In ihrem Roman In Zeiten des Tulpenwahns erzählt uns Susanne Thomas das Schicksal einer jungen Holländerin während des Goldenen Zeitalters der Niederlande, im 17. Jahrhundert. Margriet Verbeeck ist Halbwaise und lebt in Haarlem, einem Vorort Amsterdams, bei ihrem Vater Nicolaes, einem Gärtner und passionierten Tulpenzüchter. Wir begleiten Margriet über siebzehn Jahre hinweg, von 1620 bis 1637. Aus einem sechsjährigen Mädchen wird eine junge Frau, die – wie sollte es auch anders sein – sich verliebt und heiraten möchte.
Soweit also die Zutaten zu dieser Geschichte, die sich zunächst banal lesen und womöglich Banales erwarten lassen. Einen Liebesroman für frustrierte Hausfrauen? – Mitnichten!
Die Autorin hat mit ihrem Roman eine sehr ungewöhnliche Erzählung abgeliefert, die sowohl formal als auch inhaltlich stark von dem abweicht, was wir üblicherweise an Beziehungsliteratur vorgesetzt bekommen.
Zu den Hintergründen
Zunächst muss ich ein paar historische Fakten zu der Zeit anreichen, in der die Romanhandlung spielt. Das unterlässt Frau Thomas nämlich, worüber noch zu sprechen sein wird. Deshalb müssen sich Leser mit Hintergrundwissen selbst eindecken, wenn sie daran Interesse haben.
Als das „Goldene Zeitalter der Niederlande“ werden die Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts bezeichnet. Auf dem Höhepunkt dieser Zeit gab es in den Niederlanden rund 700 Maler, die jedes Jahr etwa 70.000 Gemälde erschufen: Stillleben, Landschaften und Portraits. Ein beispielloser Höhenflug, an den weder die italienische Renaissance noch die französischen Impressionisten herankommen. Vielleicht der bekannteste Portraitmaler dieser Zeit war Frans Hals.
Diese holländische „Kunstfabrik“ funktionierte deshalb, weil die Nation dabei war, sich zu einer wichtigen See- und Handelsmacht zu entwickeln und gleichzeitig eine kulturelle Ausweitung erfuhr. Das Weltbild hatte sich nach den Entdeckungsfahrten der Spanier und Portugiesen für immer verändert, die Epoche der Reformation und der Glaubenskriege begann. Als religionsfreier Staat zogen die Niederlande Verfolgte an, Schriftsteller und Gelehrte, der Buchdruck wurde erfunden. Aber auch die Handwerkszünfte erlebten eine Blütezeit. Kurzum, den Leuten ging es gut!
Tulpenmanie
In diese Zeit fiel auch eine Entwicklung, die unter der Bezeichnung „Tulpenwahn“ Geschichte geschrieben hat. Zu Beginn des Jahres 1637 stiegen die Preise für Tulpenzwiebel rasant. Von den selteneren Sorten waren zeitweilig nur ein Dutzend Zwiebeln erhältlich, und die wurden unerschwinglich. Bis zu 10.000 Gulden verlangten Händler für eine der begehrten Tulpenzwiebeln. Für diesen Betrag bekam man damals auch ein großzügiges Stadthaus an den Amsterdamer Grachten.
Der Mangel an und die Nachfrage nach Tulpenzwiebeln führte zu einer riesigen Spekulationsblase, so wie wir sie heute auch aus der Finanzwelt kennen, mit überhitztem Handel damals in Wirtshäusern, der Ausgabe von Optionsscheinen in Ermangelung tatsächlich vorhandener Ware und schließlich dem Platzen der Blase im Frühjahr 1637. So manchen Spekulanten trieb dies in den Ruin.
Über die Romanhandlung
Prolog 1620 – Der Gärtner Nicolaes Verbeeck lebt mit seiner sechsjährigen Tochter Margriet zu zweit alleine außerhalb der Stadt Haarlem. Seine Frau kam kurz nach der Geburt des Kindes bei einem Hausbrand ums Leben. In seiner Freizeit züchtet Nicolaes mit großem Geschick und Erfolg Tulpen.
