Er nannt ihn Wrieto-San. – Der Erzähler in T. C. Boyles zwölftem Roman mit dem Titel Die Frauen heißt Tadashi Sato, ist Japaner und Mitarbeiter einer historischen Figur der amerikanischen Geschichte: nämlich des Ausnahmearchitekten, Sozialchaoten und notorischen Schuldners Frank Lloyd Wright (1867–1959). Der biografische Roman behandelt die Lebensgeschichte von „Wrieto-San“, einem erklärten Anhänger der japanischen Kultur und einem unverbesserlichen Schürzenjäger. Im Zentrum der Geschichte stehen deshalb Wrights Ehefrauen und Geliebte, die ihn zeitlebens umgaben. Der Romantext endet in direkter Rede mit einer ebenso nachdenklich stimmenden wie skurrilen Bemerkung:
„Der arme Mann“, dachte sie. „Der arme, arme Mann.“
(Seite 557)
Die Frauen erschien im Original 2009, drei Jahre nach Talk Talk und zwei vor Wenn das Schlachten vorbei ist.
Es nimmt übrigens kaum wunder, dass sich Boyle der Figur dieses Stararchitekten des angehenden zwanzigsten Jahrhunderts angenommen hat. Schließlich bewohnen er selbst und seine Familie seit mittlerweile dreißig Jahren eines der Häuser, die Frank Lloyd Wright seinerzeit entworfen hat. ¹
Struktur des Romans
Der Autor hat eine – für eine biografische Erzählung – sehr ungewöhnliche Struktur gewählt, die es der Leserschaft nicht unbedingt leicht macht, in die Geschichte einzusteigen. Es gibt drei verschiedene Ebenen, auf denen der fiktive Erzähler Tadashi Sato berichtet. Da ist zum einen sein persönlicher Erzählstrang, der in chronologischer Reihenfolge angeordnet, allerdings in drei Blöcke zerteilt ist. Denn der Roman besteht aus drei Teilen, über die ich gleich sprechen werde. Jeder dieser drei Teile beginnt mit einer „Einführung“, in der Sato seine eigene Lebensgeschichte ab dem Zeitpunkt des Kennenlernens mit Wrieto-San darlegt.
1. Romanebene: Tadashi Satos Geschichte
Die Einführung zum ersten Teil beginnt der Erzähler mit seiner Ankunft im Jahr 1932 auf Taliesin, dem Schaffenszentrum von Frank Lloyd Wright in Wisconsin. Da war Wright bereits 65 Jahre alt und längst mit seiner dritten und letzten Ehefrau Olgivanna verheiratet. Die Berichterstattung Satos erstreckt sich insgesamt und über alle Buchteile hinweg über neun Jahre, nämlich von ’32 bis zum 7. Dezember 1941, dem Tag, als die japanische Luftwaffe Pearl Harbor auf Hawaii bombardierte und damit den offiziellen Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg provozierte. Am Tag danach wird der Japaner Sato abgeholt und interniert. Doch er kehrt Ende der Vierzigerjahre noch einmal auf einen Besuch in Taliesin zu Frank und Olgivanna zurück, gemeinsam mit seiner japanischen Ehefrau Setsuko.
2. Romanebene: Frank Lloyd Wrights Frauen
Ich erwähnte es bereits: Der Roman ist in drei Teile gegliedert, die die Rufnamen von drei der Wright-Frauen tragen, nämlich Olgivanna, Miriam und Mamah (wird Meïmah ausgesprochen). An der Reihenfolge dieser Überschriften erkennt man, dass diese Ebene in umgekehrt chronologischer Reihenfolge sortiert ist. Boyle zäumt also das Pferd von hinten auf:
- Olga „Olgivanna“ Lazovich Hinzenberg Lloyd Wright (1897–1985)
lernte Frank 1924 kennen, heiratete ihn im Jahr 1928; überlebte schließlich ihren Ehemann um 25 Jahre. - Maude Miriam Noel Wright (1869–1930)
heiratete Frank im Jahr 1923; die Ehe scheiterte jedoch unter anderem wegen Miriams Morphiumabhängigkeit nach weniger als einem Jahr; wurde 1927 von ihm geschieden. - Mary Bouton „Mamah“ Borthwick (1869–1914)
verheiratet mit Edwin Cheney von 1899 bis 1911; verließ ihren Ehemann und die drei Kinder im Jahr 1909, um mit Frank Lloyd Wright nach Europa durchzubrennen.
