Blue Skies

T. C. Boyle, Blue Skies, 2023
T. C. Boyle, 2023

Der neunzehnte Roman des US-Best­sel­ler­autors T. C. Boyle trägt den Titel Blue Skies – „Blauer Himmel“. Doch der idyllische Romantitel trügt, das kann man bereits unschwer an der Umschlaggestaltung erkennen. Denn der ständig blaue Himmel, wie er in der kalifornischen Heimat Boyles vorherrscht, bringt glühende Hitze, Waldbrände und Tod mit sich. Kalifornien verbrennt, während an der Ostküste in Florida das Land im Dauerregen und Überschwemmungen versinkt. Blue Skies ist dystopischer Katastrophenroman, Ökothriller und satirische Überspitzung in einem. Mitten im Umweltdebakel stehen Boyles Protagonisten, die Mitglieder der Familie Cullen: Mutter Ottilie, Sohn Cooper und Tochter Catherine; als Vertreter der Betroffenheitsfraktion der Babyboomer einerseits, der Klimaaktivisten und der Lifestyleszene andererseits. Diesen dreien bleibt in Boyles Geschichte wirklich nichts erpart.

„Wenn das das neue Normal wird, wie leben wir dann damit?“, fragte der Autor in einem Radiointerview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg. Genau diese Frage versucht er, in seinem aktuellen Roman zu beantworten.

Blue Skies – Worum es geht

Oberflächlich betrachtet erzählt Boyle die Geschichte der Familie Cullen, die aus den Eltern Ottilie und Frank – beide in ihren Siebzigern – sowie deren beider erwachsener Kinder besteht, Cooper und Catherine, genannt Cat. Die Cullens stammen aus Kalifornien, die Eltern leben bei Santa Barbara, ihr Sohn ganz in der Nähe. Tochter Cat ist mit ihrem Verlobten Todd nach Florida umgezogen, ins geerbte Strandhaus der verstorbenen Mutter Todds. Die Handlung erstreckt sich mit ein paar Lücken über sechs oder sieben Jahre unserer aktuellen Gegenwart.

Als wechselnde Erzähler treten lediglich Cat, Cooper und Ottilie auf. Ottilies Mann sowie diverse Freund¦innen, Partner und Bekannte der drei laufen als Begleitpersonal mit. Die Lebensumstände der Cullens sind geprägt von klimatischen Extrembedingungen: In den kalifornischen Teilen der Geschichte haben sich Hitze und Trockenheit der heutigen Realität an der amerikanischen Westküste weiter gesteigert. Temperaturen um die vierzig Grad sind Normalität, selbst in den Wintermonaten sinken sie oft nicht mehr unter die 30°-Marke. Wasser, selbst für das tägliche Leben, ist zum rationierten Gut geworden, Stromausfälle sind mittlerweile an der Tagesordnung.

An der gegenüberliegenden Ostküste, im „Sunshine State“ Florida ertrinkt das Land in nicht endenden Regenfällen. Strände werden weggespült, das Meer überflutet die Küstenregionen. Ehemals begehrte Häuser in Strandlage werden unbewohnbar. Und sofern sich deren Inhaber nicht längst verabschiedet haben, sind sie gezwungen mit Booten bis in höher liegende Regionen zu fahren, wo sie ihre Autos abstellen. – Venedig oder Amsterdam unter Extrembedingungen. Mit Alligatoren und Fischschwärmen auf den Straßen.

Schicksale

Unter solche Umständen leben also die Cullens im Westen und Osten der USA. Und sie tun, was sie können, um sich mit dem Unabwendbaren zu arrangieren. Ottilie versucht, Ernährungsgewohnheiten umzustellen auf Insektenmehl aus Heuschrecken oder wenigstens auf gezüchtetes Laborfleisch. Doch ausgerechnet Cooper, der „Bug Boy“ und Insektenforscher, verliert nach einem Zeckenbiss seinen rechten Unterarm. Es geht im Roman also auch um Zecken, Termiten, Moskitos, Kusswanzen, diverse Falter und Bienen.

