In Zeiten des Tulpenwahns

Susanne Thomas, In Zeiten des Tulpenwahns
Susanne Thomas, 2021

In ih­rem Ro­man In Zeiten des Tulpenwahns er­zählt uns Su­san­ne Tho­mas das Schick­sal einer jun­gen Hol­län­de­rin wäh­rend des Gol­de­nen Zeit­al­ters der Nie­der­lan­de, im 17. Jahr­hun­dert. Mar­griet Ver­beeck ist Halb­wai­se und lebt in Haar­lem, einem Vor­ort Am­ster­dams, bei ih­rem Va­ter Ni­co­laes, einem Gär­tner und pas­sio­nier­ten Tul­pen­züch­ter. Wir be­glei­ten Mar­griet über sieb­zehn Jah­re hin­weg, von 1620 bis 1637. Aus einem sechs­jäh­rigen Mäd­chen wird eine jun­ge Frau, die – wie soll­te es auch an­ders sein – sich ver­liebt und hei­ra­ten möch­te.
So­weit al­so die Zu­ta­ten zu die­ser Ge­schich­te, die sich zunächst ba­nal le­sen und wo­mög­lich Ba­na­les er­war­ten las­sen. Einen Lie­bes­ro­man für frus­trier­te Haus­frau­en? – Mit­nich­ten!

Die Auto­rin hat mit ihrem Roman eine sehr unge­wöhn­li­che Erzäh­lung abge­lie­fert, die sowohl for­mal als auch inhalt­lich stark von dem abweicht, was wir übli­cher­weise an Bezie­hungs­lite­ra­tur vor­ge­setzt bekom­men.

In Zeiten des Tulpenwahns – Zu den Hintergründen

Zunächst muss ich ein paar his­tori­sche Fak­ten zu der Zeit anrei­chen, in der die Roman­hand­lung spielt. Das unter­lässt Frau Tho­mas näm­lich, worü­ber noch zu spre­chen sein wird. Des­halb müs­sen sich Leser mit Hin­ter­grund­wis­sen selbst ein­de­cken, wenn sie daran Inte­resse haben.

Als das „Gol­dene Zeit­al­ter der Nie­der­lande“ wer­den die Jahr­­zehn­te des 17. Jahr­hun­derts bezeich­net. Auf dem Höhe­punkt die­ser Zeit gab es in den Nie­der­lan­den rund 700 Maler, die jedes Jahr etwa 70.000 Gemälde erschu­fen: Still­le­ben, Land­schaf­ten und Por­traits. Ein bei­spiel­lo­ser Höhen­flug, an den weder die ita­lieni­sche Renais­sance noch die fran­zösi­schen Impres­sio­nis­ten heran­kom­men. Viel­leicht der bekann­teste Por­trait­maler die­ser Zeit war Frans Hals.

Diese hollän­di­sche „Kunst­fa­brik“ funk­tio­nier­te des­halb, weil die Nation dabei war, sich zu einer wich­ti­gen See- und Han­dels­macht zu ent­wi­ckeln und gleich­zei­tig eine kul­tu­relle Aus­wei­tung erfuhr. Das Welt­bild hatte sich nach den Ent­de­ckungs­fahr­ten der Spa­nier und Por­tugie­sen für immer ver­än­dert, die Epo­che der Refor­ma­tion und der Glau­bens­kriege begann. Als reli­gions­freier Staat zogen die Nie­der­lande Ver­folgte an, Schrift­stel­ler und Gelehrte, der Buch­druck wurde erfun­den. Aber auch die Hand­werks­zünfte erleb­ten eine Blü­te­zeit. Kurzum, den Leu­ten ging es gut!