Wer vielleicht vor Beginn der Lektüre schon mal Wrights Lebenslauf gegoogelt hat, wird womöglich bemerken, dass die erste Ehefrau keinen eigenen Romanteil abgekommen hat. Kittys Geschichte wird mit der von Mamah abgehandelt.
- Catherine „Kitty“ Tobin Wright (1871–1959)
heiratete Frank im Jahr 1889, „als er einundzwanzig war und sie gerade die Highschool abgeschlossen hatte“ (Seite 118); wurde 1922 von ihm geschieden, als ihr Mann längst jahrelang mit Mamah zusammenlebte.
3. Romanebene: Die Fußnoten
Im Stile einer wissenschaftlichen Arbeit ist das Buch gespickt mit Fußnoten. Üblicherweise dienen Fußnote ja dazu, Textpassagen zu erläutern oder zu belegen. Man könnte deshalb auf die Idee verfallen, den Roman zu lesen, ohne diese Geißel des Buchsatzes zu beachten; also schlicht über die lästigen Fußnoten hinwegzulesen.
Das aber funktioniert im Fall von Die Frauen nicht. Denn ausgerechnet in diesen kleinbuchstabigen Fußnoten lässt Boyle seinen Erzähler Sato entscheidende Hinweise anbringen. Ohne die Fußnoten fehlten der Leserschaft wichtige Informationen.
* Mag er auch der bedeutendste Architekt der Welt gewesen sein – auf dem Gebiet der Elektrik war Wrieto-San nicht sonderlich bewandert. Die Hälfte der elektrischen Leitungen auf Taliesin war nur behelfsmäßig verlegt, und wir erlebten immer wieder, wie vor unseren Augen eine Birne in der Fassung verschmorte oder wie der Versuch, ein Radio oder eine Lampe an die Steckdose anzuschließen, mit einem scharfen Knall und dem Gestank durchgeschmorter Kabel endete.
(Fußnote auf Seite 78)
Man fragt sich, wieso solche Absätze ins Kleingedruckte verbannt werden. Denn tatsächlich stört das häufige Hinab- und Zurückspringen den Lesefluss erheblich. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass Boyle damit seinem Erzähler die Möglichkeit geben wollte, eigene Erkenntnisse und oft auch Kritik des Schülers an seinem Meister unterzubringen. Als Japaner wäre Sato wohl zu höflich, solche Passagen direkt in den Text einzubauen.
Also muss die Erkenntnis lauten: Auch wenn diese Fußnoten lästig sind und auch wenn die kleinen Sternchen im Textfluss schnell überlesen werden, sollte man sich auf sie einlassen, wenn man die Geschichte durchdringen will.
Frank, seine Frauen und die Gesellschaft
* Ich fürchte, Wrieto-San war eine Art Muttersöhnchen (okāsan ko), er suchte sein Leben lang, insbesondere in Zwangslagen, die Gesellschaft von Frauen.
(Tadashi Sato über Frank Lloyd Wright, Fußnote auf Seite 259)
Tatsächlich ist objektiv nicht zu begreifen, wieso sich ein ausgeprägter Egomane und Person des öffentlichen Interesses wie dieser Frank immer und immer wieder in Abenteuer mit neuen Frauen stürzte. Seine frühe Ehe mit Kitty mag man noch auf Unerfahrenheit zurückführen. Auch dass er sich Jahre später ausgerechnet in die Ehefrau eines Kunden verliebte (Mamah) und diese Romanze gegen die Widerstände seiner Noch-Ehefrau und gegen die Empörung der Gesellschaft durchzog, wird der eine oder die andere noch verstehen. (Auch wenn in der amerikanischen Gesellschaft in den Zeiten zwischen den beiden Weltkriegen die Ehe grundsätzlich einen immens hohen gesellschaftlichen Stellenwert hatte, den man aus heutiger Sicht als aus der Zeit gefallen oder gar als scheinheilig beurteilen könnte.)
Aber dass er sich nach dem katastrophalen Ende dieser großen Liebe zu Mamah sehenden Auges ausgerechnet in die Klauen einer wahnsinnigen Drogenabhängigen begibt – ja, Frank wusste sehr früh von den Morphiumspritzen Miriams –, ist unverständlich.
