
Im Jahr 2013 kündigte Margaret Atwood an, im Rahmen des Hogarth-Shakespeare-Projekts einen Beitrag zu liefern. Drei Jahre später erschien der Roman Hag-Seed der kanadischen Schriftstellerin, zwei Jahre danach wurde die deutsche Übersetzung unter dem Titel Hexensaat aufgelegt. Darin erzählt Atwood die Geschichte des Theaterregisseurs Felix, eines gefeierten Stars, der jedoch den Intrigen seines engsten Mitarbeiters zum Opfer fällt und sich zurückzieht. Zwölf Jahre später sorgt das Schicksal dafür, dass Felix Gelegenheit zur Rache bekommt. Die Romangeschichte ist eine Adaption des Bühnendramas Der Sturm von William Shakespeare.
Bei Shakespeare wurde der Mailänder Herzog Prospero von seinem Bruder Antonio hintergangen und entmachtet. Seither lebt er mit seiner Tochter Miranda auf einer einsamen Insel. Als seine Feinde Jahre später mit dem Schiff an der Insel vorbeikommen, entfesselt Prospero mit Zauberkraft einen Sturm und lässt das Schiff mit dem König von Neapel, dessen Sohn und seinem eigenen Bruder, der ihn einst verraten hatte, auf der Insel stranden. Rache ist Blutwurst!
Wer mehr über William Shakespeares Vorlage Der Sturm erfahren möchte, kann ausführliche Details mit einem Klick auf den folgenden Link anzeigen lassen. Darunter geht es weiter mit der Romanbesprechung zur Hexensaat.
Details zu Shakespears »Der Sturm« aufklappen
Details verbergen
Prosperos Zaubermacht
Ein Schiff auf hoher See, ein gewaltiger Sturm wühlt das Meer auf. Die Besatzung hat alle Hände voll zu tun, um das Schiff vor dem Sinken zu bewahren. Mitten in diesem Chaos betreten Passagiere das Deck: Es sind Alonso, der König von Neapel, sein Bruder Sebastian und Alonsos Sohn Ferdinand. Ebenfalls an Bord sind Antonio, der aktuelle Herzog von Mailand, und Gonzalo, ein Mailänder Ratsherr. Der Bootsmann schickt die edlen Herren wieder unter Deck, wo sie darum beten sollen, nicht zu ertrinken.
„Zwölf Jahr, Miranda, sind es her, zwölf Jahre,
Da war dein Vater Mailands Herzog und
Ein mächt’ger Fürst.“
(Prospero zu Miranda)
Szenenwechsel: Von ihrer Insel aus beobachten Prospero und seine Tochter Miranda das Drama auf See. Der Vater hält den Zeitpunkt für geeignet, Miranda zu erzählen, wer sie und er wirklich sind. Denn Jahre zuvor war Prospero noch Herzog von Mailand und Miranda eine Prinzessin. Doch wegen seiner Leidenschaft für alte Bücher über Zauberkunst vernachlässigte der Herzog mehr und mehr seine Amtsgeschäfte. Prosperos Bruder Antonio nutzte die Gunst der Stunde. Er verbündete sich mit Alonso, dem König von Neapel, und griff mit dessen Hilfe Mailand an. Prospero und die kleine Miranda mussten fliehen. Nun endlich hatte ihm das Schicksal seine alten Feinde ausgeliefert.
Geister, Monster, Prinzen
Prospero hatte den Sturm durch seinen Diener, den Luftgeist Ariel, entfesseln lassen. Dieser erklärt nun, es sei alles geschehen, wie Prospero es gewünscht habe: Niemand sei verletzt, die Reisenden seien über die Insel verstreut, der Königssohn isoliert von allen anderen. Der Rest der Schiffsflotte sei weitergesegelt, überzeugt davon, das Schiff des Königs sei verloren.
Nun will der Herr der Insel mit seinem missgebildeten Sklaven Caliban dessen Aufgaben besprechen. Caliban ist übellaunig und gehorcht nur widerwillig. Miranda fürchtet das Monster, weil Caliban bereits versucht hat, sich an ihr zu vergehen, um die Insel mit lauter kleinen Calibans zu bevölkern.
Währenddessen lockt Luftgeist Ariel den umherirrenden Königssohn Ferdinand an. Als Miranda den jungen Mann sieht – den ersten Mann überhaupt seit ihrer Ankunft auf der Insel -, verliebt sie sich sofort. Prospero ist entzückt, gehört dies doch zu seinem Racheplan.