Cat trifft es am härtesten: Sie träumt von einer ruhmreichen Zukunft als Influencerin und besorgt sich impulsiv und unüberlegt eine Pythonschlange als Accessoir, mit dem sie auf ihren Social-Media-Kanälen aufzutrumpfen versucht. Aber wie war das nochmal mit Eva und der Schlange im Paradies? War das nicht damals schon ein grober Fehler? (Or what are your thoughts on that, Mr. Boyle?) Jedenfalls: Dass so ein Python ein wildes, unberechenbares Tier ist, erkennt Cat zu spät, nämlich erst nachdem die Schlange eines ihrer Babys erwürgt.

Aber was auch immer über die Cullens hereinbricht, sie kämpfen sich durch, selbst über den Rand der persönlichen Verzweiflung hinweg. – Sehr, sehr spannend geschrieben.

Die Apokalypse

Blue Skies ist nicht der erste Boyle-Roman, in dem sich der Autor mit der menschengemachten Apokalypse beschäftigt. Das Thema ist fester Bestandteile vieler seiner Erzählungen. Und bereits im Jahr 2000 hatte er seine bislang einzige Science-Fiction-Geschichte Ein Freund der Erde geschrieben, einen Roman über globale Erwärmung, Artensterben, Treibhauseffekt, die im Jahr 2025 spielt. Auch in seinem Erzählband Sind wir nicht Menschen gibt es bereits eine Art von Vorgeschichte zu Blue Skies mit dem Titel Was Wasser wert ist, weißt du (erst, wenn du keins mehr hast).

Jetzt legt er noch einmal nach: Wasserlose Gluthölle à la Hell, Überflutung von flachen Küstenregionen und die gedankenlose Unbelehrbarkeit der Menschheit, die sich weder nach den Lehrstücken der Vergangenheit noch angesichts der unmissverständlichen Zeichen der Gegenwart ändern kann oder will.

Interessant vor diesem Hintergrund sind die drei prototypischen Protagonisten, die Boyle zu seinen Erzählern auserkoren hat:

Lifestyle-Cat

Den Romanbeginn bestreitet die Tochter der Cullens, Catherine alias Cat. Sie hat sich einen erfolgreichen Geschäftsmann als Partner geangelt, Todd, der als Markenbotschafter der Firma Baccardi durch die Welt tingelt. Damit schafft er so viel Geld ran, dass sich die beiden keine Gedanken um ihre Ausgaben zu machen brauchen. Und weil Cat eigentlich nichts zu tun hat, versucht sie sich als Influencerin. Mit ihrer Pythonschlange gelingt ihr zunächst der profitable Einstieg in die Social-Media-Szene. Cat tritt als gedankenlose Repräsentantin einer Generation auf, die niemals Mangel oder sonstige äußeren Schwierigkeiten erleiden musste. Sie lebt in Parallelwelten. Ihr Anspruchsdenken ist bezeichnend, bis zum bitteren, wirklich allerbittersten Ende. Aber selbst Cat lernt schließlich dazu.

Ottilie, die Nachkriegs-Kriegerin

Den Gegenpol zu Cat stellt deren Mutter Ottilie Cullen dar. Sie gehört der Baby­boo­mer-Ge­ne­ra­tion an, geboren in den Neunzehnfünfzigerjahren. Ottilie hat ein Leben lang geackert, zusammen mit ihrem Mann Frank dessen Arztpraxis begründet und steuert nun auf den Ruhestand zu. Sie hat stets bewusst gelebt, sich fit gehalten und sieht sich nun mit den unerfreulichen Konsequenzen der Menschheitsentwicklung konfrontiert. Doch Ottilie ist flexibel und lernbereit. Sie hört ihrem Sohn Cooper zu, versucht den klimatischen Fußabdruck ihrer Familie zu reduzieren, experimentiert mit Nahrungsumstellung auf Insektenbasis, spart Energie, wo sie nur kann. Doch sie muss erkennen, dass es längst zu spät ist, das Ruder herumzureißen. Jedenfalls für sie als Einzelne.

