Die Willkür der Sterne?

Hin und wieder errei­chen mich wüten­de E-Mails, in de­nen Autor­¦innen, Agen­tu­ren oder Fans sich über die An­zahl der ver­gebe­nen Wer­tungs-Ster­ne er­ei­fern: Das sei doch wohl die rei­ne Will­kür! Wie ich bloß dazu käme, dem einen Ti­tel nur einen Stern, dem an­de­ren hin­ge­gen fünf zu ver­lei­hen. (Natür­lich be­schwe­ren sich im­mer nur die, de­ren „Lieb­lings­ti­tel“ mit einem Ver­riss, also mit zwei Ster­nen, mit einem, oder so­gar mit gar kei­nem be­dacht wur­den.)

Nun, meine Sterne-Bewer­tun­gen haben wirk­lich nichts mit Will­kür zu tun. Ich lege mei­ner Ein­stu­fung stets ein kla­res Sche­ma zu­grun­de, das ich mir im Lau­fe der vie­len Jah­re mit Buch­be­spre­chun­gen und Re­zen­sio­nen er­ar­bei­tet habe. Die­ses Sche­ma möchte ich hier ein­mal er­klä­ren, um mir all die end­lo­sen, uner­quick­lichen und ergeb­nis­losen Dis­kussi­onen zu er­spa­ren, die ich sonst immer wieder füh­ren muss.

Was bedeuten die Sterne eigentlich?

Wir kennen Sterne-Bewer­tun­gen aus al­len Berei­chen unse­res On­line-Le­bens. Google möch­te wis­sen, wie toll wir all die Apps fin­den, die es im Play Store he­run­ter zu la­den gilt. Hotel-, Miet­wagen-, Flug­por­tale las­sen uns mit Stern­chen ab­stim­men, wie gut unse­re Erfah­run­gen waren. Und am Ama­zo­nas gibt es natür­lich auch eine Bewer­tungs­ska­la, in der wir Ster­ne für Wa­ren verge­ben, die wir erwor­ben haben.

Die Un­sit­te der Schwarz­weiß­ma­le­rei bei Bewertungen ist in mei­nen Augen un­ver­ständ­lich. Auch wenn es für vie­le Re­zen­sen­ten zwi­schen einem und fünf Ster­nen kei­ne wei­te­re Ab­stu­fung zu ge­ben scheint. Ich hal­te es für ein er­bärm­li­ches in­tel­lek­tu­el­les Ar­muts­zeug­nis, nichts an­de­res als „Wahn­sinn!“ oder „Schei­ße!“ raus­hau­en zu kön­nen. Bei mir gibt es auch Ster­ne für die Ti­tel, die ich be­spro­chen habe. Sie haben hier fol­gen­de Bedeu­tung:

  • 0 Sterne: Grotten­schlecht & indis­kuta­bel; nicht ein­mal das Pa­pier wert, auf das der Text ge­druckt wur­de.
  • 1 Stern: Ziemlich mies; der Autor oder die Auto­rin soll­ten sich schä­men. Der Text hat sehr we­nig mit Lite­ratur zu tun. Wahr­schein­lich sogar über­haupt nichts. – Pein­lich, pein­lich, pein­lich!
  • 2 Sterne: Oje, das war nicht so ganz der Brül­ler; in einem Schul­zeug­nis­text würde wahr­schein­lich ste­hen „Der Autor hat sich bemüht“.
  • 3 Sterne: Okay, das war richtig gut; eine soli­de Ar­beit, das Lesen hat echt Spaß ge­macht, auch wenn es den einen oder ande­ren Grund gibt, den Titel nicht unbe­dingt ein zwei­tes oder gar drit­tes Mal aus dem Regal zu zie­hen.
  • 4 Sterne: Hui, ein wah­rer Spit­zen­titel; da passt ein­fach alles, mit sol­chen Tex­ten fühlt man sich ein­fach sauwohl! Bitte unbe­dingt mehr davon.
  • 5 Sterne: Zack! Ein abso­luter Voll­tref­fer, mit­ten ins Bull’s Eye; unver­gleich­lich, dieser Text gehört ohne jeden Zwei­fel in den lite­rari­schen Olymp, oder wenig­stens auf einen Ehren­platz in meinem Bücher­regal. Und dort wird er auch min­des­tens ein­mal im Monat abge­staubt und gestrei­chelt.

Aber woher kommen die Sterne denn nun?

