Die Erstauflage von Aldous Huxleys Klassiker Schöne Neue Welt wurde im Jahr 1932 auf englisch veröffentlicht. Die Literaturinstitution Modern Library wählte den Roman 1998 auf Platz fünf der besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts. Der andere große dystopische Klassiker der Epoche, 1984 von George Orwell, erschien siebzehn Jahre später und belegt Platz 13 dieser Bestenliste. Wer so wie ich die Brave New World noch in einer zerschlissenen Schulausgabe im Regal stehen hat, wird sich wahrscheinlich über die in einer Sonderausgabe erschienenen prächtig aufgemachten und illustrierten Neuauflage in deutscher Sprache und in klassischer Fadenheftung freuen. Eine Ausgabe für die Ewigkeit.
Der Titel der Erzählung bezieht sich übrigens auf William Shakespeares Bühnendrama Der Sturm und reiht sich somit nahtlos an meine vorangegangene Buchbesprechung von Margaret Atwoods Hexensaat an.
„O, Wunder! Wie viele herrliche Geschöpfe es hier gibt! Wie schön der Mensch ist! O schöne neue Welt, die solche Bürger trägt!“
(Miranda, als sie auf ihrer einsamen Insel die Bekanntschaft der Schiffbrüchigen macht)
Worum es geht
Huxley beschreibt in seinem Roman eine Gesellschaft um das Jahr 2500 unserer Zeitrechnung. Es soll die beste aller vorstellbaren Welten sein: Denn alle Menschen gehören einer von fünf Kasten an, die nach dem griechischen Alphabet benannt sind, von Alpha bis Epsilon. Alphas sind Führungspersonen, Epsilons niedrige Dienstleister. Die Zuteilung zu den Kasten erfolgt durch vorgeburtliche biologische Einwirkung und postnatale Konditionierung. Doch egal, welcher Kaste man angehört, jedermann ist glücklich mit und stolz auf seine Zugehörigkeit. Um Störungen dieses austarierten Systems zu vermeiden, werden Individualität fördernde Konzepte eliminiert und bleiben verboten: etwa Naturverbundenheit, Liebe, Partnerschaft und Familie, Religion oder Erinnerung an die Vergangenheit.
Wer mehr Details über Inhalt und Rezeption des Klassikers erfahren möchte, kann mit einem Klick auf den folgenden Link eine ausführliche Zusammenfassung sichtbar machen. Denn danach – in meiner eigentlichen Besprechung – soll es in erster Linie um gestalterische Aspekte und um die Übersetzung der Neuauflage von 2020 gehen.
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Zeitgeschichtliche Einordnung
Die Romanhandlung spielt im fiktiven Jahr 632n.F. Dabei steht die Abkürzung „n.F.“ für „nach Ford“. Denn in jener Zukunft rechnet die Menschheit längst nicht mehr in Jahren nach Christi Geburt, sondern in Jahren nach Henry Ford. Jenem Henry Ford nämlich, der mit seiner „Tin Lizzie“, dem Ford Modell T, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Ära der Fließbandarbeit in der Schönen Neuen Welt einläutete. Je nachdem, ob man als konkretes Bezugsjahr nun die Geburt Henry Fords selbst (1863) oder die seines emblematischen Automobils (1908) annimmt, ergibt sich also für dieses Jahr 632n.F. in unserer gegenwärtigen Zeitrechnung als Äquivalent 2495 oder 2540n.Chr.
In dieser fernen Zukunft lebt die Menschheit bereits seit Jahrhunderten in einem Weltstaat, der von ausgesuchten Führungspersönlichkeiten gesteuert wird. Wie war es dazu gekommen?
Der neunjährige Krieg
„Der neunjährige Krieg begann 141n.F.“ […] Anthraxbomben am Kurfürstenplatz und im achten Arrondissement […] Der neunjährige Krieg, der Große Wirtschaftskollaps. Man hatte die Wahl zwischen Weltkontrolle und Untergang. […] Regieren ist eine Frage des Sitzfleisches, nicht des Handstreichs, man regiert mit Hirn und Hintern, nicht Hauruck. […] In Verbindung mit einer Kampagne gegen die Vergangenheit, mit der Schließung der Museen […] mit der Unterdrückung aller vor dem Stichtag 150n.F. veröffentlichten Bücher.“
(Textfragmente, die in die Romanhandlung eingestreut sind, Seiten 60 bis 64)
Die neuen Machthaber nutzen also die Gunst der Stunde nach einer vollkommenen gesellschaftlichen und infrastrukturellen Zerstörung in Folge eines desaströsen Dritten Weltkrieges, ihre Vision eines stabilen Weltstaates langsam aber unbeirrbar umzusetzen: nicht mittels Zwang sondern durch Verführung.
