Die dunkle Seite der Liebe

Die dunkle Seite der Liebe
Rafik Schami, 2004

Die dunkle Seite der Liebe be­han­delt eine blu­ti­ge, Ge­ne­ra­tio­nen über­grei­fen­de Feh­de zwi­schen zwei sy­ri­schen Chris­ten­fa­mi­lien. Rafik Schami, der in Da­mas­kus ge­bo­re­ne und seit 1971 in Deutsch­land le­ben­de Autor, er­zählt über sei­ne Hei­mat Sy­ri­en: Eine Ge­schich­te über Re­li­gio­nen; über Lie­be und Feind­schaft, die meh­re­re Jahr­zehn­te über­dau­ert; und über die Fol­ge von Herr­schaft und Un­ter­drü­ckung, die das Land zwi­schen Li­ba­non, Is­ra­el, Jor­da­ni­en, dem Irak und der Tür­kei ein Jahr­hun­dert lang er­dul­det hat.

Verpackt hat Scha­mi sei­ne Ge­schich­te in eine nur we­ni­ge Sei­ten lan­ge Rah­men­hand­lung. Der Da­mas­ze­ner Kom­mis­sar Ma­ru­di ver­sucht En­de der Sech­zi­gerjah­re, den mis­te­riö­sen Mord an einem Of­fi­zier na­mens Mah­di Said auf­zu­klä­ren. Der Begriff „Rahmenhandlung“ ist dabei wörtlich zu verstehen: Der detektivische Anteil klammert die Erzählung nur ganz zu Beginn und zum Ende hin.

Die dunkle Seite der Liebe – Worum es eigentlich geht

Nach weni­gen Buch­sei­ten wird diese Kri­mihand­lung nämlich ver­drängt durch eine orien­tali­sche Erzähl­flut. Zentrale Komponente darin sind die Auseinandersetzungen zwischen den bei­den Fami­lien­clans der Scha­hins und Musch­taks. Darü­ber hin­aus weitet der Autor seine Geschichte auf aller­lei Gescheh­nisse aus, die sich im regio­na­len und zeit­li­chen Kon­text zu den Fami­lien­chro­ni­ken ereig­nen.

Tatsäch­lich habe ich gegen Ende des Romans ein paar Sei­ten gebraucht, um zu begrei­fen, dass die Hand­lung wie­der bei den anfäng­li­chen Ermitt­lun­gen im Mord­fall Said ange­langt war. Die­ser Mord hatte im Licht der Roman­ereig­nisse eine ganz andere, fol­gerich­tige Bedeu­tung erlangt. Viel Zeit und Raum blei­ben Marudi jedoch nicht. Obwohl seine Ermitt­lun­gen in die rich­tige Rich­tung füh­ren, fin­det seine Ge­schich­te vor­zei­tig durch Ein­griff der Obrig­keit ihr Ende.

Im letz­ten Roman­kapi­tel ergreift Rafik Schami per­sön­lich das Wort. Er schreibt aus sei­ner eige­nen Sicht über die Ent­ste­hungs­ge­schich­te und das his­tori­sche Umfeld des Romans. Der Leser erfährt, dass die Per­so­nen des öffent­li­chen Lebens, die in der Ge­schich­te auf­tre­ten, zwar ver­frem­det und über­zeich­net wur­den. Dass sie jedoch durch­aus ihre Gegen­stü­cke in der rea­len syri­schen Ge­schich­te wider­spie­geln. Auch über das immer wie­der­keh­rende Per­so­nal sei­ner Ge­schich­ten infor­miert der Autor im Nach­hin­ein.

Ich hätte das letzte Kapi­tel lie­ber vor der Lek­tü­re des Romans gele­sen, viel­leicht als Pro­log. Es ver­rät inhalt­lich nichts, gibt aber Hin­weise, die beim Lesen an man­cher Stelle sehr nütz­lich gewe­sen wären.