Es war, als wären die die Knochen der Erde freigelegt worden, und als würde die windverwehte Zukunft sie nie mehr bedecken. Alles befand sich in der Todesspirale, die Cooper schon als Teenager düster vorausgesagt hatte.
(Seite 224)

„Bug Boy“ Cooper

Die interessanteste Romanfigur – wenigsten für mich – ist Cats Bruder und Ottilies Sohn Cooper. Zum einen verkörpert er das ökologische Gewissen der Gesellschaft. Er ist Biologe, ein Wissenschaftler, der verinnerlicht hat, was die Menscheit im Begriff ist sich längst angetan hat. Cooper bringt seine Mutter auf die Spur und konfrontiert seine Schwester gnadenlos mit der Irrationalität ihres egozentrischen Verhaltens.

Zum anderen hadert auch er mit seiner Existenz. Im Privaten fehlt ihm jeglicher Lebensplan, er folgt seinen Impulsen, zum Beispiel wenn er zwischen den Betten seiner Freundin Mari, Melody, einer alten Schulzeitliebe, und seiner neuen Bekanntschaft Elytra pendelt. Den Verlust seines Armes kann Cooper mental nicht bewältigen; vielleicht mag die Amputation für das Versagen der Wissenschaft stehen, vielleicht aber auch nur für Coopers Unvermögen, mit Unveränderlichem umzugehen. – „Hör auf, Dich zu bemitleiden. Werd endlich erwachsen!“, ruft ihm irgendwann (Seite 329) sein Vater zu.

Aber bei allem Unglück haben sie ja alle drei – Cat, Cooper und Ottilie – den Alkohol, um ihre Unsicherheiten und Planlosigkeiten zu kaschieren. Es werden viel Wein, viele Margueritas und Mojitos weggesoffen in Boyles Geschichte.

Blue Skies – Bewertung

Man könnte sich auf den Standpunkt einiger Kritiker des Romans und die Frage stellen: Wozu brauchen wir noch T. C. Boyles ziemlich dick aufgetragene Geschichte zur Feststellung der menschlichen Irrwege? Wir wissen doch längst, dass wir es verkackt haben auf dem Weg von den Sammlern und Jägern bis zur Krone der göttliche Schöpfung! Wir wissen doch, dass es zu spät ist, das Ruder herumzureißen, und dass wir vielleicht noch nicht absehbar, aber dennoch unaufhaltsam auf das Ende unserer Ära zusteuern.

Aber so einfach will ich es mir und Euch nicht machen. Denn der Verdienst des Autors liegt meines Erachtens in einer außergewöhnlich gelungenen Verpackung der klimatischen Katastrophe in eine Generationenstudie, deren Stichhaltigkeit gerade in der Überspitzung der Romangeschichte sehr bemerkenswert ist.

Hinzu kommt noch ein weiterer, sehr persönlicher Aspekt, den Boyle noch in keinen seiner früheren Romane so unmissverständlich eingeflochten hat.

Autobiografisches

Wer sich mit dem Schriftsteller über Jahrzehnte hinweg beschäftigt, seine Interwiews gelesen hat und seinem Twitterkanal folgt, erkennt schnell, dass die Handelnden in Blue Skies nicht nur das übliche zeitgenössische Personal darstellen. Bekanntlich hat sich Boyle schon immer reale Persönlichkeiten gesucht, an denen er seine Romangeschichten festmachte: John Harvey Kellogg, Alfred Kinsey, Frank Lloyd Wright, Timothy Leary. Aber diesmal ist es anders:

Ottilie und Frank Cullen sind nämlich keine anderen als Boyle und seine Frau selbst. Die Romancharaktere leben punktgenau dort, wo auch der Autor lebt; sie sind gleich alt wie die Boyles; und sie sehen sich genau mit den gleichen Schrecknissen konfrontiert wie der Autor: Die kalifornischen Waldbrände fräsen sich ebenso haarscharf am cullenschen Anwesen vorbei, wie sie es unlängst ganz real am Haus von T. C. Boyle getan haben.