Die Schiffbrüchigen
Inzwischen irren die anderen Schiffbrüchigen über die Insel. König Alonso ist verzweifelt über den vermeintlichen Verlust seines Sohnes Ferdinand. Prosperos Bruder Antonio zeigt unterdessen sein großes Talent für Familienverrat. Er beschwätzt Sebastian, den Bruder des napoletanischen Königs, die Gelegenheit zu ergreifen, Alonso zu ermorden, um an seiner statt selbst König zu werden:
„Hier liegt Euer Bruder —
Nicht besser als die Erd‘, auf der er liegt,
Wär‘ er, was jetzt er scheinet: nämlich tot,
Den ich mit diesem will’gen Stahl, drei Zoll davon,
Zu Bett auf immer legen kann.“
(Antonio zu Sebastian)
Im letzten Moment kann Gonzalo mit Hilfe Ariels den Königsmord verhindern. Doch Sebastian und Antonio gelingt es, sich herauszureden.
Inzwischen treffen der Spaßmacher Trinculo und der Mundschenk Stephano auf den Inselsklaven Caliban. Die drei verschwören sich, Prospero zu töten, um Caliban aus dessen Dienst zu befreien und die schöne Miranda für Stephanos Bett zu gewinnen. Doch auch dieses finstere Unterfangen kann Ariel vereiteln, indem er die drei erst in die Irre und dann direkt in einen Jauchetümpel führt.
Rückkehr zum Status Quo?
Letztlich bereut der gebeutelte König Alonso die Vertreibung Prosperos, als sich dieser zu erkennen gibt. Daraufhin offenbart der Inselherrscher das junge Glück zwischen seiner Tochter Miranda und dem napoletanischen Thronfolger Ferdinand. Alonsos Freude über den wiedergefundenen Sohn und dessen zukünftige Frau ist groß, er verspricht sogar dem verstoßenen Prospero sein Herzogtum zurück.
Der rehabilitierte Prospero entlässt seinen luftigen Diener Ariel in die Freiheit, verzichtet fortan auf seine Zauberkunst und verzeiht seinen ehemaligen Feinden.
„Und am Morgen früh
Führ‘ ich Euch hin zu Schiff und so nach Napel.
Dort hab‘ ich Hoffnung, die Vermählungsfeier
Von diesen Herzgeliebten anzusehn.
Dann zieh‘ ich in mein Mailand, wo mein dritter
Gedanke soll das Grab sein.“
(Prospero zu Alonso in der Schlussszene)
Prospero als Alter Ego William Shakespears?
Häufig wird der Hintergrund des Bühnenstücks genau so kommentiert. Wie ein Theaterautor treibt Prospero die Handlung voran. Mit Hilfe seiner magischen Tricks nimmt er Einfluss auf Mensch und Umwelt innerhalb seines kleinen Inselreiches. Auch der Schluss legt diese Auslegung nahe: Prospero tritt aus dem Stück heraus, wendet sich direkt ans Publikum und bittet um dessen Gunst. Damit endet das Theaterstück, Shakespeare lässt offen, ob sich tatsächlich alles zum Guten wendet, oder ob die Seereise nach Neapel doch noch andere Schicksale bereit halten wird.
König James I., unter dessen Regentschaft Der Sturm uraufgeführt wurde, war sehr an Übersinnlichem interessiert. Dieses Interesse wurzelte vermutlich in seiner Reise nach Dänemark, wo er sich 1589 mit Anna von Dänemark vermählte. Das Paar geriet danach auf See in einen heftigen Sturm. Die Initiatoren der Hexenprozesse von North Berwick in Schottland schrieben diesen Sturm dem Werk von Hexen zu. Während dieser Prozesse wurden mehr als hundert vermeintliche Hexen gefoltert und getötet. James I. selbst übernahm die Befragung der Hauptverdächtigen.
~
Details zu Shakespeares »Der Sturm« einklappen
Der Sturm bei Margaret Atwood
Die kanadische First Lady der Literatur (83), Friedenspreis- und Bundesverdienstkreuzinhaberin verarbeitet in ihrem Roman das Grundthema Shakespeares (geputschter Machthaber flieht, wartet über ein Jahrzehnt lang auf eine Gelegenheit zur Rache, führt diese minutiös durch, aber verzeiht schließlich seinen Feinden) gleich dreifach, raffiniert ineinander verschachtelt.
1. Ebene: Die Romangeschichte
Felix Phillips ist ein angesehener Theatermacher, künstlerischer Direktor des bekannten Festivals im kanadischen Städtchen Makeshiweg. Er ist berühmt oder gar berüchtigt für seine gewagten aber immer unterhaltsamen Shakespeare-Inszenierungen. Nebenbei angemerkt: Der fiktive Ort Makeshiweg steht im Roman wohl für die real existierende Stadt Stratford in der Provinz Ontario, die 150 Meilen nordöstlich von Detroit liegt. Das Stratford Festival-Theater gilt in ganz Nordamerika als Shakespeare-Kultstätte.