Tulpenmanie

In diese Zeit fiel auch eine Ent­wick­lung, die unter der Bezeich­nung „Tul­pen­wahn“ Ge­schich­te geschrie­ben hat. Zu Beginn des Jah­res 1637 stie­gen die Preise für Tul­pen­zwie­bel rasant. Von den sel­tene­ren Sor­ten waren zeit­wei­lig nur ein Dut­zend Zwie­beln erhält­lich, und die wur­den uner­schwing­lich. Bis zu 10.000 Gul­den ver­lang­ten Händ­ler für eine der begehr­ten Tul­pen­zwie­beln. Für die­sen Betrag bekam man damals auch ein groß­zügi­ges Stadt­haus an den Ams­ter­da­mer Grach­ten.
Der Man­gel an und die Nach­frage nach Tul­pen­zwie­beln führte zu einer rie­si­gen Spe­kula­tions­blase, so wie wir sie heute auch aus der Finanz­welt ken­nen, mit über­hitz­tem Han­del damals in Wirts­häu­sern, der Aus­gabe von Options­schei­nen in Erman­ge­lung tat­säch­lich vor­han­de­ner Ware und schließ­lich dem Plat­zen der Blase im Früh­jahr 1637. So man­chen Spe­kulan­ten trieb dies in den Ruin.

In Zeiten des Tulpenwahns – Über die Romanhandlung

Prolog 1620 – Der Gärt­ner Nico­laes Ver­beeck lebt mit sei­ner sechs­jäh­ri­gen Toch­ter Mar­griet zu zweit alleine außer­halb der Stadt Haar­lem. Seine Frau kam kurz nach der Geburt des Kin­des bei einem Haus­brand ums Leben. In sei­ner Frei­zeit züch­tet Nico­laes mit gro­ßem Geschick und Erfolg Tul­pen.

Zeitsprung 1630 – Mar­griet ist mit ihren sech­zehn Jah­ren zu einer Schön­heit heran­gewach­sen. Sie nimmt eine Beschäf­ti­gung in einer Haar­le­mer Blei­che­rei auf. In der Nach­bar­schaft der Ver­beecks bezieht eine fran­zösi­sche Huge­notten­fami­lie ein leer­ste­hen­des Haus. Die Duchamps muss­ten die Hei­mat wegen ihrer Reli­gion ver­las­sen. Jac­ques, der Sohn der Duchamps, ist Mar­griet von Anfang an unsym­pa­thisch; nicht zu unrecht, wie zumin­dest die Leser­schaft bald erkennt. Aber auch ein jun­ger Aris­to­krat aus der Nach­bar­schaft, Frans van de Cruys, ver­fällt den Rei­zen der jun­gen Frau. Die bei­den ver­lie­ben sich mit der Zeit inein­an­der.

Zeitsprung 1636 – Mar­griets Vater warnt zwar seine Toch­ter vor einem Tech­tel­mech­tel mit einem Ade­li­gen. Doch nach einem Zwi­schen­fall, der Mar­griet um ein Haar das Leben gekos­tet hätte, erkennt er die wahr­haf­tige Liebe zwi­schen Frans und sei­ner Toch­ter. Und erstaun­licher­weise stellt sich noch nicht ein­mal Frans‘ Vater gegen eine Hei­rat. Aller­dings erfährt zunächst nur die Leser­schaft, dass dies rei­nes Kal­kül ist. Van de Cruys ist näm­lich pleite und erwar­ten sich nun die Ret­tung durch eine hohe Mit­gift von Nico­laes.

Spekulation will gelernt sein

Denn inzwischen ist der Tul­pen­wahn aus­gebro­chen und van de Cruys hat in Erfah­rung gebracht, dass der lei­den­schaft­liche Tul­pen­züch­ter Ver­beeck auf einem Ver­mö­gen sitzt. Um die Mit­gift auf­zubrin­gen, lässt sich Nico­laes not­gedrun­gen über­reden, seine Tul­pen­zwie­beln zu ver­stei­gern. Doch das ein­genom­mene Geld reicht noch nicht. Also erwirbt Nico­laes auf Anra­ten sei­nes Freun­des und Nach­barn Opti­ons­scheine auf wei­tere Zwie­beln, die er ver­sil­bern soll, sobald die Preise wei­ter gestie­gen sind.