Brauchen wir noch ein paar weitere Details? – Wieso trägt eine der Protagonistinnen des Romans den ungewöhnlichen Namen Ottilie? Boyle selbst ist mit Karen verheiratet, die deutsche Wurzeln hat und die er gern auch im Englischen als „Frau B.“ bezeichnet. Die beiden haben einen anhänglichen Hund namens Ilka, der im Roman zwar auf Dunphy hört, sich allerdings ebenso verhält wie der boylesche Haushund in den Tweets des Schriftstellers.

Hinzu kommt, dass T. C. Boyle ein erklärter Umweltschützer ist. Auf seinem Grundstück pflanzt er unermüdlich und Jahr für Jahr Wolfsmilchgewächse, um den bedrohten Monarchfaltern Existenzgrundlage zu schaffen. Mit dem Monarchfalter sind wir zwar im Roman bei der Figur des Sohnes Cooper gelandet; doch ich verorte den Autor ohnehin irgendwo zwischen Frank, Cooper und Ottilie. Und wenn ich an die Armabtrennung von Cooper denke, dann hört sich das an wie eine brachiale Amputation von Boyles eigenen, umwelterhaltenden Handlungsmöglichkeiten, der er damit literarischen Ausdruck verleiht. (Und die er nur sehr, sehr schwer akzeptieren kann. So wie Cooper den Verlust seines Armes.)

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Und wohin letztendlich?

Ja, die gesamte Romangeschichte liest sich aus meiner Sicht wie ein gesellschaftskritisches, oder meinetwegen menschheitskritisches persönliches Vermächtnis des Ausnahmeautors. Die Frage ist: Wie soll das denn weitergehen?

„Wir werden überleben, aber wir können bereits die Verwüstungen sehen, die der Klimawandel unseren Gesellschaften gebracht hat. Und wir können uns auf den Zusammenbruch unserer Gesellschaften freuen. Wir erleben einen Aufstieg des Faschismus in Amerika und Europa. Gangs werden herrschen. Die Hoffnung wird sterben.“
(T. C. Boyle in einem Gespräch mit der DPA)

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Wer diese Rezen­sion gern gele­sen hat, inte­res­siert sich even­tuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind. Blue Skies ist zwei Jahre nach Sprich mit mir erschienen und der bislang letzte Roman des Autors. Am 20. Juli 2023 haben im Santa Barbara Museum of Art Boyle und seine Tochter Kerrie gut eine Dreiviertelstunde abwechselnd aus dem Buch vorgelesen 🇬🇧.

Fazit:

Blue Skies ist keine Dystopie, die uns wachrütteln könnte oder soll. Sie ist vielmehr eine Bestandsaufnahme. Ein sehr persönliches Zeugnis eines außergewöhnlichen literarischen Charakters. T. C. Boyle liefert mit seiner Romangeschichte einerseits eine resignierte, trostlose Sicht auf den Zustand der menschlichen Gesellschaft ab. Er schafft es aber dennoch, auf der anderen Seite, ein klein wenig Optimismus zu verbreiten. Dahingehend nämlich, dass es zwar unweigerlich bergab geht mit uns Menschen, aber immer noch ein gewisser zeitlicher Spielraum besteht, in dem wir, die wir jetzt und heute leben, unser Bestes tun könnten, um das Schreckensende hinauszuzögern.

Die Lektüre ist unbedingt allen Lesern zu empfehlen, die wie Boyle – und im Übrigen auch ich – daran glauben, dass wir zwar unweigerlich auf das Ende der humanoiden Vorherrschaft auf unserem Planeten zusteuern, dies aber nicht das Ende aller Zeiten und allen Lebens bedeutet. Es gibt schließlich auch andere Spezies, deren Blütezeiten noch bevorstehen mögen. Zwar ist es ein befremdliches, aber dennoch gewissermaßen tröstliches Szenario, das der Autor andeutet.

Der Roman hat mir außerordentlich gut gefallen. Zwar hat es für die vollen fünf Sterne nicht ganz gereicht, aber vier pralle Sternchen möchte ich auf jeden Fall vergeben.

T. C. Boyle: Blue Skies
🇬🇧 Bloomsbury Publishing, 2023
🇩🇪 Carl Hanser Verlag, 2023

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