Mit Das Spiel des Engels präsentiert der spanische Autor Carlos Ruiz Zafón den zweiten Teil seines Zyklus um den sagenumwobenen „Friedhof der Vergessenen Bücher“, einer gespenstischen Bibliothek Abertausender oder Millionen von Schriften, die tief im Herzen der Altstadt Barcelonas verwahrt werden. Das Engelsspiel knüpft allein schon durch seine Schauplätze an Zafóns Bestseller Der Schatten des Windes an, der sieben Jahre zuvor das Lesepublikum verzauberte. Doch während der Vorgänger die Verzückungen des Lesens feierte, spürt der Folgeband nun den Qualen der Schriftsteller nach.
Bei genauerem Hinsehen ist bald zu erkennen, dass der zweite Band eine Art literarisches Prequel zum ersten darstellt. Die Geschichte setzt im Jahr 1917 ein, also knapp dreißig Jahre vor dem Schatten des Windes. Sie endet schließlich in der Zeit der Geburt von Daniel Sempere, der Hauptfigur der Windschattenerzählung. Tatsächlich ist der Protagonist des Engelsspiels, ein gewisser David Martín, nicht nur Altersgenosse von Daniels Vater sondern sogar dessen Freund und Ehestifter.
David wächst unter prekären Verhältnissen auf. Die Mutter hat die junge Familie früh verlassen, sein Vater ist Kriegsveteran, Analphabet und Alkoholiker. Die Kindheit des Jungen ist eine Abfolge von Schrecken, aber immerhin setzt er sich gegen den jähzornigen Vater durch, der ihm das Lesen von Büchern verbieten will. David bewahrt sich die Liebe zur Literatur nicht zuletzt dank der Unterstützung durch Daniel Semperes Großvater, der damals Inhaber der Buchhandlung im Santa-Ana-Viertel war, die im Schatten des Windes im Zentrum der Handlung stand.
Das erste Leben des David Martín
Nun, der Vater von David Martín stirbt nach wenigen Buchseiten eines gewaltsamen Todes. Danach überlebt sein Kind nur, weil sich die Granden einer heruntergekommen Zeitungsredaktion des Jungen annehmen, in der der Vater als Nachtwächter angestellt war. In dieser Redaktion behauptet sich David zunächst als Botenjunge und bekommt nach einigen Jahren gar die Chance, eine schaurige Fortsetzungsgeschichte für die Zeitung zu schreiben. Seine Erzählung trägt den Titel „Die Geheimnisse von Barcelona“, spielt im Unterweltmilieu und wird zum Publikumserfolg.
Aufstieg und Fall
Durch Neider aus der Redaktion vertrieben, verdingt sich David als Groschenromanschreiber bei einem windigen Buchverlag, der zwar seine neue Geschichtenserie „Die Stadt der Verdammten“ erfolgreich vertreibt, dabei aber das junge Talent schamlos ausnimmt. Wie besessen schreibt David an seinen Erzählungen, vernachlässigt dabei sich und seine Gesundheit. Er ist noch keine dreißig, als ein inoperabler Gehirntumor diagnostiziert wird und das Ende seiner Schriftstellerlaufbahn sowie seines Lebens unabwendbar bevorzustehen scheinen.
Die „Großen Erwartungen“, die David in seinem Lieblingsroman von Dickens entdeckt und für sich selbst erträumt hatte, bleiben unerreichbar.
Und wenn es das Letzte sein sollte
Die wenigen Monate, die David noch bleiben, will er mit den zwei Dingen verbringen, die ihm überhaupt noch wichtig sind: mit dem eigenen großen Roman, den er unbedingt schreiben möchte; und mit einem Gefallen, den er der jungen Frau verspricht, in die er unsterblich aber ebenso unglücklich verliebt ist. Für seine Cristina schreibt er einen vollständig missglückten Roman um, den Don Pedro, Davids Mentor und gleichzeitig Cristinas Chef, begonnen hat.
Doch auch mit diesen Unterfangen scheitert der junge Mann. Zwar wird der Roman, den er für Don Pedro schreibt, ein glänzender Verkaufserfolg. Doch sein eigener floppt kläglich. Auch Davids Hoffnung, über der gemeinsamen Arbeit an Pedros Werk die Gunst Cristinas zu gewinnen, zerschellt in einem partnerschaftlichen Super-GAU: Zwar verbringen die beiden jungen Leute eine Liebesnacht, aber danach heiratet Cristina Don Pedro.