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Ziel und Methoden des Weltstaates
„Stabilität“, betonte der Controller, „Stabilität. Das erste und oberste Gebot. Stabilität. Daher dies alles.“
(Mustapha Mond, Seite 55)
Die Machthaber des neuen Systems nach dem Großen Kollaps, in der Übersetzung „Controller“ genannt, setzen ihr Stabilitätsziel mit einigen wenigen rigorosen Maßnahmen durch, die allerdings das Leben der Menschen exorbitant umgestalten:
1. Die Struktur der Menschheit
wird neu organisiert: Es gibt fünf Kasten, die nach dem griechischen Alphabet benannte werden. Alphas stellen die neuen Führer. Am anderen Ende der Skala sind Epsilons für die niedrigsten gesellschaftlichen Dienstleistungen vorgesehen. Damit in keiner der Kasten Mangel oder Überangebot an Personal herrscht, wird eine drastische Geburtenplanung eingeführt.
Fortpflanzung nach herkömmlichem biologischen Prinzip gibt es nicht mehr. Statt dessen werden weibliche Eizellen in-vitro mit männlichen Spermien befruchtet und je nach Bedarf gezüchtet. Künftige Angehörige niedriger Kasten werden geklont, um die notwendige Personalmenge zu gewährleisten, und vorgeburtlich vergiftet, um ihre Intelligenz zu reduzieren. Alphas und Betas hingegen werden in ihrer Entwicklung gefördert.
Mit dieser Geburtenplanung einher gehen die Abschaffung von Elternschaft und Familie, von sozialen Beziehungsgeflechten wie dauerhafte Partnerschaften, Religion und Interessengemeinschaften.
2. Menschliche Individualität
wird unterdrückt: Die eben genannten fehlenden zwischenmenschlichen Beziehungen individueller Art werden ersetzt durch Triebbefriedigung auf verschiedenen Ebenen. „Jeder gehört jedem“, freie Liebe; denn wer zu oft mit dem selben pennt, gehört nicht etwa zum Establishment sondern verstößt gegen gesellschaftliche Benimmregeln.
Der zweite Grundsatz für alle dieser schönen neuen Menschen lautet: Konsum. Besorge Dir das, was auch alle anderen toll finden. Verbringe Deine Freizeit mit angesagten Aktivitäten („Fühlkino“, Sportparks). Und verbringe keinesfalls Zeit alleine, damit Du nicht ins Nachdenken und dabei womöglich auf dumme Idee kommst!
3. Die Selbstverortung des Menschen
wird unterbunden: Es gibt keine Möglichkeiten mehr, eigene Gedanken in Zusammenhang mit dem Ideenpool der gesamten Menschheit zu bringen. Denn es gibt keine zugängliche historische Literatur, keine Museen, keine Geschichtsschreibung mehr, mit deren Hilfe der Mensch eigene Gedanken oder Verdachtsmomente überprüfen könnte.
Jedes Individuum bleibt stets zurückgeworfen auf die Vorgaben des Regimes, ohne die Möglichkeit, diese in Vergleich zu setzen zu Initiativen, die womöglich andere schon zuvor angedacht hatten. Es gibt keinerlei Anregungen zu alternativen Gedanken.
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Das Leben in der Schönen Neuen Welt
Zu den geschilderten Methoden des Machtgefüges gehört auch der Wechsel von religiösen Leitfiguren hin zum Erneuerer der weltlichen Glaubenssätze, zu Henry Ford. Das christliche Kreuz etwa wird amputiert und zum T, als Symbol für seine ultimative Errungenschaft, das Automobilmodell T. Und an Stelle des bekannten Stoßseufzers „ogottogott“ stoßen die Menschen nun den Einwurf „ofordoford“ aus. Dies geschieht vor allem dann, wenn sie mit schier unglaublichen Schauergeschichten aus der finsteren Vergangenheit konfrontiert werden; etwa mit dem verklemmten Umgang mit Sexualität oder der üblichen Kindheit im Familienverband mit Vater, Mutter und Geschwistern. – Ofordoford!
