
Mit Eines Menschen Flügel hat Andreas Eschbach ein gewaltiges Werk vorgelegt. Es geht um nicht weniger als um die Zukunft der Menschheit: ein Science-Fiction-Roman einerseits, doch auch eine bestechende Überlegung zum aktuellen Zustand und zu den Perspektiven der Art Homo sapiens. Woher kommen wir? Was macht uns aus? Und wohin gehen wir? Können wir aus Fehlern lernen? Unsere Zukunft tatsächlich beeinflussen?
Gewaltig ist Eschbachs neuster Roman aber auch aufgrund seines Umfanges. Ein dicker Band, gegliedert in drei etwa gleich lange Teile; 29 Kapitel, die teilweise so lang sind, dass sie in Unterkapitel geteilt sind, die wiederum durch Sternchenzeilen in Abschnitte strukturiert werden. Das längste dieser Kapitel umfasst allein 100 Buchseiten, die gesamte Erzählung kommt auf 1.253 Romanseiten, selbst wenn man nur vom Anfang des Textes bis zu seinem Schlusspunkt zählt.
Man braucht also Durchhaltevermögen für diese Erzählung. Durchhaltevermögen und ein gutes Gedächtnis für ungewöhnliche Personennamen, um den Zusammenhängen über zwölfhundert eng bedruckte Buchseiten hinweg folgen zu können.
Worum geht es?
Andreas Eschbach erzählt die Geschichte eines Menschengeschlechtes, das auf einem Kontinent eines namenlosen Planeten lebt. Der Himmel dieser Welt ist stets wolkenverhangen, Sonne und Mond sind nur als hellere Stellen hinter der Wolkenschicht auszumachen. Der Zustand dieser Welt ist paradiesisch: Die Menschen leben als Naturvölker in 33 verschiedenen Stämmen über den Kontinent verteilt, kennen kein persönliches Eigentum und keinen technischen Fortschritt. Die modernsten Errungenschaften sind eiserne Werkzeuge und Segelschiffe. Die Stämme leben in Baumnestern von Gartenbau, dem Früchtesammeln, der Fischerei und der Jagd.
Impression am Rande: Wer in Filmbildern denkt, wird vielleicht beim Lesen an die Lebenswelt der Na’vi auf dem Planeten Pandora im Science-Fiction-Film Avatar erinnert sein.
Mit dem Hinweis auf die Baumnester sind wir bei einer Besonderheit des Planeten angelangt: Ein Großteil des kontinentalen Bodens ist lebensfeindlich. Wer ihn betritt, wird in Sekundenschnelle von einer unsichtbaren Macht zerfressen, bis keine organischen Bestandteile mehr von ihm übrig sind. Diese tödliche Macht nennen die Menschen den Margor, der der Grund dafür ist, dass die Menschen Flügel haben und in Nestern in luftiger Höhe hausen.
Die Ahnen
Hinter dieser paradiesischen Welt stehen nicht irgendwelche Götter, die Geschichte kommt tatsächlich ohne Religionen aus. Doch anstelle göttlicher Schöpfer stehen die Ahnen der geflügelten Menschen. Diese Ahnen, so stellt sich bereits nach kurzer Lesezeit heraus, sind herkömmliche, flügellose Menschen. Einst in ferner Vergangenheit hatten die Ahnen in einem Raumschiff den Planeten erreicht. Dort fassten sie den Beschluss, ihn zu besiedeln, und mischten ihren Nachkommen die Gene von Falken bei, so dass sich ein fliegendes Menschengeschlecht entwickelte.
Über diese physische Ausstattung hinaus gaben die Ahnen ihren geflügelten Nachkommen Wissen und Verhaltensregeln mit auf den Weg; in Form von dreizehn Büchern, die unverkennbar an christliche Evangelien erinnern: um Heilkunde geht es darin, um Geburtenregelungen, Heiratseinschränkungen zur Vermeidung von Erbkrankheiten durch Inzucht, um Verzicht auf persönliches Eigentum und um das Verbot der Nutzung von Kraftquellen aller Art außer menschlicher und tierischer Körperkraft.
