
Der Autor von Mitternachtskinder und der berüchtigten Satanischen Verse, für die er 1989 vom iranischen Staatsoberhaupt Khomeini mittels einer Fatwa und der Aussetzung von Kopfgeld zum Tode verurteilt worden war, hat mit Shalimar der Narr einen Roman über den Konflikt zwischen Religionen im Allgemeinen und die Konfrontation zwischen Islam und dem Westen im Speziellen vorgelegt. Seinen Erklärungsversuch hat Salman Rushdie verpackt in die persönliche Geschichte einer jungen Frau kaschmirischer Abstammung namens India Ophuls.
Rushdie ist Meister darin, Vorgänge weltgeschichtlicher Dimension einzukleiden in den Mikrokosmos seiner Romanfiguren. Deshalb spricht meines Erachtens wenig dagegen, den vordergründigen Plot seiner Geschichte hier zu skizzieren. Dadurch dürfte dem Leser kaum das Vergnügen bei der Lektüre genommen werden. Im Gegenteil: Die hier gerafft dargestellte Handlung ist im Roman so stark zerklüftet, dass eine Vorwegnahme der wesentlichen Elemente eher hilfreich als verräterisch ist.
Über die Handlung
Die Protagonistin der ersten Reihe, deren Existenz den Hintergrund für alle illustrierenden Geschichten des Romans liefert, ist wie gesagt India Ophuls. Sie ist Tochter eines ehemaligen amerikanischen Botschafters in Indien, Max Ophuls, und der kaschmirischen Tänzerin Boonyi Kaul.
Diese Boonyi, zu Anfang interkulturelle Liebhaberin und in der Folge Ehefrau ihres Kindheitsfreundes Shalimar, beschließt, eine Chance wahrzunehmen, die ihr ein Auftritt vor dem US-Botschafter bietet. Sie bezaubert den Amerikaner, verlässt ihr Dorf und wird seine Kurtisane. Das Kind, das sie Max schließlich gebiert, wird ihr jedoch von dessen Ehefrau abgenommen. Sie selbst kehrt gedemütigt in ihr Heimatdorf zurück, wo sie als Geächtete in Einsamkeit den Todesstoß erwartet. Denn diesen wird ihr der gehörnte Ehemann Shalimar gewiss versetzen.
Doch Shalimar hatte sich zwar geschworen, die Treulose hinzurichten. Sowohl seinem Vater als auch dem Schwiegervater hatte er allerdings versprochen, deren beider Lebensende abzuwarten. Er macht sich also zunächst auf und davon, um das Handwerk der Rache zu erlernen. Er lässt sich im Morden ausbilden, als Attentäter einsetzen und kehrt schließlich zurück. Jetzt war die Zeit gekommen, seine ehemalige Liebe Boonyi zu töten und sich im Anschluss auf die Suche nach dem verhassten Nebenbuhler zu machen.
Auch Max Ophuls wird von Shalimar ermordet. Um seinen persönlichen Feldzug wie geplant abzuschließen, macht sich der Rächer daran, auch den letzten lebenden Beweis seiner Schande umzubringen. Ob es ihm gelingt, India zu töten, die Frucht des Ehebruchs, den Boonyi und Max begangen hatten? Oder ob diese Shalimar dem Narren zuvorkommt? Dies bleibt im Roman offen.
Meisterwerk der Erzählkunst
Um dieses in der Aktualität spielende Handlungsgerüst herum drapiert Salman Rushdie eine Patchworkdecke von Episoden aus verschiedenen Zeitepochen und Kulturkreisen. Seine Geschichten sind ganz gewiss dazu geeignet, den Leser schier in Trunkenheit zu versetzen in ihrer Fülle und Detailliertheit.
So beschreibt er das paradiesische Kaschmir der Vergangenheit in Bildern unbeschwerten Lebens früherer Generationen. Er berichtet von einer Zeit, als der Konflikt zwischen Indien und Pakistan das Land am Fuße des Himalaya noch nicht in den Klammergriff politisch motivierter und religiös verbrämter Einflussnahme gezwängt hatte. Auch den Wandel durch militärische Besatzung und revolutionäre Rebellion in all ihrer Absurdität und Brutalität schildert der Autor ungeheuer plastisch, zum Miterleben.
Daneben gibt es ausführliche Episoden über die Entwicklung des Max Ophuls. Der elsässische Druckereierbe wird zum wagemutigen Resistancekämpfer gegen die Nazibesatzer in Frankreich. Und er wirkt als einflussreicher Botschafter und Gestalter US-amerikanischer Außenpolitik.
Islamistischer Terror
Vor dem realen Hintergrund islamistischer Anschläge wirken einige Romansequenzen beklemmend. Es geht um junge Männer – im Besonderen hier natürlich um Shalimar den Narren -, die sich im Netzwerk fanatischer Untergrundorganisationen bewegen. Wie genau solche Szenarien der Wirklichkeit entsprechen, kann ich natürlich nicht einmal ansatzweise beurteilen. Zumindest aber vermitteln sie zwei einleuchtende Sachverhalte:
Einmal betrifft dies die Form der Akquise und Indoktrination junger Freiwilliger durch charismatische, religiöse Führerfiguren. Zum anderen beleuchtet es die internationale Zusammensetzung der Gruppen und die Kooperation der Beteiligten auf persönlicher, informell organisierter Ebene.
Nur mit Hilfe seiner weit reichenden Kontakte im Terrornetzwerk wird Shalimar nach Jahren geduldigen Wartens in die Lage versetzt, sich an Max Ophuls heranzumachen, das Ziel seiner Rache.