In der neuen Welt verbringt der Mensch sein Leben im Kontakt mit Seinesgleichen, also innerhalb der eigenen Kaste. Einzige Ausnahme im Roman: Alphas verkehren auch mit Betas. Das liegt in erster Linie daran, dass es nach streng patriarchalischem Muster keine Alphafrauen gibt. Die Kontrolle der Welt liegt ausschließlich in Männerhand1.
Doch auf welcher Kastenebene auch immer, der Unterschied zwischen Pflichten und Vergnügen ist glatt gebügelt. Die Menschen erledigen mit Freude und Erfüllung ihre Aufgaben und verbringen ihre Freizeit ebenso freudig mit Konsum: Reisen, Sport, Kino und Sex mit ständig wechselnden Partnern1. Das alles ist ihnen Vergnügen und Verpflichtung zugleich. Niemand denkt über diese unreflektierte, bequeme Lebensweise nach.
Das Leben zieht in beschwerdefreier Monotonie vorüber. Krankheiten und Alter spielen keine Rolle mehr. Erwachsene verändern sich bis in ihre Sechziger so gut wie überhaupt nicht. Und dann dämmern sie sediert in Hospizen in den Tod.
Und wenn wir schon von sedieren sprechen: Für alle Momente persönlicher Krisen erhalten die Bürger des Weltstaates ganz offiziell ein Beruhigungsmittel namens Soma, das wie eine Droge wirkt, aber keine bösen Nachwirkungen mit sich bringt. Mit Soma lässt sich alles Negative wegbügeln.
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1) Einschub: Bedeutung von „pneumatisch“ in der Schönen Neuen Welt
Insbesondere in Bezug auf Frauen verwendet Huxley im Roman häufig die ungewöhnliche und unerklärte Qualifikation „pneumatisch“, im englischen Original tatsächlich pneumatic. Die technische Bedeutung des Wortes, „druckluftbetätigt“, ist wohl kaum relevant in diesem Zusammenhang. Im spirituellen Kontext könnte es im Sinne von „erfüllt von Pneuma“ ein Kompliment an die Persönlichkeit einer Frau sein. Ich befürchte allerdings, „pneumatisch“ ist hier ein bewusst entmenschlichend gemeinter Begriff für üppige Körperformen:
Als Leninas Sexualpartner, Henry Foster, sie gegenüber dem Stellvertretenden Prädestinator beschreibt, ist das als Kompliment gemeint. „Aber ja, sie ist ein prächtiges Mädchen. Wunderbar pneumatisch. Ich staune, dass Sie sie noch nicht hatten.“ Andere Frauen werden im Vergleich mit ihr zwar als wunderbare Menschen bezeichnet, aber eben weniger pneumatisch als Lenina. […] Grundsätzlich ist pneumatisch also eine gute Eigenschaft, aber offensichtlich kann man auch zu viel des Guten davon haben. Höchstwahrscheinlich bezieht sich „pneumatisch“ auf die weibliche Brustgröße.
(study.com: Meaning of Pneumatic in Brave New World)
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Die Schatten der Vergangenheit
Ist also alles eitel Sonnenschein in der Schönen Neuen Welt? – Nein. Wenn nämlich die Soma-Sedierung versagt und einzelne Individuen heftig aufbegehren, werden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Menschen, die sich nicht integrieren lassen wollten, leben in sogenannten Reservaten. Ohne die technischen und medizinischen Errungenschaften des Weltstaates, nach den Bedingungen der alten Welt. Mit Schmutz, Krankheit, Alter, körperlicher Fortpflanzung, Religionen und all dem, was unsere heutige Gesellschaft noch ausmacht. Reservate sind von Elektrozäunen umgeben, ihre Bewohner haben keinen Zutritt zur Schönen Neuen Welt.