„Meoris konnte mit der Information aufwarten, dass jedes Paar das Recht hatte, ein Kind zu bekommen, dass für ein zweites aber, wie auch für jedes weitere, der Ältestenrat vorher seine Erlaubnis geben musste. […] Weil es schlecht ist, wenn es zu viele Menschen auf der Welt gibt.“
(Seite 60)
Tatsächlich existiert auch eine geheime Bruderschaft, die auf die Einhaltung der Ahnenregeln achtet. Notfalls müssen Erfindungen allzu forscher Menschen sabotiert, oder falls das nicht ausreicht, die Erfinder selbst aus dem Verkehr gezogen werden.
Die Sterne sehen!
Als es jedoch einem besonders kräftigen Flieger gelingt, die undurchdringlich scheinende Wolkendecke zu durchstoßen und dahinter im All die Sterne zu sehen, ist es dahin mit dem friedlichen Leben. Zwar versucht die Bruderschaft, die Erzählungen des Sternensehers als Lügen zu diskreditieren. Doch es ist zu spät. Die Lawine des Entdeckertums wurde losgetreten und endet hunderte von Romanseiten später im Debakel.
Hintergrund
Natürlich ist es legitim, Eschbachs Erzählung einfach als äußerst stimmig erfundene Science-Fiction-Geschichte zu lesen. Darüber hinaus besonders interessant wird Eines Menschen Flügel jedoch dann, wenn man sich Gedanken über die immer wieder angesprochene Vorgeschichte und letztlich auch über das Ende – oder die Enden – der Erzählung macht.
Der Roman handelt beim ersten Hinsehen in einer zeitlich nicht näher bestimmten Zukunft. Die Menschheit hat längst ferne Planeten in Besitz genommen und besiedelt. Doch sonderlich angenehm liest sich nicht, welche Entwicklung unsere Art genommen hat. Das gesamte menschenbesiedelte Universum wird von einem Diktator beherrscht, vom offiziellen Kurs abweichende Meinungen werden streng geahndet. Die Menschheit hat sich endgültig zu einer egozentrierten und auf Besitztum fixierten Schreckensgesellschaft entwickelt. Gemeinschaftswerte haben aufgehört zu existieren, Natur als lebenssteuernde Umgebung gibt es nicht mehr.
Irgendwann stehlen deshalb ein paar Idealisten ein großes Transportraumschiff, machen sich auf den Weg und finden einen jungfräulichen Planeten, auf dem sie versuchen, noch einmal von vorne anzufangen.
Deutungsvarianten
Ja, man kann eine zeitliche Einordnung so vornehmen, dass diese Hintergrundentwicklung in unserem Jetzt begonnen hat, sich über die nächsten paar hundert oder tausend Jahre hinziehen und schließlich irgendwann in den verzweifelten Siedlungsversuch aus dem Roman münden wird. In diesem Fall würden wir zusammen mit dem Autor in eine mehr oder weniger ferne Zukunft blicken. In eine furchtbare Zukunft, die laut Eschbach unausweichlich wäre.
Aber man könnte vielleicht auch eine alternative Einordnung versuchen. Insbesondere wenn man Szenen der letzten Romanseiten im Gedächtnis behält, könnte man aufgrund der beschriebenen Details auf den Gedanken kommen, die Romangeschichte endete in unserer eigenen Vergangenheit: Sind wir womöglich selbst die Zukunft der Flügelmenschen? Hat all das in einer längst vergangenen Zeit stattgefunden?
Wer meine kryptische Andeutung zum Romanende verstehen will, kann sich Details dazu anzeigen lassen. Auf die Gefahr hin, dass womöglich die Spannung hinüber ist, wenn man das Ende noch nicht kennt.