Doch dazu wird es nicht mehr kom­men. Denn der mitt­ler­weile zu Reich­tum und Ein­fluss gekom­mene Jac­ques Duchamps kennt die Situ­ation und wirft sei­nen gesam­ten eige­nen Zwie­bel­be­stand auf den Markt. Das ist Nico­laes Ruin. Seine Opti­ons­scheine sind über Nacht wert­los gewor­den. In sei­ner Ver­zweif­lung greift der Mann zu unlau­te­ren Mit­teln, um die Hoch­zeit sei­ner gelieb­ten Toch­ter doch noch zu ret­ten. Aber auch hier hat Jac­ques noch seine schmut­zi­gen Fin­ger im Spiel.

In Zeiten des Tulpenwahns – Besonderheiten und Stil

So weit, so gut. Den Rest der Ge­schich­te werde ich hier nicht ver­ra­ten. Auch nicht, wenn ich der Ansicht bin, dass ein Spoiler gar keine große Rolle spie­len würde. Viel wich­tiger sind näm­lich einige Punkte, auf die ich nun zu spre­chen komme und die den Roman aus dem Einer­lei inhalt­lich ähn­li­cher Lie­bes­dra­men heraus­hebt.

Szenische Inszenierung

Ich habe ja bereits darauf hin­gewie­sen, dass noch davon zu spre­chen sein werde: Susanne Tho­mas ver­zich­tet auf jeg­li­che Ein­ord­nung ihrer Ge­schich­te in einen his­tori­schen Kon­text. Ledig­lich der aller­letzte Absatz des Tex­tes gibt einen äußerst knap­pen Abriss wei­te­rer Spe­kula­tions­fälle, die sich im Anschluss an den Tul­pen­wahn in den Nie­der­lan­den ereig­ne­ten.

Fast der gesam­ten Erzäh­lung feh­len Ele­mente, die wir aus den meis­ten Roman­kon­struk­tio­nen ken­nen: Szeni­sche Ele­mente wech­seln sich ab mit erklä­ren­den Pas­sa­gen, mit Rand­noti­zen, mit Hin­wei­sen und mit Zusam­men­fas­sun­gen zeit­li­cher Ent­wick­lun­gen. Dadurch ent­steht übli­cher­weise ein Tem­po­wech­sel, der die Leser­schaft mal lang­sa­mer, mal rascher mit­zieht. Tho­mas hin­ge­gen beschränkt sich auf Sze­nen. Bei ihr ist alles Echt­zeit, eine Abfolge von Auf­zü­gen; so würde man das wohl bei Thea­ter­stü­cken nen­nen.

Tatsäch­lich ist diese Beob­ach­tung gar nicht so über­ra­schend. Auf ihrer Web­seite erzählt Susanne Tho­mas, sie habe vor ihrer Beschäf­ti­gung mit Roma­nen zunächst als Dreh­buch­auto­rin gear­bei­tet. Dies erklärt so eini­ges, etwa auch die teils wei­ten und unkom­men­tier­ten Zeit­sprünge zwi­schen ein­zel­nen Kapi­teln. Diese Eigen­art ver­leiht der Ge­schich­te etwas sehr Direk­tes. Man steht als Leser sozu­sa­gen mit­ten zwi­schen den Schau­spie­lern, die die Hand­lung voran brin­gen.

Bilder und Kompositionen

Ein weite­res, eben­falls unge­wöhn­li­ches Merk­mal der Erzäh­lung ist ein bild­haf­tes, male­ri­sches Ele­ment, auf das die Auto­rin häu­fig und am liebs­ten zu Beginn von Kapi­teln zurück­greift. Dann beschreibt sie Sze­nen mit Liebe zum opti­schen Detail, spricht gar von „Pin­sel­stri­chen“, von Farb­kom­posi­tio­nen und vom Arrange­ment der Per­so­nen und Requi­si­ten. Das fällt bereits im ers­ten Roman­ab­satz auf und setzt sich durch den gesam­ten Text hin­durch fort.

