colter“ Stensen immer wieder das Bild des „Büffelmannes“ Jacob Chansley im Kopf, der beim Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 zu medialer Berühmtheit gelangte.
Freie Amerikanerin
Von den Dreien am besten gefällt mir die Figur der Sara. Die kann zwar auch in Wut brennen – und zwar immer dann, wenn ihre selbstgewählten Rechte als sovereign citizen beschnitten werden sollen. Dann beschimpft sie Polizisten, die in ihren Augen bloß Männer „in einer Halloweenverkleidung“ (S. 74) sind, und brüllt „DZN – Drohung, Zwang, Nötigung“ bis sie mal wieder im Knast landet.
DZN — oder TDC, wie es in den USA heißt, ist übrigens ein Akronym, mit dem US-amerikanische Reichsbürger Dokumente unterschreiben, wenn sie sich dazu gezwungen fühlen. Der Zusatz TDC – threat, duress, coercion, also Drohung, Nötigung, Zwang – soll verhindern, dass mit ihrer Unterschrift ein gültiger Vertrag mit der verhassten Illegitimen Regierung zustande kommt.
Sara ist zwar vorbildlich indoktriniert, aber ihr geistiger Vater T. C. Boyle kann es sich nicht verkneifen, die Inkonsequenz der Frau herauszuarbeiten. Einerseits zwar verweigert sie dem Staat Steuerzahlungen, akzeptiert keine der für alle geltenden Regeln. Doch andererseits nutzt sie ganz selbstverständlich alles, was ihr die Gesellschaft zu bieten hat: Infrastruktur, Vergnügungs-, Konsummöglichkeiten.
Erfolgsrezept
Wieder einmal ist es eine pure Freude zu lesen, mit welcher Liebe zum Detail T. C. Boyle die Gesellschaft beschreibt, in der er lebt.
Die acht Teilnehmer [Anm.: der Versammlung] waren allesamt Männer gewesen, mit Ausnahme von Susan Burton, die den Coffee Shop in der Main Street hatte und alle Initiativen unterstützte, deren Ziel es war, irgendwas zu retten, seien es streunende Katzen, rumänische Waisenkinder oder die Erde, auf der man stand, das Wasser, das man trank, und die Luft, die man atmete.
(Seite 249)
Auch die Hauptfiguren der Romanerzählung bekommen ihr Fett weg. Seine Sara beschreibt Boyle unverkennbar als Rosinenpickerin. Und sobald man das erkennt, versteht man auch, was der Autor von solchen Parallelstrukturen in der Gesellschaft hält. Denn was unweigerlich passieren muss, wenn „Wutbürger, die gegen die gesamte Gesellschaft antreten“ (FAZ, 2015), irgendwann einen Schritt zu weit gehen, das macht Boyle in seiner Geschichte unmissverständlich klar.
Nebenbei webt der Autor noch die mehr oder weniger verbürgte Legende von John Colter in die Erzählung hinein. Immer wieder berichtet Adam von den mythischen Erlebnissen des Trappers, etwa von dessen Rennen um Leben und Tod mit den Kriegern der Blackfoot-Indianer. Dadurch baut Boyle ein Kontrastprogramm auf zwischen Leistungen früher Helden der Besiedlungsgeschichte des Kontinents und den verqueren Vorstellungen selbsternannter Helden moderner Zeiten.
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Wer diese Rezension gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind.
Fazit:
Mit Hart auf Hart hat T. C. Boyle vor sieben Jahren eine überdurchschnittlich spannende Erzählung abgeliefert, die über die Jahre hinweg sogar noch an Aktualität hinzu gewonnen hat. Nicht zuletzt mit den Maßnahmen, die gegen die Ausbreitung des Coronavirus einher gingen, sagen sich immer mehr Menschen von der Gesellschaft los, in der sie trotzdem weiterhin leben. Zwangsläufig bekommen wir es mit immer mehr Saras und letztlich wohl auch Adams zu tun. Die Polarisierung nimmt zu, das Miteinander kippt.
Für seine so besonders weitsichtige Geschichte kann ich Boyle nicht weniger als vier von den fünf möglichen Sternen verleihen. Der Roman ist allen Leser¦innen wärmstens zu empfehlen, die Lust auf eine rasante Story haben, die darüber hinaus noch einen dunklen Schatten auf die Entwicklung unserer Gesellschaften wirft.
T. C. Boyle: The Harder They Come | Hart auf Hart
🇺🇸 Ecco Press, 2015
Carl Hanser Verlag, 2015
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