Wassermusik

T. C. Boyle, Wassermusik, 1987
T. C. Boyle, 1987

Es kann dauern. Aber wenn einem ein Autor gefällt, dann landet man unweigerlich irgendwann bei seinem Erstling. Und so bin ich als „hard-boiled“ Fan von T. C. Boyle jetzt bei Wassermusik angekommen, einem Roman, der inzwischen über vierzig Jahre alt ist und dessen deutsche Erstübersetzung auch nur fünf Jahre jünger ist. Die Geschichte über den britischen Afrikareisenden Mungo Park ist eine Art Entwurf für viele spätere Boyle-Ro­mane. Er hat den US-Schrift­stel­ler weltbekannt gemacht. Allerdings habe ich nicht die Originalübersetzung aus dem Rogner & Bernhard Verlag gelesen, sondern eine Neuübersetzung durch den boyleschen Haus-und-Hof-Dol­­met­­scher Dirk van Gunsteren aus dem Jahr 2014. (Und dann auch noch im Urlaub als E-Book statt auf Papier.)

Mungo Park, die historische Hauptfigur in Wassermusik, wurde 1771 in Schottland geboren. Er verstarb im Alter von 35 Jahren während seiner zweiten Expedition zum und auf dem nordwestafrikanischen Fluss Niger, dessen Verlauf er erkunden wollte. Doch mit einer spröden oder meinetwegen sachlichen Abenteurerbiografie begnügt sich T. C. Boyle wie immer nicht. Er bietet seiner Leserschaft zwei weitere Handlungsstränge: einen naheliegenden, nämlich die Geschichte der in Großbritannien verbliebenen Verlobten und späteren Frau Parks, Allison a. k. a. Ailie; und eine dritte Erzählung um einen Glücksritter namens Ned Rise, dessen Geschichte sich erst spät mit der des Afrikaforschers Park verknüpft. – Alles in allem eine aberwitzige Erzählung, nach deren Muster noch viele weitere Boyle-Ro­­ma­ne folgen sollten.

Wassermusik – Was geht ab?

Dem Handlungsstrang über Mungo Park fügt Boyle über die bekannte, historisch belegte Faktenlage hinaus kaum Weltbewegendes hinzu: Park begibt sich zunächst auf eine erste Afrikaexpedition, die er nur mit großem Glück überlebt und zu seiner Verlobten Ailie nach Schottland zurückkehrt, um seine Herzdame zu ehelichen und sie mehrfach zu schwängern. Trotz seiner fürchterlichen Erfahrungen während der ersten Reise treibt „der Entdecker“ seine Pläne voran, eine zweite, besser organisierte Expedition durchzuführen. Nach mehreren Jahren des Wartens tritt Park zusammen mit seinem Schwager eine vermeintlich bestens vorbereitete zweite Expedition zum Niger an, die sich jedoch von Anfang bis Ende als Schreckensreise gestaltet.

„Ich höre es in meinen Träumen, ich höre es am Morgen, wenn ich erwache und die Vögel in den Bäumen singen: Es ist ein Wispern, ein Klingeln, es ist der Klang von Musik. Und weißt Du, was es ist? Der Niger. Er fließt, er strömt, er strebt seiner verborgenen Mündung und dem Meer entgegen. Das ist es, was ich höre, Ailie, Tag und Nacht. Musik.“
(Seite 428)

Boyles schottischer Entdecker ist ein von Ehrgeiz besessener, bemitleidenswerter Träumer. Er schlägt von Anfang an und bis zum Schluss die Ratschläge seiner Begleiter in den Wind, um zuletzt – absolut vorhersehbar – kläglich zu scheitern und sein Versagen auf planerischer, organisatorischer und persönlicher Ebene mit dem Leben zu bezahlen. – So weit, so gut. Oder so schlecht.

