Nach seinem Erstling Wassermusik ist Willkommen in Wellville der zweite der biographischen Romane T. C. Boyles. Und auch diesmal ist es ein „Berufener“, den der Autor portraitiert. Dr. John Harvey Kellogg war nicht nur der Miterfinder der Corn Flakes sondern betrieb mehr als sechzig Jahre lang das Battle Creek Sanatorium. Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis in die Jahre der Weltwirtschaftskrise behandelte Kellogg die Essstörungen wohlhabender Amerikaner nach Grundsätzen und mit Methoden, die nach heutigen Maßsstäben einerseits Stirnrunzeln hervorrufen, aber andererseits durchaus den Nerv der Zeit treffen könnten. Drei Schlagwörter zum Credo des Kurdoktors: Vegetarische Ernährung ist gesund! Sex ist ungesund! Und Masturbation ist eine Sünde! – Boyle hält sich eng an die historischen Fakten, obwohl er natürlich seine Version der Geschichte erzählt, so wie sie sich zugetragen haben könnte.
Willkommen in Wellville ist der insgesamt fünfte Roman des US-Autors und erschien im Original zwei Jahre nach Der Samurai von Savannah und drei vor América. Schon mit diesem Werk zeichnete sich ab, welche Persönlichkeiten Boyle für seine Biografien bevorzugt: Menschen mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein, ambitionierten Ideen und unbeirrter Hartnäckigkeit, die aber doch alle letztlich scheiterten.
Letztlich konnte auch Dr. Kellogg, der sich und anderen mehr Klistiere verabreicht hatte als sonst irgend jemand auf der Welt, der mehr Gemüse gegessen, weniger geraucht, weniger getrunken, weniger geschlafen und mehr körperliche Übungen gemacht hatte als praktisch jeder andere seiner Zeitgenossen, nicht ewig leben. Am 14. Dezember 1943 segnete John Harvey Kellogg das Zeitliche […].
(Schlussatz auf Seite 626)
Worum geht es?
Wer von Euch hat noch nie zum Frühstück eine Schale Corn Flakes, Rice Krispies, Smacks, Cornfrosts oder andere Frühstückflocken der Firma Kellogg’s ertränkt in Milch vertilgt? Die Erfolgsgeschichte dieser Marke nahm ihren Ursprung im Jahr 1897, als die Brüder John Harvey und Will Keith Kellogg im US-Städtchen Battle Creek die Sanitas Food Company gründeten. Es war schließlich Will, der aus diesen Anfängen ein Milliardenunternehmen machte. Und es ist Wills stilisierte Unterschrift, die noch heute die Pappschachteln mit Frühstücksflocken in aller Welt ziert. – Doch Boyles Roman beschäftigt sich mit dem anderen Bruder, der vor hundertzwanzig Jahren zum Vorreiter in der Arena der gesunden Ernährung wurde.
Das „San“
Eine freikirchliche Adventistengemeinde hatte 1866 in Battle Creek ein Sanatorium gegründet mit naturheilkundlichem Schwerpunkt und verbindlichen Glaubenssätzen: Verzicht auf Fleisch, Alkohol, Tabak und Kaffee sowie Betonung der Heilkraft von Frischluft und Sonne. Der frisch promovierte Alternativmediziner Dr. John Harvey Kellogg übernahm 1875 die Leitung. Wenige Jahre später hatte Kellogg die Gemeinde ausgebootet und betrieb das Kurhaus in Eigenregie. Das Haus brannte einmal bis auf die Grundmauern nieder. Doch Kellogg baute es erneut auf und zog zahlungskräftiges, prominentes Publikum an. Das „San“ wuchs, bis sich der Doktor übernahm: Nach dem Schwarzen Freitag am 25. Oktober 1929 brach die Zahl der Kurgäste ein und das Haus unter der Schuldenlast zusammen.
Der Doktor
An dieser Stelle verlassen wir die historisch verbürgten Tatsachen und begeben uns in die Romangeschichte T. C. Boyles. Kellogg ist hier ein fanatischer, diktatorischer Gesundheitsapostel, der über jegliche Selbstzweifel erhaben ist. Klein von Wuchs, aber größenwahnsinnig im Gebaren tyrannisiert der Mann nicht nur seine Angestellten, sondern auch Kurgäste und Patienten. John Harvey Kellog ist sein „eigenes Licht und Leuchtfeuer“ (Seite 606), ein „Leuteschinder“ (Seite 546), ein Scharlatan, ein napoleonischer „weißgekleideter kleiner Diktator“ (Seite 520), der keinen Widerspruch duldet.