Gefügige Weltstaatsbewohner können die Reservate besuchen, um dort das Gruseln zu lernen. Und genau an dieser Schnittstelle zwischen den Welten entsteht die sehr, sehr knappe tatsächliche Handlung der Romangeschichte.
Reservatsbesuch
Der Alpha-Mann Bernard und seine Beta-Begleiterin Lenina statten einem der Reservate eine Kurzvisite ab. Dort entdecken sie einen jungen Mann namens John und dessen Mutter, die viele Jahre zuvor selbst eine Beta gewesen war, jedoch bei einem Reservatsbesuch verunglückte und dort zurückgelassen wurde. Zu allem Unglück war sie schwanger von ihrem damaligen Alpha-Begleiter. John wurde also als Sohn zweier Weltstaatsbürger im Reservat geboren; ein Skandal sondergleichen!
Bernard gelingt es, die Machthaber zu überzeugen, John und der Mutter die Ausreise aus dem Reservat zu erlauben. Der Wilde, John Savage, erregt Aufsehen in der Schönen Neuen Welt. Etwa in der Art eines Tarzans, der aus seiner Welt gerissen und in London wie ein wildes Tier der Gesellschaft präsentiert wird.
Clash der Kulturen
Dieser John Savage war im Reservat an eine uralte Shakespeare-Ausgabe gekommen und hatte sich selbst eine gewisse Bildung angelesen. Er weckt damit das Interesse des Weltcontrollers Mustapha Mond. Es kommt zum Streitgespräch zwischen dem Wilden und Mond. In diesem Gespräch erfährt nicht nur John sondern auch die Leserschaft, wieso die Menschheit zu dem entwickelt wurde, was sie nun ist. John Savage hingegen gelingt es nicht, den Controller von der Existenzberechtigung historischer Werte zu überzeugen.
Also zieht er sich in die Einsamkeit eines unbewohnten englischen Küstenstrichs zurück, um dort als Einsiedler zu leben. Denn mit der Schönen Neuen Welt kann er sich seinerseits auch nicht anfreunden. Zu fremd ist ihm diese Welt, zu fremd ihre Regeln. Hinzu kommt noch eine zum Scheitern verurteilte Liebe zu Lenina, der Frau, die ihm im Reservat begegnet war. Letztlich erhängt sich John in einem Akt der Verzweiflung und Resignation.
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Rezeption des Romans
Welchen Stellenwert literarische Institutionen dem bekanntesten Roman Huxleys beimessen, wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass er seit einem Vierteljahrhundert auf Platz fünf der besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts steht. (Siehe Einleitung ganz oben.)
In den Jahrzehnten nach seinem Erscheinen wurde Aldous Huxleys utopische Geschichte übrigens beileibe nicht von allen als Negativbeispiel, also als Dystopie, empfunden. Für viele stellte das sorgen- und krankheitsfreie, unbeschwerte Leben in der Schönen Neuen Welt durchaus eine paradiesische Vorstellung dar.
Fest steht, dass der Autor mit seiner Erzählung eine Menge anderer Schriftsteller dazu brachte, eigene Utopien zur Zukunft der Menschheit aufzustellen. Der letzte, der sich direkt auf Huxley berief, war im Jahr 1998 Michel Houellebecq, der in seinem Skandalroman Elementarteilchen der Schönen Neuen Welt bescheinigt, sich als „unglaublich zutreffend“ erwiesen zu haben. (Quelle: DIE ZEIT, Korrekturen an der Schönen Neuen Welt, 1999)
Aus aktueller Sicht
So manchem/r Leser¦in der Geschichte mag sich angesichts des derzeit eskalierenden Russisch-Ukrainischen Krieges das Nackenhaar aufstellen. Denn dieses huxleysche Jahr 141n.F., also das Jahr des neunjährigen Dritten Weltkrieges, entspricht doch etwa unserem 2050. Die kriegerischen Ereignisse, die im Roman als Auslöser zu dem schrecklich schönen Weltstaat führten, sind also gar nicht so weit entfernt vom aktuellen Jetzt und Heute.
Ich höre schon das Raunen der Anhänger von Verschwörungstheorien: Bereits vor hundert Jahren wusste Aldous Huxley mehr als der Rest der Schlafschafe. Und er wusste auch, wie alles enden wird! Bei solcher Argumentation muss ich allerdings – mit Verlaub – erst mal entnervt durchatmen.