Allison Park

Die Protagonistin der zweiten Geschichte ist kaum besser dran. Mungo Parks Ehefrau Allison, genannt Ailie, hatte schon die erste Reise ihres damaligen Verlobten nur schwer verwunden. Zwar hatte sie allen Überredungsversuchen ihrer Umwelt störrisch getrotzt, den Entdecker abzuschreiben und sich mit dem Gehilfen ihres Vaters zu verheiraten. Doch als Parks dann tatsächlich zurückkehrt, sich jedoch in London feiern lässt, statt sofort zu ihr eilen, ist Ailie arg verstimmt. Und dennoch lässt sich die Frau besänftigen. Sie heiratet ihren Mungo und versucht, ihn durch ständigen Familienzuwachs zum Bleiben zu bewegen.

Natürlich funktioniert das nicht. Mungo und Ailies Bruder Zander schleichen sich fort, auf zum Niger. Die Verlassene schwankt zwischen Selbstzweifel und Groll auf den egoistischen Ehemann. Sie lässt sich auf ein Techtelmechtel mit einem früheren Verehrer ein. Aber dann lässt Boyle seine frühe Feministin einknicken. Nachdem sie einem Verführungsversuch ihres Verehrers erliegt, schreckt Ailie vor der eigenen Courage zurück. Fortan betet sie nur mehr den (längst verstorbenen) Ehemann an und wird zur frömmelden Witwe ohne Perspektive für die Zukunft.

In gewissem Maß erinnert mich die Entwicklung von Allison Park in ihrer Mischung aus Aufbegehren und Resignation an die Frauenschicksale aus dem Roman San Miguel, den Boyle dreißig Jahre nach Wassermusik schrieb.

Ned Rise

T. C. Boyle spickt seine Variante der Entdeckergeschichte mit erfundenen Gestalten und Szenen pittoresken Zuschnitts. Nur ein Beispiel dafür ist die Figur von Johnson, einem dunkelhäutigen Afrikaner, der in England gelebt hatte und Park auf dessen erster Nigerreise als Ratgeber und Dolmetscher diente. Johnson wird direkt nach Ankunft am Niger von einem Krokodil in die Tiefe gezogen. Und doch ersteht er wieder auf und wird bei der zweiten Reise unter dem (historisch verbürgten) Namen Isaaco erneut zu Parks Reisebegleiter.

Ebenfalls ein Wiederauferstandener ist Ned Rise, eine fiktive Figur, dessen Leben Boyle im dritten Handlungsstrang erzählt und über den der Romanautor Lokalkolorit der englischen Unterschicht im ausgehenden 18. Jahrhundert in seine Geschichte einschleust. Rise ist ein Stehaufmännchen, das immer wieder kräftig auf die Nase fällt, um dann doch irgendwie und irgendwann wie ein Phönix aus der Asche emporzusteigen. Mehrfach wird der Mann fast zu Tode geprügelt, bis auf die Wäsche ausgeraubt und einmal sogar in London am Galgen aufgehängt. Doch dem Überlebenskünstler gelingt es letztlich sogar, als einziger den Überfall tausender wütender Afrikaner auf Mungo Parks Nigerboot H. M. S. Joliba in den Stromschnellen bei Boussa zu über- und von da an fern der Heimat bei Pygmäen weiterzuleben.

~

Aus der Sicht dieser drei Personen – abwechselnd Mungo und Allison Park sowie Ned Rise – erzählt T. C. Boyle seine Geschichte über die Niger-Forschungsreisen um das Jahr 1800. Auch das ist übrigens ein typisches Stilmittel des Schriftstellers, auf das er in den meisten seiner späteren Romane zurückgreifen sollte:
Man nehme eine Handvoll Personal und lasse dieses im Wechsel eine Geschichte erzählen. Tagebuchartig in der Ich-Form oder etwas distanzierter in der dritten Person. Die Erzählungen aus den unterschiedlichen Perspektiven dürfen sich überlappen, damit die Leserschaft nicht so leicht den Faden verliert und vielleicht auch um unterschiedliche Sichtweisen der Protagonisten deutlich zu machen. Ein schönes Spiel mit Wahrnehmung, Ehrlichkeit und Lüge.
Denn auch das ist ein Kennzeichen der boylschen Literatur: Er liebt es, seine Protagonisten zu entlarven.