Die dunkle Seite der Liebe – Lesehilfe

Auf den Innen­sei­ten des Buch­ein­ban­des befin­den sich die Stamm­bäume der bei­den syri­schen Fami­lien­clans der Musch­taks und der Scha­hins. Das ist auch gut so. Denn ohne den stän­digen Zugriff auf die­ses geord­nete Namens­lexi­kon wäre die Leser­schaft bereits nach dem ers­ten Zehn­tel des Romans hoff­nungs­los ver­lo­ren.

Über bei­nahe neun­hun­dert Sei­ten erstreckt sich die Ge­schich­te, die uns Rafik Schami erzählt. Dabei ver­sinkt er weit­schwei­fig in der Tra­di­tion orien­tali­scher Erzäh­ler und immer tie­fer in verschach­telte Hin­ter­grund­ereig­nisse. Es wirkt ganz so, als würde er vor den Augen der Leser eine Ma­trjosch­ka Schach­tel­puppe aus­ein­ander­neh­men, um dann doch wie­der ziel­stre­big zum ursprüng­li­chen Faden der Hand­lung zurück zu fin­den. Allein schon durch solche Rück­sprünge gelingt es Schami, die Leser­schaft zu ver­blüf­fen, die den Aus­gangs­punkt längst aus den Augen ver­lo­ren hat.

Die dunkle Seite der Liebe gibt es auch als Hör­buch auf 21 CDs. Ich kann mir aller­dings beim bes­ten Wil­len nicht vor­stel­len, dass man beim blo­ßen Zuhö­ren – ohne die Mög­lich­keit zurück­zu­blät­tern oder in den Stamm­bäu­men nach­zu­schla­gen – den Gescheh­nis­sen auch nur annä­hernd fol­gen kann.

Die dunkle Seite der Liebe – Zur Handlung

Kurzfassung der Ge­schich­te in der Ge­schich­te: Nur kurze Zeit nach der Ankunft Georg Musch­taks im Berg­dorf Mala im Jahr 1907 ver­fein­det er sich mit Jusuf Scha­hin. Beide Fami­lien neh­men den Streit zwi­schen den Patri­ar­chen auf. Im Laufe der Jahr­zehn­te wei­tet sich die­ser Streit zu einer Blut­fehde zwi­schen den bei­den ein­fluss­rei­chen Fami­lien­clans aus. Der Leser ver­steht letzt­lich, warum zwei Gene­ratio­nen spä­ter die Liebe zwi­schen Farid Musch­tak und sei­ner Rana aus der Scha­hin­fami­lie unmög­lich ist.

Aber Rafik Schami gelingt es nicht nur, der euro­päi­schen Leser­schaft die fremde, ara­bi­sche Kul­tur samt deren Werte­vor­stel­lun­gen zu ver­mit­teln. Meis­ter­lich flicht er Paral­lelen und Gegen­sätze, Mit- und Gegen­ein­an­der der Reli­gio­nen im Nahen Osten ein. Er erklärt die ara­bi­sche Poli­tik, die zu Krie­gen mit Israel ebenso wie zum vorüber­gehen­den Zusam­men­schluss zwi­schen Syrien und Ägyp­ten führte. Er schil­dert das Leben in den Grenz­regio­nen am Golan, kommt jedoch immer wie­der auf das Leben in sei­ner gelieb­ten Hei­mat­stadt Damas­kus zu spre­chen.

