Der spanische Autor Carlos Ruiz Zafón schafft mit seinem fünften Roman ein erstaunliches Konstrukt: Thriller, mystische Literaturgeschichte, Aufarbeitung der Nachwehen des spanischen Bürgerkrieges, Liebeserklärung an seine Geburtsstadt Barcelona, und immer wiederkehrende Geschichte von Liebe, Sex, Freundschaft und Verrat. Der Schatten des Windes bedient gekonnt verschiedenste Leseinteressen und ist schon allein deshalb eine besondere Empfehlung wert.
Carlos Ruiz, 1964 in Barcelona geboren und seit 1994 in Los Angeles ansäßig*, legt seinen Roman rekursiv an; so wie etwa schon Cornelia Funke ihr Tintenherz. Es geht um einen verschachtelten Roman im Roman: Der Protagonist und Ich-Erzähler Daniel Sempere wächst in den Jahren nach Ende des spanischen Bürgerkriegs in Barcelona auf. Im Alter von zehn Jahren macht er die Bekanntschaft des Romans Der Schatten des Windes. Autor dieses Buches ist ein im Literaturbetrieb Unbekannter namens Julián Carax. Daniel findet dieses Buch im Buch auf dem „Friedhof der Verlorenen Bücher“.
Dieser sagenhafte literarische Friedhof besteht aus einer Sammlung zigtausender Bände längst vergessener Literatur. Irgendwo in der finsteren Altstadt der katalanischen Metropole ist dieser Ort versteckt. Er ist nur einer verschworenen Gemeinschaft Bibliophiler zugänglich.
Mystische Parallelwelten
Die Romangeschichte des verlorenen Buches zieht Daniel derartig in ihren Bann, dass er sich anschickt, mehr über dessen Autor herauszufinden. Im Laufe der folgenden zehn Jahre gerät der Junge dabei in einen Strudel von Ereignissen, die aus dem Leben des Julián Carax gegriffen zu sein scheinen.
Geradezu frappierend gleichen sich die persönliche Entwicklungen: die Freundschaften und Liebesbeziehungen Daniels und die des Julián. Das Gestrüpp aus all den handelnden Figuren zweier Generationen – der Juliáns und der Daniels – verdichtet sich zunächst zu einem schwer überschaubaren Personalkomplex.
Diese Duplizität der Geschehnisse scheint zunächst an den Haaren herbeigezogen zu sein. Auch das plötzliche Auftauchen einer der Roman-im-Roman-Figuren Carax‘ auf der anderen Romanebene, also im echten Leben von Daniel, lässt den kritischen Leser die Stirne runzeln. Ist dieser Laín Coubert nicht ein Plagiat der Figur des Schurken Capricorn aus dem bereits angesprochenen Tintenherz?**
Bedenken in Bezug auf Authentizität erhalten zusätzlich Nahrung. Der Leser erfährt, dass der teuflische Coubert stets aufgerollte Seiten von Büchern raucht. Wer denkt dabei nicht unwillkürlich an die grauen Männer aus Michael Endes Momo?
Das pralle Leben
Und doch gelingt es Carlos Ruiz, im Laufe der Geschichte die Bedenken der kritischen Leserschaft zu zerstreuen. Die Handlung nimmt Fahrt auf, als Daniel Sempere den pittoresken Fermín Romero de Torres kennenlernt. Dieser Tausendsassa mit dem Namen eines Stierkämpfers treibt die Geschichte kräftig voran. Darüber hinaus ist der Mann Quell der Weisheit und Lebenserfahrung, sowie ein begnadeter Aphoristiker. Der Autor lässt seinen Fermín am laufenden Band Sätze äußern wie: „Als guter Affe ist der Mensch ein soziales Wesen, und als wesentliche Norm ethischen Verhaltens zeichnen ihn Vetternwirtschaft, Nepotismus, Schwindel und Klatsch aus.“ Oder eine meiner Lieblingsformulierungen: „Armee, Ehe, Kirche und Bankwesen: die vier apokalyptischen Reiter“ – Manchem Leser mag die saftige, kraftvolle Ausdrucksweise Fermíns zu derb geraten scheinen. Mir aber hat sie sehr gefallen.
Zum Ablauf der Romanhandlung soll nicht zu viel gesagt werden, um dem Leser nichts vorweg zu nehmen. Nur so viel: Auf den ersten gut hundert Buchseiten behandelt der Autor die Jahre 1945 bis 1953. In dieser Zeit wächst Daniel vom Zehnjährigen zum jungen Mann heran. Der Großteil der Geschichte jedoch spielt im Anschluss daran, im Jahre 1954. Je mehr der neuzehnjährige Daniel mit der Hilfe Fermíns über Julián Carax herausfindet, desto verworrener werden die Parallelen und Verbindungen zwischen ihm und Carax. Im Laufe der Zeit aber kommt tatsächlich Klarheit und beachtliche Logik in die Geschehnisse. In einem posthumen, beinahe testamentarischen Brief lässt Ruiz schließlich eine enge Freundin Carax‘ erzählen, was tatsächlich in den mehr als zwanzig vergangenen Jahren geschehen war.