Details anzeigen
Details verbergen
Das letzte der 29 Kapitel trägt den Titel Viele Jahre später. Darin erzählen vier der geflügelten Menschen, was aus ihnen und aus ihrem Planeten geworden ist. Denn das weiter oben angesprochen „Debakel“ besteht darin, dass Soldaten des Diktators den idyllischen Planeten entdecken und dem Imperium einverleiben. Doch längst nicht alle Bewohner sind auf dem Planeten geblieben. Vielen von ihnen gelingt die „Große Reise“, nämlich die Flucht im wiedergefundenen Raumschiff der Ahnen. Sie reisen zu einem Ziel, das eine der Ahninnen einst verschlüsselt in ihrem Evangelium genannt hatte.
Zurück in die Zukunft?
Die beiden allerletzten Unterkapitel des Romans werden von geflügelten Menschen erzählt, die dieses Ziel offenbar erreicht haben. Da ist etwa ein Elternpaar, das mit seiner kleinen Tochter im Geheimen einen Heiler aufsucht, um der Kleinen die Flügel entfernen zu lassen. Zu groß ist offenbar der soziale Druck, sich dem flügellosen Rest der Menschheit anzupassen.
Und selbst die Alten, die noch auf der Großen Reise dabei waren, benutzen ihre Flügel nicht mehr häufig. Den tödlichen Margor gibt es hier nicht und auf einer der letzten Seiten wird eine Besuchsreise beschrieben, die in einem offenbar frisch erfundenen, dampfbetriebenen Motorwagen stattfindet. Alle Beschreibungen in diesen beiden Kapiteln erinnern doch sehr an unseren Planeten Erde und an die Zustände vor vielen, vielen Jahrzehnten.
Für mich lesen sich diese Passagen wie eine Rückkehr in die Zukunft. Nämlich so wie oben angedeutet in die Zukunft der geflügelten Menschen, die gleichzeitig unsere eigene Vergangenheit sein könnte.
~
Details verbergen
Oder müssen wir noch einen Schritt weiter denken? Will uns Andreas Eschbach auf die Spur setzen, dass sich Geschichte immer wieder wiederholt? – Ich denke, jede(r) Leser¦in wird für sich selbst herausfinden müssen, welche Deutungsvariante für sie oder ihn am stimmigsten scheint. Mir zumindest gefällt diese historisch offene Einsortierbarkeit, so wie ich sie zu erkennen glaube, ausgesprochen gut. Auch dann, wenn der Autor selbst sich stirnrunzelnd zurücklehnen und mir insgeheim den Vogel zeigen wollte.
Erfolgsrezept
1.253 Textseiten? Wird das denn nicht zwangsläufig irgendwann furchtbar langweilig? Bei jedem derartig dicken Schmöker steht diese Frage im Raum. Zumindest in diesem Fall lautet meine Antwort: nein, auf keinen Fall!
Es gibt ein paar Konstrukte, mit Hilfe derer es dem Autor gelingt, uns bei der Stange zu halten. Ich habe die Geschichte innerhalb weniger Tage gelesen. Dabei fiel es mir jedesmal sehr schwer, das Buch spät abends aus der Hand legen zu müssen.
Tempowechsel
Einen großen Teil der Erzählung nehmen Beschreibungen der neuen Welt, die Gepflogenheiten der geflügelten Menschen, ihr Zusammenleben und der Umgang mit der Natur ein. Für sich allein müssten solche Beschreibungen früher oder später unbedingt in Langeweile abgleiten. Doch Eschbach webt in die Zustandsbeschreibung stets an den richtigen Stellen zwei Handlungsstränge ein.
Zum einen sind dies die persönlichen Entwicklungen der einzelnen Protagonisten. Wir begleiten eine Vielzahl an Personen durch ihre Erlebnisse, Ängste und Stärken, Glück und Unglück. Das macht Andreas Eschbach ausgesprochen geschickt, hinter jeder dieser personellen Entwicklungen wird ein nachvollziehbares persönliches Schicksal greifbar.
Dazu kommt noch die groß angelegte Romanhandlung, die mit dem Sternenflug des geflügelten Entdeckers beginnt und die mit unaufhaltsamem Pulsschlag dem Ende entgegen strebt. Die Verquickung dieser drei Ebenen – Weltenbeschreibung, personelle Entwicklungen und Romangerüst – gelingt dem Autor auf besonders unterhaltsame Weise.