Einordung und Interpretation

Zur Ge­schich­te Sy­ri­ens

Nach dem blu­ti­gen Mas­sa­ker an Chris­ten, das sich im Jahr 1860 in Da­mas­kus er­eig­ne­te, wur­de Sy­ri­en oh­ne den Li­ba­non dem Sul­tan in Is­tan­bul un­ter­stellt. 1918 ver­trie­ben die Ha­sche­mi­ten und Law­ren­ce von Ara­bi­en die Os­ma­nen aus Da­mas­kus. Fai­salI. er­rich­te­te 1920 ein un­ab­hän­gi­ges ara­bi­sches Kö­nig­reich, wur­de je­doch von Frank­reich ge­stürzt. Fran­zö­si­sche Trup­pen be­set­zten Sy­ri­en im Auf­trag des Völ­ker­bun­des bis ins Jahr 1939. Mi­li­tä­risch blieben die Be­sat­zer je­doch bis 1946 prä­sent, wi­chen erst mas­si­ven in­ter­na­tio­na­len Dro­hun­gen.

Am 17. April 1946 wird die Sy­ri­sche Ara­bi­sche Re­pu­blik aus­ge­ru­fen. Zwölf Jah­re spä­ter, am 1. Fe­bru­ar 1958, schlie­ßen sich Ägyp­ten und Sy­ri­en nach einem in­ter­nen sy­ri­schen Kon­flikt zwi­schen Ba’ath-Par­tei und Kom­mu­nis­ten zur Ver­einig­ten Ara­bi­schen Re­pu­blik (VAR) zu­sam­men. Die pan­ara­bi­sche Re­pu­blik wird je­doch be­reits nach drei Jah­ren, im Sep­tem­ber 1961 durch Putsch sy­ri­scher Of­fi­zie­re be­en­det. Nach er­neu­tem Putsch er­langt 1963 die Ba’th-Par­tei die Macht; die »Ara­bi­sche So­zia­lis­ti­sche Par­tei der Wie­der­er­we­ckung«.

1967 ver­liert Sy­ri­en im Krieg ge­gen Is­ra­el den Go­lan. Bis heute re­giert je­doch in Sy­ri­en – im Ge­gen­satz zum Irak, wo 2003 der Ba’ath-Prä­si­dent Sad­dam Hus­se­in von den USA ab­ge­setzt wur­de – die Ba’ath-Par­tei, seit 2000 un­ter dem Prä­si­den­ten Ba­schar al-As­sad.

[Nachtrag 2023] Seit 2011 herrscht Bür­ger­krieg in Sy­rien. Es kam zu Mas­sa­kern, glei­cher­ma­ßen an der oppo­si­tio­nel­len wie auch der regie­rungs­treu­en Zivil­bevöl­ke­rung. Ver­schie­dene Oppo­si­tions­grup­pen bekämp­fen sich auch gegen­sei­tig. In vielen Fäl­len ver­su­chen die Kon­flikt­par­tei­en, das kul­tu­relle Erbe und Ge­dächt­nis des Geg­ners zu zer­stö­ren. Der Bür­ger­krieg führte zu einer De-fac­to-Tei­lung des Lan­des: Regie­rungs­trup­pen, der Isla­mi­sche Staat und ver­schie­dene Rebel­len­grup­pen kon­trol­lie­ren ver­schie­dene syri­sche Terri­to­rien.

Tatsäch­lich ist es kaum mög­lich, in knap­pen Wor­ten zu sa­gen, wo­von Die dunk­le Sei­te der Lie­be han­delt. Na­tür­lich gibt es auf obers­ter Ebe­ne den Mord­fall. Da­run­ter ge­la­gert ist die­se schier un­end­li­che Fa­mi­lien­ge­schich­te, die in der un­mög­li­chen Lie­be Fa­rids zu Ra­na gip­felt. Wie­der eine Ebe­ne tie­fer an­ge­sie­delt sind po­li­ti­sche Be­kennt­nis­se und de­ren Fol­gen, die die han­deln­den Per­so­nen er­lei­den. Aber all die­se Ebe­nen fin­den ih­re Aus­prä­gun­gen letzt­lich auf den stau­bi­gen Stra­ßen sy­ri­scher Or­te, oder noch viel häu­fi­ger in den Bet­ten ver­lieb­ter und lie­ben­der Sy­rer. Von den selbst ge­bau­ten Tret­rol­lern auf den Stra­ßen des Stadt­vier­tels bis in die Ke­me­nate einer lie­bes­hung­ri­gen Da­mas­ze­ne­rin ist es nur ein kur­zer Weg.