Zeitsprung 1630 – Margriet ist mit ihren sechzehn Jahren zu einer Schönheit herangewachsen. Sie nimmt eine Beschäftigung in einer Haarlemer Bleicherei auf. In der Nachbarschaft der Verbeecks bezieht eine französische Hugenottenfamilie ein leerstehendes Haus. Die Duchamps mussten die Heimat wegen ihrer Religion verlassen. Jacques, der Sohn der Duchamps, ist Margriet von Anfang an unsympathisch; nicht zu unrecht, wie zumindest die Leserschaft bald erkennt. Aber auch ein junger Aristokrat aus der Nachbarschaft, Frans van de Cruys, verfällt den Reizen der jungen Frau. Die beiden verlieben sich mit der Zeit ineinander.
Zeitsprung 1636 – Margriets Vater warnt zwar seine Tochter vor einem Techtelmechtel mit einem Adeligen. Doch nach einem Zwischenfall, der Margriet um ein Haar das Leben gekostet hätte, erkennt er die wahrhaftige Liebe zwischen Frans und seiner Tochter. Und erstaunlicherweise stellt sich noch nicht einmal Frans‘ Vater gegen eine Heirat. Allerdings erfährt zunächst nur die Leserschaft, dass dies reines Kalkül ist. Van de Cruys ist nämlich pleite und erwarten sich nun die Rettung durch eine hohe Mitgift von Nicolaes.
Spekulation will gelernt sein
Denn inzwischen ist der Tulpenwahn ausgebrochen und van de Cruys hat in Erfahrung gebracht, dass der leidenschaftliche Tulpenzüchter Verbeeck auf einem Vermögen sitzt. Um die Mitgift aufzubringen, lässt sich Nicolaes notgedrungen überreden, seine Tulpenzwiebeln zu versteigern. Doch das eingenommene Geld reicht noch nicht. Also erwirbt Nicolaes auf Anraten seines Freundes und Nachbarn Optionsscheine auf weitere Zwiebeln, die er versilbern soll, sobald die Preise weiter gestiegen sind.
Doch dazu wird es nicht mehr kommen. Denn der mittlerweile zu Reichtum und Einfluss gekommene Jacques Duchamps kennt die Situation und wirft seinen gesamten eigenen Zwiebelbestand auf den Markt. Das ist Nicolaes Ruin. Seine Optionsscheine sind über Nacht wertlos geworden. In seiner Verzweiflung greift der Mann zu unlauteren Mitteln, um die Hochzeit seiner geliebten Tochter doch noch zu retten. Aber auch hier hat Jacques noch seine schmutzigen Finger im Spiel.
Besonderheiten und Stil
So weit, so gut. Den Rest der Geschichte werde ich hier nicht verraten. Auch nicht, wenn ich der Ansicht bin, dass ein Spoiler gar keine große Rolle spielen würde. Viel wichtiger sind nämlich einige Punkte, auf die ich nun zu sprechen komme und die den Roman aus dem Einerlei inhaltlich ähnlicher Liebesdramen heraushebt.
Szenische Inszenierung
Ich habe ja bereits darauf hingewiesen, dass noch davon zu sprechen sein werde: Susanne Thomas verzichtet auf jegliche Einordnung ihrer Geschichte in einen historischen Kontext. Lediglich der allerletzte Absatz des Textes gibt einen äußerst knappen Abriss weiterer Spekulationsfälle, die sich im Anschluss an den Tulpenwahn in den Niederlanden ereigneten.
Fast der gesamten Erzählung fehlen Elemente, die wir aus den meisten Romankonstruktionen kennen: Szenische Elemente wechseln sich ab mit erklärenden Passagen, mit Randnotizen, mit Hinweisen und mit Zusammenfassungen zeitlicher Entwicklungen. Dadurch entsteht üblicherweise ein Tempowechsel, der die Leserschaft mal langsamer, mal rascher mitzieht. Thomas hingegen beschränkt sich auf Szenen. Bei ihr ist alles Echtzeit, eine Abfolge von Aufzügen; so würde man das wohl bei Theaterstücken nennen.
Tatsächlich ist diese Beobachtung gar nicht so überraschend. Auf ihrer Webseite erzählt Susanne Thomas, sie habe vor ihrer Beschäftigung mit Romanen zunächst als Drehbuchautorin gearbeitet. Dies erklärt so einiges, etwa auch die teils weiten und unkommentierten Zeitsprünge zwischen einzelnen Kapiteln. Diese Eigenart verleiht der Geschichte etwas sehr Direktes. Man steht als Leser sozusagen mitten zwischen den Schauspielern, die die Handlung voran bringen.