Perspektivenwechsel
Dafür dass keine Langeweile aufkommt, sorgt Eschbach jedoch auch, indem er jedes der 29 Kapitel aus der Sicht einer anderen Person erzählt. Das sorgt einerseits für Abwechslung, hilft andererseits aber auch dabei, Zusammenhänge deutlich zu machen. Immer wieder werden Geschehnisse neu aufgerollt und aus verschiedenen Perspektiven interpretiert. Für diesen Kunstgriff muss man dem Autor größten Respekt zollen. Puzzleteilchen fügen sich ohne Brüche nahtlos zusammen und verdichten sich zu einem großen Erzählteppich.
Ich muss auch noch einmal auf das unerlässliche Namensgedächtnis bei der Leserschaft zurück kommen. Alle Protagonisten tragen Namen, die sich aus einem persönlichen Annamen und der jeweiligen Stammeszugehörigkeit zusammensetzen. „Owen“ ist „O“ aus dem Stamm der „Wen“. „Kalsul“ ist die „Kal“ aus dem Stamme der „Sul“. Und so weiter, und so fort. Bestimmt an die hundert Personen finden so Erwähnung. Da muss man ab und an schon einmal nachdenken oder nachschlagen, wer nun wer ist.
Ein schönes Detail am Rande: Mit dem Namen für den einzigen ungeflügelten Menschen, der eine Rolle in der Handlung spielt, brachte mich der Autor zum Schmunzeln. Der Mann heißt nämlich „Dschonn“.
Bewertung
Den „großen Erzählteppich“, den Eschbach vor uns ausbreitet, habe ich bereits angesprochen. Genau dies ist meines Erachtens der wichtigste Pluspunkt, der für den Roman spricht. Hier liegt uns ein großartiges Geflecht fantastischer Details, Beobachtungen menschlicher Verhaltensweisen und eines weit angelegten, überzeugenden Handlungsbogens vor, dem ich nichts anderes als lautstarken Applaus zollen kann.
Eines Menschen Flügel lassen uns, die Leserinnen und Leser, durch eine wunderbare Geschichte gleiten. Bis an die Stellen eben, „wohin eines Menschen Flügel uns nicht tragen können“; nämlich über das Lebensende hinaus oder weg von einem Planeten in eine mögliche, hoffentlich bessere Zukunft.
~
Wer diese Buchbesprechung gern gelesen hat, wird sich wahrscheinlich auch für die Rezension von Andreas Eschbachs Romanvorgänger NSA – Nationales Sicherheitsamt interessieren. Oder für einen der Folgeromane mit dem Titel Freiheitsgeld.
Fazit:
Der bislang letzte Roman Andreas Eschbachs, Eines Menschen Flügel, gehört zweifellos zu den besten Fantasy- oder Science-Fiction-Geschichten und gleichzeitig zu den eindrucksvollsten Überlegungen über die Zukunft der Menschheit, die ich in den letzten Jahren zu lesen bekam. Es gibt nur wenige Bücher, die ich nach dem Lesen mit einem Bedauern aus der Hand gelegt habe darüber, dass die lange aber nicht unendliche Geschichte nun leider doch abgeschlossen ist.
Ich empfehle die Lektüre unbedingt allen, die eine wunderbar austarierte, spannungsgeladene, wenn auch fiktive Erzählung zu schätzen wissen. Und die sich Gedanken über das Woher und Wohin der Bewohner des Planeten Erde machen. Dieses Werk ist mit Sicherheit eines, das ich ein zweites oder auch drittes Mal lesen werde. Und ich bin sicher, dass ich dann noch weitere Feinheiten entdecken werde, die mir beim ersten Durchgang nicht ins Auge gefallen sind. Dafür kann ich Andreas Eschbach keinesfalls mit weniger als den vollen fünf Sternen bedenken.
Andreas Eschbach: Eines Menschen Flügel
Bastei Lübbe Verlag, 2020
* * * * *
Wenn Du über diese Links bestellst, erhalte ich eine kleine Provision auf Deinen Einkauf (mehr darüber)