Das zweite Leben des David Martín
Kann es noch weiter nach unten gehen? David ist sterbenskrank, als Schriftsteller gescheitert und hat seine große Liebe verloren. Lägen da nicht noch fünfhundert Romanseiten vor uns, man müsste verzeifeln.
Tatsächlich nimmt Davids Schicksal eine Wende. Der geheimnisvolle französische Verleger Andreas Corelli nimmt Kontakt zu ihm auf. Er bietet dem Gestrandeten nicht nur ein Vermögen für eine einzige Erzählung an. In einer mysteriösen nächtlichen Szene befreit er den Krebskranken gar von seinem Tumor. David blüht auf, nicht nur körperlich sondern auch kunsthandwerklich. Alle Hindernisse, die ihm im Wege zu liegen scheinen, werden wie durch Wunder beiseite geräumt.
Wenn da nur nicht all die Leichen wären, die mit einem Mal Davids Weg zu säumen scheinen!
Der Pakt mit dem Teufel
Der Autor lässt schon früh keinen Zweifel daran, mit wem sich sein Zögling David da eingelassen hat. Schon nach hundert Buchseiten lässt er den undurchsichtigen Corelli einen Satz sagen, der der Leserschaft das Blut in den Adern gerinnen lässt:
„Ich weiß, was es heißt, den Vater zu verlieren, wenn man ihn noch braucht. Den Ihren hat man Ihnen unter tragischen Umständen entrissen. Meiner hat mich mich aus Gründen, die nichts zur Sache tun, abgelehnt und von zuhause verstoßen.“
(Seite 124)
Wir haben es also mit einer Variante des faustischen Motivs des Teufelspaktes zu tun. David Martín entkommt seinem erbärmlichen Schicksal nur, weil er sich auf einen Handel eingelassen hat: ein langes Leben in finanzieller Sicherheit gegen seine unsterbliche Seele.
Der Luzifer, der hier sein Engelsspiel mit David treibt, trägt edle schwarze Anzüge mit einer auffälligen silbernen Engelsspange am Revers. Er scheint allgegenwärtig zu sein und löst alle Probleme des jungen Mannes, indem er dessen Widersacher ohne zu zögern aus dem Leben befördert. Eine düstere, blutige Geschichte tischt uns Zafón diesmal auf. Es ist nicht einfach, mit all den Todesfällen Schritt zu halten. Aber wenn ich mich nicht verzählt habe, dann haben Corelli und David Martín im Laufe der Romangeschichte achtzehn Tote auf dem Gewissen. Und irgendwann entdeckt der Protagonist sogar seinen eigenen Grabstein, auf dem bereits sein Name und sein Todesjahr eingemeißelt sind. Das ist wohl der Preis dafür, wenn man sich mit dem Teufel einlässt.
Schreckenswelt
Diese finstere Geschichte bettet Zafón in eine ebenso beklemmende Umgebung ein. Die Stadt Barcelona scheint in erster Linie aus Unrat, Gestank, Industriegiften und Verfall zu bestehen. Die Architektur ist zu einer Skyline des Verfalls verkommen. Heruntergekommene, modrige Kästen beschreibt der Autor in einer Detailversessenheit, die die Leserschaft schaudern lässt. Die Fixpunkte der Geschichte sind hohe, finstere Türme, etwa das uralte Haus, in dem David sein Leben verbringt. Oder die Säulen der Seilbahn zwischen Hafen und Montjuic, in der sich zwei entscheidende Szenen der Romanhandlung zutragen. Zafóns Lieblingsbauwerke laden geradezu ein, sich aus schwindelnder Höhe hinab in die Tiefe der Hölle zu stürzen. Dazu bläst ständig kalter Wind, jagen Gewitter über die Stadt hinweg, die sintflutartige Regenfälle bringen und die Lichter Barcelonas erlöschen lassen. Aber derlei meteorologische Schreckensszenarien kennen wir ja schon aus dem Schatten des Windes.
Es scheint nur zwei lokale Ausnahmen in diesem Reich der Finsternis zu geben. Zum einen ist da der Wohnsitz von Davids Mentor Don Pedro, die leuchtende Villa Helios. Zum anderen gibt es die Buchhandlung der Semperes, die stets in heimelige Beleuchtung getaucht ist.
Unwillkürlich drängt sich der Leserschaft der Eindruck auf, Zafón habe beim Schreiben auch an eine Verfilmung der Geschichte gedacht. Schließlich hatte er in seinem Exil in Los Angeles auch als Drehbuchautor gearbeitet. Insofern ist der Begriff Prequel, den ich zu Anfang meiner Buchbesprechung gewählt hatte, gleich doppelt richtig.