Bilder und Kompositionen
Ein weiteres, ebenfalls ungewöhnliches Merkmal der Erzählung ist ein bildhaftes, malerisches Element, auf das die Autorin häufig und am liebsten zu Beginn von Kapiteln zurückgreift. Dann beschreibt sie Szenen mit Liebe zum optischen Detail, spricht gar von „Pinselstrichen“, von Farbkompositionen und vom Arrangement der Personen und Requisiten. Das fällt bereits im ersten Romanabsatz auf und setzt sich durch den gesamten Text hindurch fort.
„Wenige Pinselstriche vermögen die Szene zu beschreiben. Ein alter Mann und eine junge Frau am Abendtisch. Die letzten Sonnenstrahlen dringen von der linken Seite durch das Butzenglasfenster und tauchen die Szene in ein warmes, goldenes Licht. Eine einzelne Kerze erhellt zusätzlich den Tisch, auf dem einfache Kreisformen dominieren: ein angeschnittener Laib Brot, ein kleiner Laib Käse und zwei Zinnteller. Das Strahlen des hellen Tischtuchs lenkt den Blick auf die einfache Mahlzeit. Der alte Mann sitzt im Schatten, eine Gesichtshälfte liegt vollständig im Dunkeln. Seine Haltung wirkt entspannt: Er zieht an einer langen Tonpfeife und lehnt sich leicht zurück. Scheinbar fühlt er sich im Halbdunkel wohl und überlässt das Licht anderen. Das Mädchen hingegen sitzt im Diagonal des Lichtstrahls, der durch das Fenster direkt auf sie fällt. Auf ihrem Teller liegt, noch unberührt, ein Stück Brot. Sie beachtet es nicht und blickt versonnen zum Fenster in das Licht.
Der Maler der Szene war kein unparteiischer Beobachter der Vorlage. Während er dem alten Mann nur dunkle, grobe Pinselstriche zugebilligt hat, die teilweise in der Hintergrundfarbe aufgehen, hat er dem Gesicht des träumenden Mädchens und den unzähligen kupferfarbenen Locken seine ganze Kunstfertigkeit gewidmet.“
(Beginn von Kapitel 10, Seite 86)
Zeitliche Einordnung
Auf diese Weise malt sich die Autorin also ihre einzelnen Szenen zurecht. Und für mich schließt sich hier ein Kreis, den ich anfangs mit dem Hinweis auf das Goldene Zeitalter der Niederlande begonnen habe. Susanne Thomas bringt ihre Romangeschichte auf diese Weise doch noch in den Stilleben und Portraits der Vielzahl zeitgenössischer Künstler unter.
Zur zeitlichen Einordnung der Geschichte passen übrigens auch Vokabular und Formulierungen, derer sich Thomas konsequent bedient. Das Personal erledigt nichts, sondern „verrichtet“ es. Sie schlafen nicht gut sondern „wohl“ und sind nicht ehrlich sondern „rechtschaffen“. Solche Beispiele lassen sich in großer Menge finden.
„Was ist dir, mein Grietje?“
~
Fazit:
Wer verzweifelte Liebesgeschichten mag, oder zumindest nicht vor deren Lektüre zurückschreckt, der ist ohnehin gut bedient mit In Zeiten des Tulpenwahns. Aber weil Thomas‘ Geschichte eben so gar kein simpler Beziehungsroman ist, sind sicher auch ganz andere Leser¦innen gut bedient mit der Lektüre. Zumindest mir haben die stilistischen Besonderheiten des Textes gut gefallen: das szenische Schreiben ohne Tempowechsel, die künstlerischen Elemente bei der Beschreibung einzelner Szenen und die altertümliche Diktion.
So vergebe ich denn für diese so ganz andere Geschichte um Liebe, Eifersucht und Intrige guten Gewissens drei dicke von den fünf möglichen Sternen. Und wenn das Genre der Erzählung mehr meinen persönlichen Themenvorlieben entsprochen hätte, dann wäre womöglich noch ein weiterer Stern drin gewesen.
Susanne Thomas: In Zeiten des Tulpenwahns
Ruhland Verlag, 2021
Ich bedanke mich herzlich bei der Autorin für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar
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