Tintenherz

Tintenherz
Cornelia Funke, 2003

Es gibt weni­ge Bü­cher, die für Kin­der ge­schrie­ben wur­den, aber Er­wach­se­ne eben­so in ih­ren Bann zie­hen. Die ers­ten in mei­ner kur­zen Lis­te wa­ren Mi­cha­el En­des Er­zähl­bän­de von Jim Knopf und Lu­kas, dem Lo­ko­mo­tiv­füh­rer, die vor fünf­und­vier­zig Jah­ren pu­bli­ziert wur­de. Das neus­te ist für mich nun seit ein paar Ta­gen Tintenherz von Cor­ne­lia Fun­ke: ein zau­ber­haf­tes Buch über die Faszination, die Bü­cher aus­üben kön­nen, das je­dem Bü­cher­nar­ren wärms­tens zu emp­feh­len ist; egal ob er nun acht oder acht­und­acht­zig Jah­re alt ist.

Wo­rum es in der Er­zäh­lung geht: Meg­gie Fol­chart ist zwölf Jah­re alt und lebt mit ih­rem Va­ter „Mo“ Mor­ti­mer, einem Buch­bin­der, auf einem he­run­ter­ge­kom­me­nen Hof. Die Mut­ter war neun Jah­re zu­vor „fort­ge­gan­gen“.

Tintenherz – Ein kleines biss­chen über die Hand­lung

Von ihrem Vater hat das Meg­gie die Liebe zu Büchern über­nom­men. All die Ge­schich­ten, die zwi­schen zwei Buch­rü­cken ste­cken, sind Meg­gie Trost oder Anre­gung in allen Lagen des Lebens. Als eines Abends der zwie­lich­tige Staub­fin­ger auf­taucht, wer­den Meg­gie und Mo in einen Stru­del sich über­schla­gen­der Ereig­nisse gezo­gen. Die drei flie­hen vor dem omi­nö­sen Böse­wicht Capri­corn in Rich­tung Süden – wahr­schein­lich nach Ita­lien. Sie fin­den Zuflucht bei Meg­gies Groß­tante Eli­nor Lore­dan, die zurück­gezo­gen auf ihrem Land­sitz inmit­ten einer rie­si­gen Bib­lio­thek lebt.

Jedoch ahnen Meg­gie und Mo nicht, dass sie ihrem Ver­fol­ger Cacpri­corn gera­de­wegs in die Arme gelau­fen sind. Erst als Capri­corn sie gefan­gen nimmt, erfährt das Mäd­chen von einer beson­de­ren Gabe ihres Vaters: Wenn Mor­ti­mer Fol­chart aus Büchern vor­liest, tau­chen Gegen­stände und Wesen aus den Ge­schich­ten in der Rea­li­tät auf. Dafür ver­schwin­den Men­schen und Dinge aus der Wirk­lich­keit hinein in die Bücher.

Stück für Stück erkennt Meg­gie, dass ihr Vater, ohne es zu wol­len, den Schur­ken Capri­corn und einige sei­ner Män­ner, sowie den unglück­li­chen Staub­fin­ger aus einem Buch mit dem Titel Tin­ten­herz heraus- und gleich­zei­tig die seit­her ver­schwun­dene Mut­ter in das Buch hinein­gele­sen hatte. Capri­corn ver­folgt seit die­ser Zeit den Vor­lese­künst­ler Mor­ti­mer, um sich mit Hilfe des­sen sel­te­ner Fähig­keit noch mehr Gold und Gefolg­schaft aus Büchern her­bei­schaf­fen zu las­sen. Wie die Ge­schich­te wei­ter­geht, mag ich an dieser Stelle nicht ver­ra­ten.

Tintenherz – Das Beson­dere

Kin­dern mag zunächst diese unge­heu­erli­che Kunst des Heraus­le­sens von Per­so­nen aus Büchern frap­pie­rend erschei­nen. Viel­leicht sind sie auch gebannt von all den merk­wür­di­gen Wesen, die nur des­halb wie selbst­ver­ständ­lich im ech­ten Leben von Meg­gie erschei­nen: gehörnte Mar­der, Elfen, Feen und Kobol­de.