Wassermusik – Einschätzung

Man kann schon verstehen, warum die Leserschaft den Romanerstling eines bis dahin unbekannten Autors so begeistert aufgenommen hat. Boyle war 34, hatte seine wilden Jahre hinter sich. Er lehrte Englisch an der University of South Carolina und hatte sich in Kalifornien niedergelassen. 1982 war das Jahr, in dem ein Helmut den anderen als deutscher Bundeskanzler ablöste (Kohl nach Schmidt), in dem Juri Andropow vom russischen KGB-Chef zum Staatssekretär des Zentralkomitees wechselte, in Spanien der Sozialist Felipe Gonzales Ministerpräsident wurde und der US-Prä­si­dent Ronald Reagan eine Rede vor dem deutschen Bundestag hielt. Über vierzig Jahre ist das alles her, die Welt war damals eine andere als heute. – Aber die Romane T. C. Boyles haben sich nicht verändert.

Seine Rezeptur

Damals wie heute schreibt Boyle seine Geschichten mit unverkennbar fatalistischem Grundtenor, einer Mischungen aus historisch Belegbarem und höchst unterhaltsamen Skurrilitäten, manchmal fiesem Humor aus seiner niemals versiegenden Gedankenwerkstatt. „Ich brauche immer etwas, was meine Vorstellungskraft stimuliert, damit ich dann damit losfliegen kann“, sagte Boyle in einem Interview mit Peter Nowogrodzki im Jahr 2019.
Das galt für die Wassermusik ebenso wie zwanzig Jahre später für meine allereste Boyle-Lek­tü­re Drop City (2003) und auch für seinen derzeit letzten Roman Blue Skies (2023). Immer wieder von Neuem tischt uns der Schriftsteller seinen Lieblingscocktail aus Naturverbundenheit, Interesse an Wissenschaft und Forschung, Biologie und der ungeheuren Absurdität menschlichen Verhaltens auf.

Dieses Rezept sollte man sich bei der Lektüre von Wassermusik vor Augen halten. Denn es zieht sich wie ein roter Faden auch durch die anderen Romane Boyles. Damit hat er sich eine treue Lesergemeinde erarbeitet. Nicht zuletzt in Deutschland gibt es jede Menge Boyle-Ver­eh­rer.

Jedenfalls ist es T. C. Boyle schon bei seinem ersten Anlauf als Romancier gelungen, aus einer nur mäßig interessanten Entdeckerbiografie eine rasante, spannungsgeladene Romangeschichte zu machen, die zu allem Überfluss auch noch humorvoll rüberkommt. Obwohl die historische Begebenheit an sich ja eher ein Drama ist.

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Wer diese Rezen­sion gern gele­sen hat, inte­res­siert sich even­tuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind. Darüber hinaus ist Wassermusik einer der biografischen Romane, für die Boyle längst weltbekannt ist.

Fazit:

Wenn man so wie ich bereits mehrere Boyle-Ro­ma­ne vor der Wassermusik gelesen hat, wirkt sein Erstling wie eine mächtige Blaupause für viele andere Geschichten des US-Schrift­stel­lers. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, den Einstieg in das Werk des Autors mit Wassermusik zu beginnen. Wahrscheinlich ist es einfacher, mit einem seiner Romane loszulegen, die einen zeitlich näheren Bezug zur persönlichen Aktualität haben und von Begebenheiten handeln, die jünger als 200 Jahre sind. Aber natürlich ist der erste Roman T. C. Boyles ein Muss für alle Fans des Schriftstellers. Seine mit Humor gepaarte Schicksalsergebenheit war bereits damals umwerfend.

Beim Lesen war für mich sehr schnell klar, dass Wassermusik nach meinem bewährten Sternealgorithmus glatte vier von den fünf möglichen Sternen bekommen würde. Und so kam es dann schließlich auch.

T. C. Boyle: Water Music | Wassermusik
🇺🇸 Littlehampton Book Services, 1982
🇩🇪 Rogner & Bernhard Verlag, 1987

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