Ich bewerte jeden Text nach drei Krite­rien: Rele­vanz, Lese­spaß und Forma­les. Jedes dieser Krite­rien lie­fert auf Basis ver­schie­dener Frage­stellun­gen einen durch­schnitt­lichen Sterne­wert zwischen 0 und 5:

(A) – Relevanz

  • Wie wichtig ist oder war das Thema in der zum Zeit­punkt der Rezen­sion aktu­ellen gesell­schaftli­chen Situa­tion? (0 bis 5 Sterne mög­lich)
  • Wie wichtig finde oder fand ich persön­lich das Thema? (0 bis 5 Sterne mög­lich)

(B) – Lesespaß

  • Fällt es mir schwer, den Roman aus der Hand zu legen? (0 bis 5 Sterne mög­lich)
  • Lese ich bestimm­te Ab­schnit­te immer wieder, weil sie mir so gut gefal­len? Blät­tere ich dafür wo­mög­lich sogar zurück? (0 bis 5 Sterne mög­lich)
  • Die „Schenkel­klopfer“-Frage: Gibt es Lese­momen­te, in denen man den/die Autor­¦in benei­det und ein­fach gern her­zen und küs­sen möch­te? (0 bis 5 Sterne mög­lich)

(C) – Formales: Stil, Inhalt & Umsetzung

  • Beherr­schen Autor­¦in und Lek­tor­¦in die Re­geln der Spra­che? (0 bis 5 Sterne mög­lich)
  • Wie viele Platti­tüden ent­hält der Text? Gibt es Momen­te des Fremd­schä­mens? (0 bis 5 Sterne mög­lich)
  • Ist die Geschich­te schlüs­sig auf­ge­baut? (0 bis 5 Sterne mög­lich)
  • Ist der Text les­bar und verständ­lich, ohne immer wie­der an den Satz­anfang zurück sprin­gen zu müs­sen? (0 bis 5 Sterne mög­lich)

Grundsätz­lich sind mir alle drei Krite­rien gleich wich­tig und wer­den des­halb mit dem glei­chen Gewich­tungs­fak­tor von je­weils 3 multi­pli­ziert. Es kann jedoch Aus­nah­men geben. Ein histo­rischer Roman kann bei­spiels­weise wenig oder gar keine aktu­elle Rele­vanz haben. In sol­chen Fällen senke ich den Fak­tor für Rele­vanz, zum Bei­spiel von 3 auf 2. Weil mir andere Krite­rien wich­tiger sind, sinkt dadurch die Durch­schlags­kraft des nied­rigen Rele­vanz­wertes.
Bei einem Sach­buch hinge­gen wird womög­lich wenig Lese­freude auf­kommen. Also senke ich in diesem Fall den Faktor für Lese­spaß, weil hier andere Krite­rien aus­schlag­geben­der sind als Spaß.
Wichtig dabei ist aber: Was ich bei einem Krite­rium abge­zogen habe, muss ich bei einem oder bei beiden ande­ren Krite­rien auf­schla­gen, so dass sich alle drei Fak­toren stets zu einer Summe von 9 zusammen­zäh­len lassen. Sonst funk­tioniert das nicht mit der Durch­schlags­kraft.

Ich multi­pliziere dann den Mittel­wert eines jeden Krite­riums (A) bis (C) mit seinem Faktor, bilde die Summe dieser drei Zah­len und tei­le das Ergeb­nis durch 9. Voilá, schon haben wir eine ziem­lich gut nach­voll­zieh­bare Bewer­tung zwi­schen 0 und 5 Sternen.

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Beispiel: Die Euro-Fälscher

Meine aller­erste Rezen­sion ent­stand im Jahr 2002, kurz nach der Ein­füh­rung der euro­päi­schen Gemein­schafts­währung. Bewer­tet habe ich den Roman wie folgt:

(A) Relevanz

  • Gesellschaft­liche Wichtig­keit des Themas: 5 Sterne
  • Persön­liche Wichtig­keit: 4 Sterne

(B) Lesespaß

  • Fällt es schwer, den Roman aus der Hand zu legen? – 2 Sterne
  • Lese ich Abschitte immer wieder? – 1 Stern
  • „Schenkelklopfer“-Frage: 0 Sterne

(C) Formales

  • Sprachregeln: 2 Sterne
  • Plattitüden & Fremd­schämen: 2 Sterne
  • Schlüssigkeit: 3 Sterne
  • Lesbarkeit & Verständ­lich­keit: 3 Sterne

Den Faktor für Rele­vanz habe ich von 3 auf 4 ange­hoben, den für Lese­spaß und Forma­les im Gegen­zug jeweils auf 2,5 abge­senkt. Dadurch ergibt sich fol­gende Sterne­formel, beim Rech­nen runde ich stets auf die erste Nach­komma­stelle:

{ [4 * (5 + 4) / 2] + [2,5 * (2 + 1 + 0) / 3] + [2,5 * (2 + 2 + 3 + 3) / 4] } / 9 =
{18 + 2,5 + 6,3} / 9 =
3,0

* * * * *

Die Euro-Fälscher haben also ziem­lich glat­te 3 Ster­ne bekommen. Und auf exakt die glei­che Art und Wei­se kommen alle meine Rezen­sio­nen zu ihren Bewer­tungs­stern­chen.

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Wie bitte? Die­se gan­ze Ster­ne­rech­ne­rei ist Dir zu un­über­sicht­lich? Al­so gut, ich bit­te um Ver­zei­hung. Wahr­schein­lich bin ich we­nig be­triebs­blind. Denn schließ­lich ha­be ich vor einem hal­ben Jahr­hun­dert Ma­the­ma­tik und In­for­ma­tik stu­diert. Zwar ent­schul­digt das nichts, aber es mag eini­ges er­klä­ren.

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