Doch nicht alles in Felix‘ Leben ist eitel Sonnenschein. Denn nach einer späten Heirat und der Geburt einer Tochter, die er auf den Namen Miranda tauft, stirbt erst die Ehefrau und drei Jahre später auch noch Miranda. Trost findet Felix nur in seiner Theaterarbeit, er ergibt sich dem Zauber seiner Bühnenschöpfungen. Dabei aber vernachlässigt er das unabdingbare Netzwerken, ohne das Theaterproduktionen nicht bestehen können. Solche ungeliebten Aufgaben delegiert Felix lieber an seine rechte Hand, Anthony Price.
Doch dieser Handlanger erkennt die Schwäche seines Vorgesetzten. Tony verbündet sich mit dem Minister für Kultur- und Denkmalpflege, Sal O’Nally. Ausgerechnet als Felix Shakespeares Sturm auf die Bühne bringen will, schasst das Festival-Präsidium seinen Direktor und setzt an seiner Stelle Tony ein.
Da haben wir sie also, die drei Protagonisten der Vorgeschichte des Sturms: Prospero Felix wird von seinem Bruder/Mitarbeiter Antonio mit der Hilfe von Sal, alias Alfonso, vertrieben. Im Alter von fünfzig Jahren bricht er alle Brücken ab und flieht in die Bedeutungslosigkeit. In seinem Gepäck: Sehnsucht nach Rache und seine Tochter Miranda, deren Geist auch nach ihrem Tod den Vater durch den gesamten Roman begleitet.
2. Ebene: Theaterprojekt im Strafvollzug
Vom Theater lassen kann Felix trotz allem nicht. Im neunten Jahr seines Exils nimmt er unter dem Pseudonym Mr. Duke, oder „Herr Herzog“, einen schlecht bezahlten und wenig prestigeträchtigen Teilzeitjob an. Der ehemalige Theaterstar verdingt sich dem aus öffentlichen Mitteln finanzierten Programm „Bildung-durch-Literatur“ und studiert fortan mit den Insaßen der JVA von Fletcher County Shakespearestücke ein.
Wenn wir an den Plot von Der Sturm denken, wird es niemanden überraschen, was danach kommt. Denn das Theaterprogramm unter Mr. Dukes Leitung wird zum Erfolg und erhält auch außerhalb der Gefängnismauern von Fletcher Beachtung. Schließlich kündigen der Justizminister und der Minister für Kultur- und Denkmalpflege ihren Besuch zur nächsten Aufführung an. Dabei handelt es sich um keine Geringeren als um Sal O’Nally und Anthony Price, die Seilschaft aus Felix‘ Vergangenheit, seine alten Feinde.
Für Felix steht außer Frage: Natürlich wird er zu dieser Gelegenheit Shakespeares Sturm inszenieren und zur Aufführung bringen.
3. Ebene: Interaktives Einbeziehen der Zuschauer im Theaterprojekt
Am Tag der Aufführung bringt Felix die prominenten Besucher der Vorführung und gleichzeitig seine alten Widersacher mit Hilfe der gesetzlosen Theatertruppe in seine Gewalt, zwingt sie mit allerlei Tricks in die Shakespearerollen Antonios und Alonsos und treibt sein Rachespiel mit ihnen. Hier haben wir also die dritte Schachtelebene, in der Der Sturm in Atwoods Roman seinen Platz findet.
Erfolgsrezept
Alleine schon Idee und Ausführung des mehrfach ineinander verwobenen Shakespearethemas nötigen mir höchsten Respekt vor der schriftstellerischen Leistung Margaret Atwoods ab. Das ist zweifellos ganz großes Theater, das wir da geboten bekommen. Im wahrsten Sinne des Begriffs.
Aber sehen wir uns die Inszenierung einmal genauer an. Die Adaption des Prospero alias Felix Phillips als Protagonist ist ein wahres Schmankerl. Da stimmt einfach alles. Sogar die Figur der Miranda in diesem Part hat Atwood makellos integriert. Das Mädchen existiert zwar nur mehr in der Fantasie Felix‘, wirkt aber dennoch steuernd und korrigierend auf die Vaterfigur ein. Auf andere Weise hätte diese Miranda keinen stimmigen Platz in der Erzählung gefunden. – Alle Achtung!
Die Handlung auf der zweiten Ebene ist womöglich noch glaubwürdiger geraten. Felix, alias Mr. Duke, lenkt sein Gefängnisensemble zielsicher und authentisch durch den Shakespeareplot. – Ein wahres Meisterwerk, wohl wahr!
Die Rachepassage auf der dritten Romanebene hingegen ist mir ehrlich gesagt zu dünn. Was dieser Regisseur Mr. Duke da mit seinen Zuschauern beziehungsweise Feinden innerhalb weniger Minuten anstellt, halte ich schlicht und einfach für unglaubwürdig. Leser¦innen, die hier ohne Hintergrundwissen durch die Geschehnisse pflügen, würden wohl zu Recht sagen: Das ist doch an den Haaren herbei gezogen. Das ist seicht, das ist nicht plausibel. Akzeptabel werden die Geschehnisse nur, wenn man den Bezug zum Original sieht: Es kann einfach nicht anders kommen.