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Gestaltung der Sonderausgabe
Schöne neue Welt, schöne neue Ausgabe! – Bereits im März 2014, kurz nach dem fünfzigsten Todestag des Autors, erschien im Fischer Verlag die Neuübersetzung des Originals von Uda Strätling. Sechs Jahre später, im September 2020, schob der Verlag eine illustrierte Sonderausgabe nach. Die Gestaltung des Buchcovers und der gut dreißig Abbildungen im Innenteil übernahm der Grafikdesigner und Comiczeichner Reinhard Kleist. Davon abgesehen beachte man aber bitte auch unbedingt die klassische Fadenheftung, die auf vielen der folgenden Abbildungen gut erkennbar ist.
Abb. 1: Englische Ausgabe, 1955 (Reprint 1976) vs. deutsche Sonderausgabe, 2020
Abb. 2: Textsatz in Fourier (1976) vs. Rotis Serif (2020)
Abb. 3: Illustration Innenseiten der Buchdeckel, geklonte Zukunft?
Abb. 4, 5: Kapitelillustrationen des ersten und letzten Kapitels
Abb. 6: Smarte Klone, Seite 227
Abb. 7: HelikopTer über London, Seite 77
Abb. 8: Mustapha Mond und John Savage, Seite 281
(Alle Abbildungen sind von mir selbst erstellte und betitelte Bildzitate nach §51 Ziff. 1 UrhG der besprochenen Ausgabe des Fischer Verlags aus dem Jahr 2020. Die Rechte an Originalgrafiken, die Teile der Abbildungen 3 bis 8 sind, liegen bei Reinhard Kleist.)
Illustrationen
Der im nordrhein-westfälischen Hürth geborene Reinhard Kleist wurde besonders durch seine grafischen Biografien bekannt. Als Beispiele hierfür mögen seine Werke über H.P. Lovecraft, Johnny Cash, Elvis Presley, Fidel Castro und Nick Cave dienen. Im Alter von fünfzig Jahren lieferte er die Illustrationen für die Schöne Neue Welt ab.
Der Stil des Comiczeichners ist geprägt von kräftigen, fließenden Linien und kontrastreichen Schatten. Seine Zeichnungen wirken atmosphärisch, die Figuren karikaturhaft überzeichnet. Die holzschnittartigen Illustrationen in der Schönen neuen Welt sind größtenteils koloriert. Dabei setzt Kleist wenig gesättigte, dunkle Farbtöne ein. Dadurch entstehen im Zusammenwirken mit den starken Kontrasten düster wirkende, beklemmende Bilder. (Siehe Beispielbilder in der Fotogalerie oberhalb dieses Abschnitts.)
Die Abbildungen des Buches
Jedes der achtzehn Kapitel wird von einer briefmarkengroßen Kopfabbildung eingeleitet. Sie zeigen Szenen aus dem menschlichen Entwicklungsprozess der schönen neuen Bevölkerung der Erde; nämlich von der In-vitro-Fertilisation bis hin zu Szenen aus dem Leben nach der Geburt, die in der Übersetzung „Dekantierung“ genannt wird. (Siehe Abbildungen 4 und 5.) In den Text eingestreut finden sich darüber hinaus weitere dreizehn ganzseitige Abbildungen, die die Romanhandlung illustrieren. (Siehe Abbildungen 6 bis 8.)
Die Menschen, die die Schöne Neue Welt bewohnen, hat Kleist in Einheitskleidung dargestellt. Es handelt sich dabei um eine Art Uniform im Stile von Michelin-Männchen, die auf den Abbildungen gut zu erkennen ist. Mich erinnert diese Darstellung an die derzeit modernen Polsterjacken mit horizontalen Steppnähten, in der gerade drei Viertel der Menschheit herumzulaufen scheinen. Perfekt zu dieser aktuellen Modeerscheinung passen die Smartphones, mit denen der Zeichner viele seiner klonhaften Zukunftsmenschen ausstattet. Denn mit derlei Stilelementen gelingt es ihm sozusagen durch die Hintertüre, die Handlung aus dem 26. Jahrhundert in die Jetztzeit zu projizieren. Sind wir womöglich schon so weit? Leben wir nicht alle bereits an der Schwelle zur dystopischen Vision der menschlichen Zukunft, die Huxley vor neunzig Jahren als Schreckensszenario heraufbeschworen hat?