Ältere Leser ver­fal­len schnell der Magie der Meta­ebe­nen, die sich in Cor­ne­lia Fun­kes Roman erken­nen lässt. Unter dem Titel Tin­ten­herz schreibt sie über eine gänz­lich andere Ge­schich­te glei­chen Namens, die von einem gewis­sen Feno­glio ver­fasst wurde; eben die­ser Feno­glio spielt dann spä­ter im Funke-Roman eine tra­gende und trau­rige Rolle.
Viel­leicht liegt meine Fas­zina­tion über den Ansatz der Auto­rin daran, dass ich grund­sätz­lich ein gro­ßer Fan rekur­si­ver Erzäh­lun­gen bin.

In Cor­ne­lia Fun­kes Tin­ten­herz ver­mi­schen sich durch Her­aus- und Hin­ein­le­sen ihre eige­nen Akteure mit denen der ursprüng­li­chen Erzäh­lung auf ein und der­sel­ben Wirk­lich­keits­ebene. Gleich­zei­tig gelingt es der Auto­rin auch noch, ihre Leser ein­zube­zie­hen. Denn die unge­heu­erli­che Fähig­keit des Vor­le­sers Mor­ti­mer färbt schnell ab auf die des Funke-Romans. Als ich mei­nen Kindern aus dem Buch vor­las, lau­tete ihre ein­hel­lige Mei­nung, ich hätte noch aus kei­ner ande­ren Ge­schich­te so packend und plas­tisch gele­sen. „Pass auf, dass Du nicht gleich jeman­den aus dem Tin­ten­herz her­aus­liest!“, rie­fen sie ent­zückt und ent­setzt zugleich.

Tintenherz – Bewertung

Abge­se­hen ein­mal von den beschrie­be­nen Ver­qui­ckun­gen ver­schie­de­ner Bewusst­seins- und Rea­litäts­ebe­nen gelingt es der Auto­rin mit ihrer Ge­schich­te bei Lesern und Zuhö­rern auch noch eine erstaun­li­che Lei­den­schaft für Bücher zu wecken. Die Zunei­gung der Roman­figu­ren zu Büchern als sol­chen und zu den erzähl­ten Ge­schich­ten färbt ab. Sie weckt schier unbe­zähm­bare Lust auf mehr. Zum Bei­spiel darauf, selbst Lese­aben­teuer zu erle­ben; viel­leicht sogar selbst die Schran­ken zwi­schen Wirk­lich­keit und Erfin­dung zu über­win­den und selbst Roman­figu­ren her­bei­le­sen zu kön­nen.

Einer der Kunst­griffe Cor­ne­lia Fun­kes besteht darin, jedes der Kapi­tel mit einem Zitat aus einem mehr oder weni­ger bekann­ten Buch ein­zulei­ten. All diese Ein­lei­tun­gen die­nen einer­seits dazu, inhalt­lich auf die Ge­scheh­nis­se des jewei­li­gen Kapi­tels vor­zube­rei­ten. Ande­rer­seits kön­nen die Zitate als Anker für künf­tigen Lese­stoff ver­wen­det wer­den.

Einschrän­kend könnte viel­leicht ange­spro­chen wer­den, dass ein erwach­se­ner Leser in Tin­ten­herz so einige Unge­reimt­heit ent­de­cken mag. Dis­kre­pan­zen, die es zwi­schen den Erfor­der­nis­sen des wah­ren Lebens und der Hand­lung geben könnte. Sprach­bar­rie­ren etwa gibt es in der Ge­schich­te eben­sowe­nig wie finan­zielle Gren­zen. Aber wer mag schon sol­che Unwich­tig­kei­ten einem Kin­der­buch vor­wer­fen?

Fazit:

Für ältere Allein­leser ist die Ge­schich­te durch­aus emp­feh­lens­wert, trotz der weni­gen genann­ten Ein­schrän­kun­gen. Ins­beson­ders Biblio­phile kämen auch für sich alleine voll auf ihre Kos­ten. Drei von fünf Punk­ten wäre mir Tin­ten­herz selbst in die­sem Fall wert.

Als Vor­lese­stoff – spe­ziell für Väter¹ von acht bis zwölf­jäh­ri­gen Töch­tern – ist das Buch jedoch eine Offen­ba­rung. In die­ser Kom­bina­tion wäre ohne Frage die volle Punkt­zahl fäl­lig. In der Summe kann ich also bes­ten Gewis­sens vier der fünf mög­li­chen Sterne ver­ge­ben.

~

¹ — Es tut mir leid, dass ich hier die­ses Geschlech­ter­stereo­typ ein­be­ziehe. Aber Tin­ten­herz ist nun ein­mal die Ge­schich­te von Meg­gie und ihrem Vater Mo.

Cornelia Funke: Tintenherz
Dressler Verlag, 2003

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