Die Bonbons
Meine Lieblingspassagen sind ohne jeden Zweifel die theaterpädagogischen Szenen, in denen Felix Phillips alias Mr. Duke seine verbrecherischen Schüler mit der Nase in Shakespeares Tiefen tunkt. Wie macht man das? Eine Bande ungebildeter Hochstapler, Betrüger und Drogendealer für literarische Höhenflüge zu interessieren?
Die Autorin hat sich mit dieser Frage intensiv beschäftigt, so erklärt sie in ihren Danksagungen am Ende des Buches. Also macht sie aus ihrem Mr. Duke einen phänomenalen Pädagogen, der den Gefängnisinsaßen die Tiefe der shakespeareschen Figuren nahebringt. Und mit den Gefangenen begreift auch die Leserschaft des Romans die Fülle des Klassikers auf ganz besondere Art und Weise.
„Erste Aufgabe: Kraftausdrücke“
Eine meiner Lieblingspassagen findet sich ab Seite 100. Dort fragt Duke seine Schauspieler nach den Ergebnissen einer Aufgabe ab, die er ihnen gestellt hatte.
„Ich möchte, dass Sie den Text sehr sorgfältig durchgehen und eine Liste sämtlicher Kraftausdrücke erstellen. Das sind die einzigen Schimpfwörter, die wir in diesem Raum benutzen werden.“
(Seite 98)
Fortan fluchen sich also die Gefängnisinsaßen fröhlich auf dem Sprachniveau Shakespeares durch die Geschichte: „An Pest krepier!“, „Scheckiger Hansnarr!“, „Oberlausiges Monster!“, „Hexensaat!“ … Ja, und nun wissen wir auch, woher der Romantitel stammt.
Das offene Ende
Auf das offene Ende der shakespeareschen Geschichte habe ich ja bereits hingewiesen. Atwood geht hier einen Schritt weiter. Denn nach dem Auftritt fordert Mr. Duke seine Schauspieler auf, ihre Vorstellung vom Ausgang der Geschehnisse zu erzählen. Und da ist dann wirklich alles dabei: von der Apokalypse auf der Schifffahrt nach Neapel bis zur musikalischen Popstarkarriere des Caliban.
Auf diese Art und Weise inspiriert die Autorin auch die Leserschaft, sich Gedanken zu machen, was aus Prospero und den anderen Figuren des Bühnenstücks geworden sein könnte. Für ihren eigenen Prospero der ersten Schachtelebene, also für Felix Phillips, hat Margaret Atwood ihre eigenen Zukunftspläne. Zwar könnte er sein Herzogtum, das Theaterfestival von Makeshiweg, zurück bekommen. Aber er verzichtet darauf, um es der Miranda der zweiten Schachteleben und ihrem Ferdinand aus der dritten Ebene zu überlassen.
~
Fazit:
Hexensaat ist eine geniale Verarbeitung des Ursprungsstoffes, Der Sturm, von William Shakespeare. Margaret Atwood versteht es meisterhaft, die Geschichte unverfälscht wiederzugeben, in einer modernen Variante, sie dabei gar auf verschiedenen Ebenen ineinander zu verschachteln und dadurch mit traumwandlerischer Sicherheit dafür zu sorgen, dass der Leserschaft keine einzige Zeile langweilig würde.
Die Lektüre ist ein Muss für Freunde der Shakespearestücke. Aber sie ist auch sehr empfehlenswert für Leser, die den Hintergrund des Klassikers nicht kennen. Denn die Geschichte ist spritzig erzählt und benötigt nicht unbedingt Vorwissen über shakespearesche Literatur. Auch wenn dann die Gefahr besteht, dass der eine oder andere Spaß unverstanden bleibt und womöglich ein paar Passagen der Romangeschichte als an den Haaren herbei gezogen wirken könnten.
Trotz einiger kritischer Randbemerkungen muss ich dieser Erzählung Margaret Atwoods die vollen fünf aller möglicher Sterne zugestehen. Das kommt hier selten vor, ist aber für die Hexensaat unvermeidlich.
Meiner Buchbesprechung liegt eine Shakespeareausgabe aus dem Jahr 1970 in Übersetzung durch August Wilhelm von Schlegel und Ludwig Tieck zu Grunde.
Margaret Atwood: Hag-Seed | Hexensaat
🇬🇧 Hogarth Press, 2016
🇩🇪 Penguin Verlag, 2018
* * * * *
Wenn Du über diese Links bestellst, erhalte ich eine kleine Provision auf Deinen Einkauf (mehr darüber)