Barcelona in der Zeit nach dem Bürgerkrieg
Die Geschichte, die der Autor Faden für Faden vor dem Leser aufdröselt, ist richtig gut und vor allen Dingen spannend erzählt. Besondere Qualität jedoch zieht der Roman aus dem Lokalkolorit und der Beschreibung der gesellschaftlichen Situation in den Jahren nach dem spanischen Bürgerkrieg. Schmierige und ruchlose Kriegsgewinnler, etwa der Polizist Fumero, werden ebenso präzise und in aller logischen Konsequenz portraitiert wie die Verlierer.
Am deutlichsten verkörpert werden die Opfer durch Fermín, einen ehemaligen Beamten, der nach Kriegsende als Verbrecher gejagt und gefoltert wurde. In die gleiche Kategorie fällt auch die Nebengeschichte des homosexuellen Uhrmachers des Stadtviertels. Dessen zur damaligen Zeit unschicklichen Neigungen werden von der Gemeinschaft der Nachbarn zwar mit beinahe liebevollen Umschreibungen toleriert. Jedoch wird der Uhrmacher von der Polizei bei der ersten sich bietenden Gelegenheit eingesackt und um ein Haar umgebracht.
Apropos „liebevoll“
Dem gesamten Text merkt man die Verbundenheit und Liebe des Autors zu seiner Heimat an. Winzige Details am Rande, wie die grammatische Neigung der Katalanen, Vornamen stets den Artikel voranzustellen, sprechen in der Summe Bände. Wer die Stadt Barcelona kennt und liebt, wird in Der Schatten des Windes eine Lektüre finden, die er immer wieder zur Hand nehmen wird wollen. Allein schon um sich von Ruiz‘ Schilderungen einfangen und in die Vergangenheit zurückversetzen zu lassen. Darin liegt der stärkste Zauber des Romans. Er ist eine in besonderem Maße gelungene Momentaufnahme einer wunderbaren Stadt zu einem Zeitpunkt, der für Spanien einen historischen Wendepunkt markierte.
Pikantes Detail am Rande: Das oben eingebundene Originalcover des Romans aus dem Jahr 2001 zeigt ausgerechnet eine Straßenszene in Madrid. Die spanische Hauptstadt war zumindest in Zeiten des Bürgerkrieges das Feindbild schechthin für alle Katalanen. (Aufnahme: „Esquina“, Francesc Català-Roca, 1956, Museum Reina Sofía)
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Wem diese Buchbesprechung gefallen hat, wird sich vielleicht für das Autorenprofil von Carlos Ruiz Zafón interessieren, das ich als Nachruf zu seinem Tod im Juni 2020 zusammengestellt habe und in dem auch Rezensionen seiner anderen Romane verlinkt sind.
Fazit:
Der Schatten des Windes ist ein bemerkenswerter Wurf des Autors Carlos Ruiz Zafón. Das Buch ist eine gelungene und äußerst unterhaltsame Melange verschiedener literarischer Genres. Solche sind ja in der jüngeren Vergangenheit zunehmend in Mode geraten. Doch Ruiz hat hier ein besonders strahlendes Juwel geschaffen: durch meisterhaften und sorgfältigen Aufbau der Argumentation, mit einer außergewöhnlichen Sprachbeherrschung; einen Liebesbrief an die Literatur, der sich an Leser¦innen wendet, deren Herzen ebenso leidenschaftlich für Erzählkunst schlagen wie das des jungen Protagonisten.
Für mich persönlich, als langjährigen Einwohner Barcelonas, gehört das Buch zu den absoluten Glanzlichtern meines Bücherregals. Die vollen fünf Sterne sind deshalb in meinen Augen das unabdingbare Minimum. Auch wenn ich Verständnis habe, dass weniger verblendete Leser eine Einstufung von Ruiz‘ Roman auf vier Sterne vielleicht ausreichend gefunden hätten. Der Roman ist und bleibt dennoch eine meiner drei Top-Leseempfehlungen.
Carlos Ruiz Zafón:
La sombra del viento | Der Schatten des Windes,
🇪🇸 Planeta, 2001
🇩🇪 Suhrkamp Verlag, 2003
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Fußnoten (Nachträge Juni 2020):
*) Im Juni 2020 verstarb Carlos Ruiz Zafón an einem Krebsleiden in seiner Wahlheimat Kalifornien.
**) Nein, ein Plagiat kann das gar nicht sein. Der Schatten des Windes wurde zwei Jahre vor Tintenherz veröffentlicht. Da habe ich wohl das zweite Buch vor dem ersten gelesen und beim Rezensieren nicht gut genug aufgepasst.