„Wenige Pin­sel­stri­che ver­mö­gen die Szene zu beschrei­ben. Ein alter Mann und eine junge Frau am Abend­tisch. Die letz­ten Son­nen­strah­len drin­gen von der lin­ken Seite durch das But­zen­glas­fens­ter und tau­chen die Szene in ein war­mes, gol­de­nes Licht. Eine ein­zelne Kerze erhellt zusätz­lich den Tisch, auf dem ein­fache Kreis­for­men domi­nie­ren: ein ange­schnit­te­ner Laib Brot, ein klei­ner Laib Käse und zwei Zinn­tel­ler. Das Strah­len des hellen Tisch­tuchs lenkt den Blick auf die ein­fache Mahl­zeit. Der alte Mann sitzt im Schat­ten, eine Gesichts­hälfte liegt voll­stän­dig im Dun­keln. Seine Hal­tung wirkt ent­spannt: Er zieht an einer lan­gen Ton­pfeife und lehnt sich leicht zurück. Schein­bar fühlt er sich im Halb­dun­kel wohl und über­lässt das Licht ande­ren. Das Mäd­chen hin­ge­gen sitzt im Dia­go­nal des Licht­strahls, der durch das Fens­ter direkt auf sie fällt. Auf ihrem Tel­ler liegt, noch unbe­rührt, ein Stück Brot. Sie beach­tet es nicht und blickt ver­son­nen zum Fens­ter in das Licht.

Der Maler der Szene war kein unpar­tei­ischer Beob­ach­ter der Vor­lage. Wäh­rend er dem alten Mann nur dunkle, grobe Pin­sel­stri­che zuge­bil­ligt hat, die teil­weise in der Hin­ter­grund­farbe auf­ge­hen, hat er dem Gesicht des träu­men­den Mäd­chens und den unzäh­li­gen kup­fer­far­be­nen Locken seine ganze Kunst­fer­tig­keit gewid­met.“
(Beginn von Kapi­tel 10, Seite 86)

Zeitliche Einordnung

Auf diese Weise malt sich die Auto­rin also ihre ein­zel­nen Sze­nen zurecht. Und für mich schließt sich hier ein Kreis, den ich anfangs mit dem Hin­weis auf das Gol­dene Zeit­al­ter der Nie­der­lande begon­nen habe. Susanne Tho­mas bringt ihre Roman­ge­schich­te auf diese Weise doch noch in den Stil­leben und Por­traits der Viel­zahl zeit­genös­si­scher Künst­ler unter.

Zur zeit­li­chen Ein­ord­nung der Ge­schich­te pas­sen übri­gens auch Voka­bu­lar und For­mulie­run­gen, derer sich Tho­mas kon­se­quent bedient. Das Per­so­nal erle­digt nichts, sondern „ver­rich­tet“ es. Sie schla­fen nicht gut son­dern „wohl“ und sind nicht ehr­lich son­dern „recht­schaf­fen“. Sol­che Bei­spiele las­sen sich in gro­ßer Menge fin­den.

„Was ist dir, mein Grietje?“

~

Fazit:

Wer ver­zwei­fel­te Lie­bes­ge­schich­ten mag, oder zumin­dest nicht vor deren Lek­türe zurück­schreckt, der ist ohne­hin gut bedient mit In Zei­ten des Tul­pen­wahns. Aber weil Tho­mas‘ Ge­schich­te eben so gar kein simp­ler Bezie­hungs­roman ist, sind sicher auch ganz andere Leser¦in­nen gut bedient mit der Lek­türe. Zumin­dest mir haben die sti­lis­ti­schen Beson­der­hei­ten des Tex­tes gut gefal­len: das sze­ni­sche Schrei­ben ohne Tem­po­wech­sel, die künst­leri­schen Ele­mente bei der Beschrei­bung ein­zel­ner Sze­nen und die alter­tüm­li­che Dik­tion.

So ver­gebe ich denn für diese so ganz andere Ge­schich­te um Liebe, Eifer­sucht und Intrige guten Gewis­sens drei dicke von den fünf mög­li­chen Ster­nen. Und wenn das Genre der Erzäh­lung mehr mei­nen persön­li­chen The­men­vor­lie­ben ent­spro­chen hätte, dann wäre womög­lich noch ein wei­te­rer Stern drin gewe­sen.

Susanne Thomas: In Zeiten des Tulpenwahns
Ruhland Verlag, 2021

Ich bedanke mich herzlich bei der Autorin für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar

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