Zweifellos ist Reinhard Kleist eine raffinierte, dramatische Bebilderung der schauerlichen Zukunftsspekulation Aldous Huxleys gelungen. Seine Illustration verleiht der Geschichte aus dem vergangenen Jahrhundert eine überraschend aktuelle Note.
Typografie
Gesetzt ist der Fließtext der 2020er Sonderausgabe in einer Variante der Schriftart Rotis Serif, die Otl Aicher (Erfinder der Logos von Sparkasse und Lufthansa, Gestalter der Olympia-Piktogramme 1972) erstmals im Jahr 1988 entworfen hat und die das Unternehmen Monotype Imaging herausgibt. Die Rotis gilt unter Fachleuten als umstritten: Das Schriftbild wirke nämlich bei größeren Textmengen unruhig und flimmere auf hellem Papier, heißt es. Daher wird sie bevorzugt im Überschriftenbereich oder in der Logo-Typografie verwendet. Doch im kulturellen und künstlerischen Bereich wird sie gelegentlich – wie eben auch hier – als Brotschrift eingesetzt. (Siehe Abbildung 2 in der Bildergalerie oben.)
Zur Übersetzung
Erstmals ins Deutsche übersetzt wurde der Roman noch im Erscheinungsjahr 1932 durch den Österreicher Herberth Herlitschka. Dieser Herlitschka hat mehrere der Werke Huxleys übersetzt, und seine deutsche Version der Schönen Neuen Welt wurde durch den Autor selbst authorisiert. Dies ist insofern bemerkenswert, als es sich nicht nur um eine bloße Übersetzung handelte sondern um eine vollständige Überführung in eine deutsche Rahmenumgebung: Denn der Übersetzer verlegte die Handlung von London nach Berlin. Auch viele Figuren wurden eingedeutscht. Aus Mustapha Mond wurde beispielsweise Mustafa Mannesmann, aus John Savage ein deutscher Michel. Der „Religionsstifter“ Henry Ford blieb allerdings auch bei Herlitschka mit seinem Namen bestehen.
Eine solche Ummünzung auf deutsche Rahmenbedingungen mochte im damaligen gesellschaftspolitischen Umfeld nicht nur sinnvoll sondern gar unumgänglich gewesen sein. Aber dennoch wurde der Roman schon 1933 von den Nazis auf die Liste verbotener Schriften gesetzt.
Zweite Übersetzung
Im Jahr 1978 erschien im damaligen DDR-Verlag Das Neue Berlin eine zweite Übersetzung ins Deutsche. Übersetzerin war Eva Walch, die in ihrer Version wieder auf Originalschauplätze und die originalen Personennamen zurückgriff. Doch auch nach dieser Veröffentlichung erschienen weitere deutsche Publikationen der alten Herlitschka-Version. Eine aktuelle Übersetzung war wohl überfällig.
Dritte aktuelle Übersetzung
Uda Strätling wurde 1954 in Bonn geboren und ist freiberufliche Literaturübersetzerin aus dem Englischen. Sie wuchs in den USA, Rumänien und Afrika auf. Später studierte Strätling Publizistik, Soziologie und Linguistik in München. Heute lebt sie in Hamburg.
Ihre deutsche Interpretation des Romans wurde zur Frankfurter Buchmesse des Jahres 2013 vorgestellt. Rezensenten bescheinigten damals der Übersetzerin, Huxleys Text „mit Bravour neu ins Deutsche übertragen“ zu haben (Pieke Biermann, Deutschlandradio Kultur, 24.10.2013). „Uda Strätling hat sein Zukunftswerk neu übersetzt – und zwar genau so, wie der Visionär ihn damals im Original geschrieben hat“, stellte der Österreichischer Rundfunk, ORF.at, am 16.12.2013 fest. Und René Oth lobte am 12.11.2013 im Tageblatt „Uda Strätling […], die sich voll auf den spöttischen Witz und die visionäre Kraft der Sprache Huxleys konzentriert“.