Erfolgsrezept
Betrachtet man nur die Fassade, dann möchte man meinen, mit dem Spiel des Engels wieder mal einen verunglückten Folgeroman zu einem vorausgegangenen Kassenschlager vorgesetzt bekommen zu haben. Doch das stimmt nicht. Denn Carlos Ruiz Zafón verlangt seinen Leser¦innen mit dieser Fortsetzung wesentlich mehr ab als mit seinem ersten Band.
Stilmittel
Es ist wohl wahr, dass die Geschichte vor Stilblüten nur so strotzt. Das haben andere Buchbesprechungen dieses Titels oft negativ angemerkt; etwa das berüchtigte Laub, das im Wind wie Schlangen raschelt. Doch bedenken wir, dass wir es in der Figur des David Martín – wenigstens im ersten Akt – mit einem Groschenromanschreiber zu tun haben. Als solcher hält er seine Leser genau mit derlei Formulierungen bei Laune, die Zafón als ironische Zitate auch in seinen Text hineinzieht. Meines Erachtens sind solche Mittel durchaus bewusst vorhanden, eben weil sie sich nicht quer durch den gesamten Text ziehen, sondern ganz gezielt eingesetzt werden.
Hinzu kommt der wohl dosierte Sprachwitz, mit dem der Autor aus einem Drama leichter Hand eine Tragikomödie macht. Zwar fehlt diesmal ein pittoresker Fermín Romero de Torres, der am laufenden Band Aphorismen von sich gäbe wie im Schatten des Windes. Aber doch gibt es immer wieder Dialoge oder rasch eingeworfene Gedanken, die einem sofort ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
„Normale Menschen bringen Kinder zur Welt, unsereiner Bücher. Wir Schriftsteller sind dazu verdammt, ihnen unser ganzes Leben zu widmen, obwohl sie es uns fast nie danken.“
(David Martín auf Seite 499)
Selbstreflexion
Dieses Bonmot, das Zafón seiner Hauptperson in den Mund legt, hätte der Romanautor vielleicht sogar selbst aussprechen können. Blicken wir hier womöglich auf einen autobiografischen Aspekt der Geschichte? An einer anderen Textstelle ist ohne jeden Zweifel zu erkennen, dass Zafón aus einer seiner Romanfiguren spricht.
Denn wer den Werdegang von Carlos Ruiz kennt, weiß, dass der Schriftsteller nie ein Liebling der spanischen Literaturkritik war. Über den Klüngel hat er sich zeitlebens beklagt. Und nun lässt er im Engelsspiel seinen Don Pedro zu David nach dessen Romanverriss sagen:
„Was hast Du erwartet? Du bis keiner von ihnen. Du wirst es nie sein. Du hast es nicht sein wollen und glaubst, man wird dir das verzeihen. Du vergräbst dich in deinem alten Kasten und meinst, du kannst überleben, ohne dich dem Chor der Messknaben anzuschließen und die Uniform anzuziehen. Da irrst du dich, David. Du hast dich immer geirrt. Das Spiel läuft anders. Wenn du allein spielen willst, pack die Koffer und geh irgendwohin, wo du Herr deines Schicksals bist. Aber wenn du hierbleibst, schließ dich besser einer Gemeinde an, welcher auch immer. So einfach ist das.“
(Seite 166)
Genau das hat Zafón selbst beherzigt. Er ist letztlich alleine spielen gegangen, in die USA. Doch auch wenn der Prophet im eigenen Land nichts galt, so hat der Autor zumindest außerhalb Spaniens höchste Würden erfahren. Der Rezensent des Corriere Della Sera etwa schreibt: „Hiermit ernenne ich Zafón zum Dickens von Barcelona, zum derzeit begabtesten Schriftsteller, was die Erzählkunst betrifft.“
Und die New York Times, Lire und Kirkus Review haben den Autor in ihren Besprechungen längst auf einen gemeinsamen Sockel gehoben mit Jorge Luis Borges, Umberto Eco, Gabriel García Márquez, Stephen King, Edgar Allen Poe und Bram Stoker.