Billy Weston [Franks Mann für alles] hat sie mir recht ausführlich beschrieben. „Die hat immer Ärger gemacht“, sagte er. Und dann benutzte er eine jener besonders bildhaften amerikanischen Wendungen. “ Sie war“, und nun hielt er einen Augenblick inne und starrte in die Ferne, als würde sein Gehirn, das Organ an sich, von der Quetschkommode seiner Erinnerung mit aller Macht zusammengepresst, „eine wahre Landplage.“
(Über Miriam in der Fußnote auf Seite 51)
Insbesondere die Auseinandersetzungen mit Miriam, nachdem er sich auf Olgivanna eingelassen und diese geschwängert hatte, müssen den Mann nicht nur sehr viel Geld und jede Menge Nerven gekostet haben. Auch seine Reputation wird gelitten haben, und Kunden, die alle paar Wochen oder Monate in Zeitungen und Magazinen nachlesen konnten, mit welch einem Windbeutel sie sich da eingelassen hatten, werden abgesprungen sein.
Aber immerhin, die Kampfszenen mit Miriam gehören textlich mit zum Besten, was der Roman zu bieten hat:
Miriam kannte jetzt kein Halten mehr, eine turbantragende, juwelengeschmückte Harpyie, die flügelschlagend und mit ausgestreckten Krallen durch die Lüfte sauste, die Kiefer zu einem unirdischen Wutschrei aufgesperrt, sie gewährte kein Pardon und erwartete auch keines.
(Seite 118)
Über die Erzähler
In vielen seiner biografischen Historienromanen setzt Boyle erfundene Erzähler ein, die in seinen Versionen der Lebensgeschichten dem jeweils Portraitieren nahe standen. Aber in keiner anderen Romangeschichte übergibt er den kompletten Text diesen fiktiven Erzählern.
Tadashi Sato, das macht uns Boyle weis, habe den gesamten Text im Jahr 1979 im Alter von 71 Jahren in Nagoya geschrieben. Dabei sei er von seinem „Koautor und Übersetzer […], dem jungen Seamus O’Flaherty, einem irischstämmigen Amerikaner, der mit seiner Enkelin Noriko verheiratet ist (Seite 34)“ unterstützt worden.
Weiter oben habe ich ja schon erwähnt, dass Sato durchaus mit dem großmächtigen Gebaren seines Mentors Wrieto-San haderte. Als Beispiel mag Wrights Kritik an Satos auffälligem Automobil dienen, obwohl er selbst stets teure und aufsehenerregende Fahrzeuge bevorzugte. Oder die Rolle der Wrights als Verhinderer einer Romanze zwischen Sato und einer US-amerikanischen Architekturschülerin namens Daisy; diese Verbindung torpedierte Frank, obwohl er für sich selbst und seine Liebesbeziehungen ganz andere Maßstäbe reklamierte. War Wright womöglich auch nur ein überheblicher Kleingeist seiner Zeit? – Quod licet Iovi, non licet bovi?
Und dann kommt noch, sozusagen durch die Hintertür, dieser O’Flaherty-San ins Spiel. Der ist nicht nur interkultureller Ehemann einer Japanerin, sondern auch hintergründiger Enttarner von Wrieto-Sans Doppelmoral.
Einordnung
Allzu gut kommt Frank Lloyd Wright in T. C. Boyles Geschichte nicht weg. Einerseits zwar wird er durchaus als richtungsweisender Architekt beschrieben, dessen Arbeitspensum bewundernswert gewesen sein muss. Aber auf menschlicher Ebene überwiegen seine charakterlichen Schwächen. In Bezug auf Partnerschaft und auf Sozialverhalten muss man Wright wohl als Totalversager einstufen, wenn man Boyles Erzählung Glauben schenkt.
Herausgekommen ist eine strukturell ungeheuer komplexe Geschichte, die wirklich nicht einfach zu lesen ist, aber handwerklich einzigartig ist. Dem Autor ist es gelungen, sich hinter seine Erzählfiguren zu stellen, ohne den eigenen Zeigefinger in die Höhe zu recken.
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Wer diese Rezension gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind. Darüber hinaus ist Die Frauen einer der biografischen Romane, für die Boyle längst weltbekannt ist.
Fazit:
Die Frauen ist ein hervorragend gelungenes Portrait eines Gestaltungsphilosophen und vor allem dessen Defizite auf persönlicher Ebene. Rein formal betrachtet ist der Aufbau der Geschichte ein in der Unterhaltungsliteratur selten zu findendes Kleinod. Die Lektüre ist vor allem solchen Leser¦innen zu empfehlen, die ein ausreichendes Maß an Geduld mitbringen. Und die sich über Gedankensprünge sowie mehr oder weniger gut versteckte Seitenhiebe freuen können.