Wie schon Eva Walch vor ihr, übernahm auch Strätling die englischen Originalnamen des Personals der Geschichte: Michel heißt also wieder John, Mustafa Mannesmann wieder Mustapha Mond. Außerdem modernisierte sie den Wortschatz der Übersetzung. Besonders gefallen hat mir der Begriff „Dekantierung“ für die Geburt nach dem Austragen der menschlichen Embryos in gläsernen Karaffen. So, als ob es sich um die Vorbereitungen zum Genuss wertvoller Weine handelte.
Die Übersetzung des Wahlspruchs des Weltstaates ist gleichfalls neu und lautet nun „Kollektivität, Identität, Stabilität“ statt „Gemeinschaft, Einheitlichkeit, Beständigkeit“. Ein sarkastischer Kontrast zu „Einigkeit und Recht und Freiheit“ aus dem Lied der Deutschen. Oder zu „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, dem Motto der Französischen Republik.
Anmerkungen der Übersetzerin
In ihren gut zwanzig Seiten langen Anmerkungen am Ende der Ausgabe bietet Uda Strätling einen sehr interessanten Einblick in Fragestellungen, die im Verlauf der Übersetzung auftraten. Jeder Hinweis ist dort mir der Seitenzahl versehen, auf die er sich bezieht. Wir erfahren zum Beispiel, wieso in aller Welt das englische „brave“ mit „schön“ übersetzt wird und warum die Adjektive im Titel beide großgeschrieben werden. Auch zu den Eigennamen des Romanpersonals und zu verschiedenen technischen Bezeichnungen erfahren wir Wundersames.
Man sollte sich unbedingt die Zeit nehmen, während der Lektüre immer mal wieder nach hinten zu blättern. Denn dann liest man den Roman womöglich mit ganz anderen Augen. Eine wahre Fundgrube für alle, die sich für die Geschichte hinter der Geschichte interessieren!
Huxleys berüchtigtes Vorwort
Vierzehn Jahre nach der Veröffentlichung setzte der Autor seinem Roman ein Vorwort voran, in dem er sich selbstkritisch mit seiner Geschichte beschäftigte. Dieses Vorwort ist seither üblicherweise Bestandteil aller späteren Ausgaben.
Als literarisches Werk weist sie erhebliche Mängel auf, doch um sie zu beheben, müsste ich das Buch noch einmal schreiben – und als ältere und andere Person würde ich dabei vermutlich nicht nur einige Formfehler, sondern auch manchen Vorzug tilgen, den sie ursprünglich gehabt haben mag.
(Seite 316)
Uda Strätling packt das Vorwort in ihrer Übersetzung dorthin, wo es auch meiner Meinung nach hingehört: nämlich nach den Schlusspunkt der Romangeschichte. (Siehe auch Abbildung 2). Denn wer möchte schon vor der Lektüre vorgebetet bekommen, was der Autor glaubt, falsch gemacht zu haben. Als Nachwort ist dieses ehemalige Vorwort tatsächlich wesentlich sinnvoller.
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Fazit:
Dem Fischer Verlag ist eine höchst bemerkenswerte Neuauflage eines literarischen Evergreens gelungen. Die Schöne Neue Welt von Aldous Huxley erblüht nämlich in einer opulenten Pracht, in der die Illustrationen Reinhard Kleists der Erzählung nicht nur ein Gesicht geben. Denn seine Zeichnungen sorgen auch dafür, dass die Dystopie mit einem Mal nicht in einer fernen Zukunft spielt, sondern in unsere Gegenwart gezogen wird. Auch die Übersetzung ins Deutsche trägt dazu bei, der fast hundert Jahre alten Geschichte Aktualität zu verleihen.
Einer unbebilderten Variante der Neuauflage würde ich auf jeden Fall vier von fünf möglichen Sternen zugestehen. Auch wenn die ursprüngliche Romangeschichte selbst durchaus ihre Schwächen haben mag. Doch die illustrierte Fassung setzt noch einen drauf. Diese Bearbeitung hat sich mit Bravour nicht weniger als die volle Sternezahl verdient.
Aldous Leonard Huxley: Schöne Neue Welt
Fischer Verlag, 2020
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