Im Akkord diagnostiziert der Doktor schwerste Fälle von Selbstvergiftung durch Fleisch- oder Alkoholgenuss („Autointoxikation“) sowie chronische Erschöpfungszustände dank falscher Lebensweise („Neurasthenie“). Seine Therapie besteht unweigerlich aus Seifen- oder Joghurteinläufen im Stundenrhythmus und sofortiger Umstellung auf streng vegetarische Diät. Darüber hinaus verbietet er strikt jegliche Art der sexuellen Aktivität. Sein Mantra ist stets die wissenschaftlich einwandfreie „physiologische“ Lebensweise.
Sogar über Todesfälle in seiner Klinik geht Kellogg wie über unvermeidliche Kollateralschäden hinweg: Sein hoffnungslos überforderter Assistent erliegt dem Herztod, ein Kurgast stirbt nach einem Stromschlag, eine schwerkranke Patientin krepiert – womöglich nach Fehldiagnose und Fehlbehandlung? Konsequenzen für den Doktor haben solche Ereignisse jedenfalls nicht. Mit unermüdlicher Energie beseitigt Kellogg jeglichen Zweifel, alle Widersacher und Konkurrenten.
Dramatis Personae
Seine Geschichte über die Gesundheitsindustrie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt Boyle aus den Perspektiven von vier Personen.
Da ist natürlich zunächst Dr. John Harvey Kellogg, der immer wieder das Ruder der Erzählung in die Hand nimmt. Die Leserschaft staunt dann über die selbstzweifelsfreien Auftritte des Gottes in Weiß, der sich stets dank seiner unüberwindlichen Energie durchsetzt. Allerdings nehmen die Auftritte Kelloggs keinesfalls dominante Anteile der Romanhandlung ein. Viel mehr Raum räumt Boyle seinem Begleitpersonal ein.
Das Ehepaar Lightbody
Den Einstieg in die Geschichte verschaffen uns Will und Eleanor Lightbody. Die beiden stammen aus Peterskill; ja, das ist einmal mehr der fiktionalisierte Geburtsort Boyles. Eleanor ist eine erklärte Adeptin des Gesundheitsdoktors und schleppt ihren magenkranken Mann zu einer mehrmonatigen Kur ins „San“. Die Frau erweist sich außerdem als äußerst empfänglich auch für andere Gesundheitsangebote im Umfeld des Sanatoriums. Dabei entfremdet sie sich immer mehr von ihrem Ehemann.
Will Lightbody hingegen fungiert als skeptischer Kontrapunkt zu den diktatorischen Machenschaften Kelloggs. Immer wieder bricht Will aus, hinterfragt und widersetzt sich. Letztlich triumphiert Will mit Beharrlichkeit und gesundem Menschenverstand. Er erkennt, dass er „sein Rückgrat, sein grundlegendes Menschenrecht verloren hatte, über seinen Körper und seine Funktionen selbst zu verfügen“ (Seite 563).
Nach einem halben Jahr wußte er, wie man sich zu verhalten hatte – lächle, bis dir das Zahnfleisch weh tut, sieh gesund und einfältig aus und gib nichts preis. Vor allem stell keine Fragen und erwarte keine Antworten.
(Seite 520)
Der einzige Akteur, dem es gelingt, letztlich die Tyrannei des kelloggschen Imperiums zu durchbrechen, ist Will Lightbody.
Charlie Ossining
Auch der vierte Erzähler stammt aus Peterskill, siehe oben. Mit der Figur des Charlie Ossining erweitert sich Boyles Erzählung um einen weiteren Handlungsstrang. Der junge Mann hat sich nämlich vorgenommen, reich zu werden, und will zu diesem Zweck in die Industrie der gesunden Ernährungsprodukt einsteigen, die sich rund um die Kurklinik Kelloggs gebildet hat. Wie schon so viele vor ihm beabsichtigt Charlie, mit Hilfe des Startkapitals, das ihm seine wohlhabende Ziehmutter an die Hand gegeben hat, in die Frühstücksflockenindustrie einzusteigen.
Zunächst scheint Charlie der ersehnte Einstieg zu gelingen. Er findet einen umtriebigen Geschäftspartner und sogar einen weiteren Geldgeber (Will Lightbody). Doch schon zu viele Konkurrenten haben vor ihm das Geschäftsfeld beackert und sind gescheitert; davon wird noch zu reden sein. Also lässt uns der Autor den sympathischen Charlie dabei begleiten, der Zeit beim Verrinnen zusehen zu müssen, seinen Geschäftspartner als Betrüger zu entlarven und zuletzt gar selbst als Kelloggs unliebsamer Kontrahent endgültig kalt gestellt zu werden.