Eine Herausforderung
Wer die Geschichte um das Spiel des Engels wie einen Thriller liest, oder wie Schauerliteratur mit spirituellem Einschlag, der wird spätestens gegen Ende hin enttäuscht sein. Ist es nicht billig, einen Menschen, der sich einen leichengepflasterten Weg durch Barcelona gebahnt hat, auf die letzten Meter aus der Verantwortung zu nehmen? Ihn mit ein paar Schritten ungehindert aus der „Stadt der Verdammten“ zu entlassen? Um ihn dann in einer traumartig anmutenden Abschlussszene seinen inneren Frieden schließen zu lassen?
Nein, sage ich. Das ist nicht billig. Denn Zafón lässt seine Leserschaft über siebenhundert Buchseiten hinweg nicht aus der Verantwortung. Er mutet uns zu, selbst Schlüsse zu ziehen und unsere eigene Interpretation aus verschiedenen Möglichkeiten zu modellieren.
Nicht alles ist so, wie es scheint!
Gibt es diesen Andreas Corelli wirklich? Oder war es nicht doch die ganze Zeit über David Martín selbst, der sich durch diese Geschichte gekämpft hat? Alleine, aber mit finsterer Entschlossenheit. Der wegen „Großer Erwartungen“ oder wegen seiner großen Enttäuschung in Kauf nahm, so viele mit ins Verderben zu reißen, statt das Unausweichliche zu akzeptieren? Dann hätte auch dieses merkwürdige Romanende einen Sinn.
Kurze Hinweise auf schizophrene Phasen der Hauptfigur gibt es immer wieder. Zuletzt etwa in Form einer Randbemerkung des Polizeiinspektors Grandes, er habe die ganze Zeit über David selbst mit dieser Engelsbrosche Corellis am Revers gesehen.
Wie ist es um unsere Selbstwahrnehmung und die objektive Wahrheit bestellt? Wie gehen wir mit Menschen um, die wir lieben? Gibt es wirklich immer eine zweite Chance? Und falls ja: zu welchem Preis?
Welche Rolle spielen Religionen in der Gesellschaft? An Glaubenslehren lässt Zafón in diesem Roman kein gutes Haar. Für seine Hauptfiguren sind sie das Grundübel menschlicher Gemeinschaft. – Lux Aeterna!
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Wem diese Buchbesprechung gefallen hat, wird sich vielleicht für das Autorenprofil von Carlos Ruiz Zafón interessieren, das ich als Nachruf zu seinem Tod im Juni 2020 zusammengestellt habe und in dem auch Rezensionen seiner anderen Romane verlinkt sind.
Fazit:
Nicht vielen Autoren gelingt es, im Anschluss an einen grandiosen Publikumserfolg einen mindestens gleichwertigen Folgeroman anzuschließen. Alle laufen sie Gefahr, in die Gleise des Vorwerkes einzufädeln und nur mehr ein schwaches Echo des Erfolgs abzuliefern. Dieser Falle ist Carlos Ruiz Zafón mit Das Spiel des Engels ausgewichen. Es ist geradezu erstaunlich, wie er chronologisch an seinen Erstling anknüpft, dabei sogar im bewährten lokalen Umfeld bleibt, diverse Muster und sogar Szenen aus dem Vorgänger übernimmt und dennoch eine vollkommen andere Geschichte erzählt.
Wem Der Schatten des Windes gut gefallen hat, der kommt am Engelsspiel ohnehin nicht vorbei. Aber auch einer Leserschaft, die sich für spirituell angelegte Geschichten über das Gute oder das Böse interessiert, sei der Roman unbedingt empfohlen. Er ist wirklich eine hervorragende Inspirationsquelle für eigene Überlegungen. Lediglich die Liebhaber der katalanischen Metropole am Mittelmeer kommen diesmal zu kurz. Zwar gibt es wieder Absätze, in denen der Autor auch die uralte Stadt am Meer zu Wort kommen lässt. Aber eine Liebeserklärung an Barcelona, wie ich sie im Vorgängerband wahrgenommen habe, ist hier nicht auszumachen.
Bei meiner Sternebewertung ist es denkbar knapp geworden. Um ein Haar hätte Das Spiel des Engels ebenso wie der erste Band die vollen fünf Sterne bekommen. Aber mein Algorithmus ist gnadenlos, und ich musste auf vier sehr, sehr dicke Sterne abrunden. Wenn ich ehrlich sein will, bin ich damit ganz zufrieden. Auch wenn mir klar ist, dass andere Leser¦innen die beiden Romane um den Friedhof der Vergessenen Bücher womöglich genau umgekehrt bewerten würden.
Carlos Ruiz Zafón:
El juego del ángel | Das Spiel des Engels,
🇪🇸 Planeta, 2008
🇩🇪 Fischer Verlag, 2008
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