Auf­fäl­lig ist, dass der Autor dem Se­xu­al­le­ben all sei­ner Fi­gu­ren gro­ßes Ge­wicht bei­misst. Wo einer­seits nach außen bis in die zwei­te Hälf­te des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts hin­ein und wahr­schein­lich auch heu­te noch strengs­te Mo­ral­ge­set­ze gel­ten, han­deln im Ver­bor­ge­nen doch al­le Ak­teu­re im Sin­ne ih­rer se­xu­el­len Nei­gun­gen und Ver­bin­dun­gen. Es wim­melt in all den Ge­schich­ten und Hin­ter­grund­ge­schich­ten nur so von un­treu­en Ehe­part­nern und Ver­hält­nis­sen, von Ver­ge­wal­ti­gun­gen und Schän­dun­gen, von un­ehe­li­chen Ver­bin­dun­gen und Kin­dern. Nicht ein­mal Fa­rid, dem nai­ven, aber grund­an­stän­di­gen Pro­ta­go­nis­ten, ge­lingt es, sei­ner ge­lieb­ten Ra­na al­le neun­hun­dert Ro­man­sei­ten hin­durch treu zu blei­ben.

Die dunk­le Sei­te der Liebe — So ne­bu­lös und we­nig greif­bar der Ti­tel des Ro­mans zu­nächst er­schei­nen mag, so viel­fäl­tige In­ter­pre­ta­tions­mög­lich­kei­ten er­öff­nen sich im Lau­fe der Ge­schich­ten. Dun­kel kön­nen die Fol­gen un­ter­drück­ter oder fehl ge­lei­te­ter Lie­be sein. Dies gilt in den Hun­der­ten von Be­zie­hun­gen der auf­tre­ten­den Per­so­nen eben­so wie für die Lie­be zu po­li­ti­schen Rich­tun­gen und Aus­prä­gun­gen.

Eben­so gut mag man aber den Ti­tel auf die Ge­füh­le des Autors zu sei­ner Hei­mat anwen­den. Denn des­sen Lie­be zu Sy­ri­en und den Sy­rern wird über­schat­tet von be­hörd­li­chen Nach­stel­lun­gen und Be­rufs­ver­bo­ten. Die­se zwan­gen Scha­mi da­zu, aus­zu­wan­dern und in Hei­del­berg statt in Da­mas­kus zu le­ben.

 

Fazit:

Genau wie der Roman Rot ist mein Name ist Die dunkle Seite der Liebe ein Feu­er­werk orien­tali­scher Erzähl­kunst. Auch wenn die Leser­schaft durch Ver­wick­lun­gen und Ver­stri­ckun­gen der Hand­lungs­ebe­nen Mühe hat, den gro­ßen Linien des Buches inhalt­lich zu fol­gen, will ich die Lek­türe den­noch jedem ans Herz legen, der gerne zuhört und dabei die Mög­lich­keit zu stau­nen dem akri­bi­schen Ver­fol­gen von Hand­lungs­strän­gen vor­zieht. Ein­fach fal­len las­sen, ein­tau­chen und mit offe­nem Mund all den herr­li­chen Ge­schich­ten lau­schen!

Für wun­der­bare Unter­hal­tung, ein­schließ­lich her­vor­ra­gend kaschier­tem Ge­schichts­unter­richt hätte ich gerne vier Sterne ver­ge­ben. Weil aber die Ge­schich­te doch enorm unüber­sicht­lich aus­gefal­len ist, sind es eben doch nur drei von mög­li­chen fünf geworden. Dicke drei plus, immerhin!

Rafik Schami: Die dunkle Seite der Liebe,
Carl Hanser Verlag, 2004

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