Einordung & Bewertung
Vordergründig präsentiert uns T. C. Boyle eine Teilbiografie des selbsternannten Gesundheitsgurus John Harvey Kellogg, der auch vor Lügen und Erfindungen nicht zurückschreckt, um seine hehren Ziele durchzusetzen. In seiner missionarischen Hybris zieht dieser von sich selbst eingenommene Vegetarierpapst locker gleich mit dem Egomanen Frank Lloyd Wright aus Die Frauen. Doch darüber hinaus konfrontiert uns der Autor mit zwei zusätzlichen Momenten des unvermeidlichen menschlichen Dilletantismus.
Goldgräberstimmung
Historisch belegt ist die Tatsache, dass damals im Umfeld der Kurklinik und der Maisflockenproduktion der beiden Kelloggbrüder in Battle Creek eine Nachahmerindustrie Fuß zu fassen suchte. Die Aussicht auf enorme Gewinne dank der Nachfrage nach (vermeintlich?) gesunden Lebensmitteln und geringer Produktionskosten rief eine Vielzahl von Glücksrittern auf den Plan. Gierig wollten sie alle einen Teil vom großen Kuchen abhaben, obwohl sie nicht die geringste Ahnung von Produkten und Rahmenbedingungen hatten. Seinen Charlie Ossining lässt Boyle genau in diese Falle tappen.
Enthusiastische Gutgläubigkeit
Die interessanteste Perspektive des Romans besteht jedoch – zumindest aus meiner Sicht – in einem Defizit unserer Spezies, das Boyle in der Person von Eleanor Lightbody in seine Geschichte einbringt. Aus welchen Gründen auch immer, sei es aus Langeweile, aus fehlender Lebensperspektive, oder aus Frustration und Selbstmitleid, verschreibt sich Eleanor mit Haut und Haar dem neuen, ultimativen Gesundheitstrend aus Battle Creek, ihrer erhofften Erlösung. Sie erkennt sich als kranke Frau, die Heilung sucht; nicht nur körperliche Heilung, sondern vor allem seelische.
Dank solcher Sinnsuchenden gelingt es den unterschiedlichsten Scharlatanen auf verschiedensten Gebieten immer wieder, ihre Opfer zu finden, die bereit sind, erhebliche Geldsummen aufzubringen, um endlich den definitiven Weg des Heils zu finden. Im Falle von Eleanor ist es zunächst John Harvey Kellogg, und als der nicht mehr ausreicht, ein gewisser Dr. Spitzvogel. Diesem Pseudomediziner gelingt es tatsächlich, Kapital aus seelischer Vereinsamung und aus sexuellen Bedürfnissen unter dem Deckmantel einer alles anderen als seriösen Behandlungsmethode zu schlagen. – Wieso fällt mir in diesem Zusammenhang auf einmal der Trickbetrug der Nigeria-Connection ein?
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Wer diese Rezension gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind. Darüber hinaus ist Willkommen in Wellville einer der biografischen Romane, für die Boyle längst weltbekannt ist.
Fazit:
Willkommen in Wellville ist eine auch nach dreißig Jahren noch immer hochaktuelle Romangeschichte. Die Menschheit ist seit jeher auf der Suche nach einem Weg zur Gesundheit, ohne dafür selbst Verantwortung übernehmen zu müssen. Übergeben wir doch diese Verantwortung denen, die sich damit auskennen! Wenn wir die aktuelle Börsenbewertung der Firma Novo Nordisk dank ihres Adipositas-Medikaments Wegovy betrachten, wird klar, dass sich daran nichts geändert hat.
T. C. Boyle hat die Sehnsucht nach Gesundheit in eine Biografie über einen der ersten Ernährungspäpste der Geschichte gepackt, dabei aber auch die begleitenden Gefahren nicht vergessen. Ich empfehle die Lektüre allen, die schon einmal Corn Flakes gegessen haben. Oder aber sich dafür interessieren, wie Menschen ticken, die sich auf einem gesundheitlichen Selbstfindungstrip befinden.
Der Roman ist nur sehr knapp an den vier Bewertungssternen vorbeigeschrammt. Sehr gute drei von fünf Sternen ist er mir aber allemal wert. – „Wellville“ ist immer und überall!
T. C. Boyle: Welcome to Wellville
| Willkommen in Wellville
🇺🇸 Viking Press, 1992
Carl Hanser Verlag, 1993
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