Aus meiner sehr subjektiven Sicht hätte der Roman gut und gern einmal wieder fünf Sterne abbekommen können. Aber mein Bewertungsalgorithmus ist streng, und für schwierige Lesbarkeit und eine gewisse Behäbigkeit auf den ersten fünfzig Seiten, die erst einmal überwunden werden müssen, gibt es Punkteabzug. Aber immerhin bleiben noch ausgezeichnete vier der fünf möglichen Sterne übrig.
T. C. Boyle: The Women | Die Frauen
🇺🇸 Viking Press, 2009
Carl Hanser Verlag, 2009
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Fußnote:
¹ — Seit 1993 leben T. C. Boyle und seine Frau Karen Kvashay in einem der Prairie Houses, die der Architekt Frank Lloyd Wright entworfen hatte.
Geschichte des Hauses
Etwa hundert Jahre zuvor waren George C. Stewart, ein schottischer Buchhalter, und seine Frau Emily nach Kalifornien ausgewandert und ließen sich in Fresno nieder, wo sie einen Weinberg und Obstgärten bewirtschafteten. Als Standort für ihr Ferienhaus wählten sie Montecito, damals eine ländliche Stadt östlich von Santa Barbara. Möglicherweise wurden die Stewarts durch Designmagazine auf Wrights Arbeit aufmerksam.
Wright stellte seinen Entwurf Monate vor der berühmt-berüchtigten Europaflucht mit seiner Geliebten Mamah Cheney fertig. Wright war von diesem Entwurf so überzeugt, dass er eine beeindruckende perspektivische Zeichnung in sein Wasmuth Portfolio aufnahm. Fertiggestellt wurde das Haus im Jahr 1910. Es war Wrights erster Auftrag an der Westküste und ist sein einziges Haus im Prairiestil am Pazifik. Im biografischen Roman über den Architekten findet sich lediglich ein halbzeiliger Hinweis auf das Haus, und das auch noch in einer Fußnote und mit abweichender Schreibweise des Namens: „* Das George-C.-Stuart-Haus, 1909. (Seite 422)“
Wright bezeichnete das Haus auf seinen Plänen als „Sommerhaus“, obwohl es mit 420 m² deutlich größer ist, als man erwarten würde. Das Haus hat einen kreuzförmigen Grundriss und ist außen mit einer Verkleidung aus Redwoodholz versehen. Den Fenstern dieses „Sommerhauses“ widmete Wright besondere Aufmerksamkeit. Ursprünglich stand das Haus auf einem Grundstück von zwei Hektar. Ställe, die sich ebenfalls auf dem Originalgrundstück befanden, wurden später in ein separates Haus umgewandelt und verkauft. Das Grundstück des einstigen Stewart House besteht heute noch aus 4.000 m². Ein Gästehaus mit zwei Schlafzimmern befindet sich ebenfalls auf dem Gelände, das dichten Baumbestand aufweist und im Wohnviertel Coast Village liegt, in Nachbarschaft zu einem Golf Club.
(Quelle: waymarking.com)
Wer sich für Außen- und Innenaufnahmen des Hauses interessiert, wird auf dem Twitteraccount des Schriftstellers fündig. Boyle postet dort ab und zu Detailfotos seines Hauses.
Notiz am Rande
Den Roman Die Frauen hat T. C. Boyle seiner eigenen Ehefrau Karen gewidmet. Den Grund dafür erfahren wir in einem Interview mit dem ZEITmagazin:
„Ich hatte [Anm.: die Häusersuche bei Santa Barbara] schon aufgegeben und war kurz davor, irgendwo in die Berge zu ziehen.“ Dann habe seine Frau eine Verkaufsanzeige für das Frank-Lloyd-Wright-Haus gesehen. „Ich dachte, das wird viel zu klein sein, zu alt, da gehe ich nicht mit.“ Seine Frau sei dennoch zum Besichtigungstermin gefahren und habe ihn aus dem Haus angerufen. „Sie weinte, weil sie dachte, dass ich in dieses Haus nie einziehen würde. Am nächsten Morgen sind wir gemeinsam durch die Tür da vorne gegangen und ich habe es sofort geliebt. Sie hatte recht gehabt, und wir kauften das Haus. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum wir immer noch verheiratet sind!“ (ZEITmagazin 2022/1, Seite 69)