Erfolgsrezept
Wie von Salman Rushdie nicht anders zu erwarten, bekommen wir ganz nebenbei eine gehäufte Portion Gesellschaftskritik mit auf den Weg. Etwa wenn eine resolute Kaschmirin zunächst das geforderte Tragen der Burkha mit der Bemerkung verweigert, sie wolle „[Fernseh]filme nicht durch ein Loch in einem Ein-Frauen-Zelt ansehen“. Im letzten Romanabschnitt treffen wir diese Dame wieder: Jahre später, unter dem Eindruck erlittener Gräueltaten und ganz ohne Murren verborgen unter dem einst lauthals geschmähten Stoffgefängnis.
Rushdie nimmt seine Leser mit auf eine kunterbunt bebilderte Reise durch verschiedene Epochen. Er führt uns durch Freundschaften, Liebe und Hass, durch ein aufeinander Zu- und Auseinanderdriften der Kulturen. So viele Geschichten hat er zu erzählen, dass er manchmal zu viel will. Irgendwann und irgendwo zwischen drachenköpfigen Rahu-, drachenschwänzigen Ketu-Schwüren, Lebens- und Über-Seelen und „Eisernen Mullahs“ habe ich schon mal über kurze Distanzen den Anschluss verloren.
Shalimar der Narr ist ein Roman für die einsame Insel: Den kann man nicht nur, den muss man sogar mehrmals lesen! Man wird bei jedem Mal noch weitere Details entdecken, die man beim Mal zuvor überlesen hatte. Oder die man zunächst nicht in den richtigen Sinnzusammenhang stellen konnte.
Verständnis & Interpretation
Über die vielschichtig angelegte Erzählung hinaus mag sich der Leser durchaus Gedanken über verschiedene Botschaften machen, die der Autor gezielt oder meinetwegen auch unbeabsichtigt über seinen Roman transportiert. Dies mag bei Überlegungen zu den Hintergründen islamistischer Terrororganisationen beginnen. Deren Entstehung und Entwicklung macht der Roman auch solchen Menschen verständlich, die im Umfeld eines westlichen Wertekanons groß geworden sind.
Spinnt man den Faden jedoch weiter in eine metaphorische Ebene hinein, kann man die Beziehung zwischen Boonyi Kaul und Max Ophuls als Warnung verstehen. Sogenannte Dritte-Welt-Länder, die sich westlichen Großmächten anbiedern, um Hilfestellung auf dem Weg nach oben zu erhalten, mögen zwar kurzfristig Erfolg haben, stürzen aber über kurz oder lang unweigerlich in den Abgrund.
Nehmt euch in Acht vor dem netten Uncle Sam. Denn irgendwann stirbt sein Interesse an euch! Es wird immer Intriganten geben, wie sie in der Romangestalt des Edgar Wood auftreten. An Fäden ziehende Unbeachtete, die die Hauptfiguren auf der Weltbühne zu steuern wissen. Und wehe euch, wenn der Beschützer auf einmal nicht mehr da ist! Das beste eurer Nation wird er sich genommen haben ohne danke zu sagen. Und von heute auf morgen seht ihr euch schutzlos im Kreise der enttäuschten und missgünstigen Nachbarn wieder, den ihr doch für immer verlassen zu haben glaubtet. Nachsicht habt ihr dann keine zu erwarten.
Allegorien & Stellvertreter
Wer solche Allegorien sucht, findet eine weitere ohne interpretative Brüche in der Figur des Max Ophuls. Geboren im Herzen Europas kämpft der sich frei und macht seinen Weg über den Atlantik. Er gewinnt Einfluss und Macht, bis einem jeden klar ist, dass dieser alternde Held für nichts anderes steht als für die Vereinigten Staaten selbst. Deren Zeit läuft ab, ohne dass sie sich dessen bewusst werden.
Nachlässig werden sie, die Staaten. Sie holen sich in der Gestalt Shalimars des Narren den Feind in die Festung. Dieser zögert nicht, dem alten Mann den Kopf abzuschlagen. Um den sinnbildlichen Zusammenhang erkennbar zu machen, kann Rushdie getrost darauf verzichten, Max eine Tageszeitung mit Datum des 11.9.2001 unter den Arm zu schieben.
Es lohnt sich wirklich, das Buch auch vor diesem Hintergrund ein zweites Mal zu lesen. Man freut sich dann wie ein Schneekönig über Personal wie die alte, russische Kartoffel-Olga. Die hat schon viele Ehemänner überlebt und ist zuletzt doch alleine geblieben als machtlose Nachbarin Indias. Der eine oder andere wird sich dann bestimmt auch fragen, ob er Parallelen zwischen Shalimar und den Narrenfiguren Shakespears ziehen darf.
Fazit:
Shalimar der Narr ist ein mehrdimensionaler und vielschichtiger Roman, den ich jedem empfehlen möchte, der sich Gedanken über die aktuelle Weltgeschichte macht. Aber selbst für Schnellleser, die einfach nur exotische Unterhaltung suchen, hat die Geschichte sehr viel zu bieten.
Ein wunderbares Buch, dem ich trotz einiger vermeidbarer Längen und Hänger alle fünf möglichen Sterne verleihen möchte. So viel ist mir diese äußerst gelungene Narrengeschichte selbst mit ihren Schwächen wert.
Salman Rushdie: Shalimar der Narr
Rowohlt Verlag, 2006
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