
Es gibt wenige Bücher, die für Kinder geschrieben wurden, aber Erwachsene ebenso in ihren Bann ziehen. Die ersten in meiner kurzen Liste waren Michael Endes Erzählbände von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer, die vor fünfundvierzig Jahren publiziert wurde. Das neuste ist für mich nun seit ein paar Tagen Tintenherz von Cornelia Funke: ein zauberhaftes Buch über die Faszination, die Bücher ausüben können, das jedem Büchernarren wärmstens zu empfehlen ist; egal ob er nun acht oder achtundachtzig Jahre alt ist.
Worum es in der Erzählung geht: Meggie Folchart ist zwölf Jahre alt und lebt mit ihrem Vater „Mo“ Mortimer, einem Buchbinder, auf einem heruntergekommenen Hof. Die Mutter war neun Jahre zuvor „fortgegangen“.
Ein kleines bisschen über die Handlung
Von ihrem Vater hat das Meggie die Liebe zu Büchern übernommen. All die Geschichten, die zwischen zwei Buchrücken stecken, sind Meggie Trost oder Anregung in allen Lagen des Lebens. Als eines Abends der zwielichtige Staubfinger auftaucht, werden Meggie und Mo in einen Strudel sich überschlagender Ereignisse gezogen. Die drei fliehen vor dem ominösen Bösewicht Capricorn in Richtung Süden – wahrscheinlich nach Italien. Sie finden Zuflucht bei Meggies Großtante Elinor Loredan, die zurückgezogen auf ihrem Landsitz inmitten einer riesigen Bibliothek lebt.
Jedoch ahnen Meggie und Mo nicht, dass sie ihrem Verfolger Cacpricorn geradewegs in die Arme gelaufen sind. Erst als Capricorn sie gefangen nimmt, erfährt das Mädchen von einer besonderen Gabe ihres Vaters: Wenn Mortimer Folchart aus Büchern vorliest, tauchen Gegenstände und Wesen aus den Geschichten in der Realität auf. Dafür verschwinden Menschen und Dinge aus der Wirklichkeit hinein in die Bücher.
Stück für Stück erkennt Meggie, dass ihr Vater, ohne es zu wollen, den Schurken Capricorn und einige seiner Männer, sowie den unglücklichen Staubfinger aus einem Buch mit dem Titel Tintenherz heraus- und gleichzeitig die seither verschwundene Mutter in das Buch hineingelesen hatte. Capricorn verfolgt seit dieser Zeit den Vorlesekünstler Mortimer, um sich mit Hilfe dessen seltener Fähigkeit noch mehr Gold und Gefolgschaft aus Büchern herbeischaffen zu lassen. Wie die Geschichte weitergeht, mag ich an dieser Stelle nicht verraten.
Das Besondere
Kindern mag zunächst diese ungeheuerliche Kunst des Herauslesens von Personen aus Büchern frappierend erscheinen. Vielleicht sind sie auch gebannt von all den merkwürdigen Wesen, die nur deshalb wie selbstverständlich im echten Leben von Meggie erscheinen: gehörnte Marder, Elfen, Feen und Kobolde.
Ältere Leser verfallen schnell der Magie der Metaebenen, die sich in Cornelia Funkes Roman erkennen lässt. Unter dem Titel Tintenherz schreibt sie über eine gänzlich andere Geschichte gleichen Namens, die von einem gewissen Fenoglio verfasst wurde; eben dieser Fenoglio spielt dann später im Funke-Roman eine tragende und traurige Rolle.
Vielleicht liegt meine Faszination über den Ansatz der Autorin daran, dass ich grundsätzlich ein großer Fan rekursiver Erzählungen bin.
In Cornelia Funkes Tintenherz vermischen sich durch Heraus- und Hineinlesen ihre eigenen Akteure mit denen der ursprünglichen Erzählung auf ein und derselben Wirklichkeitsebene. Gleichzeitig gelingt es der Autorin auch noch, ihre Leser einzubeziehen. Denn die ungeheuerliche Fähigkeit des Vorlesers Mortimer färbt schnell ab auf die des Funke-Romans. Als ich meinen Kindern aus dem Buch vorlas, lautete ihre einhellige Meinung, ich hätte noch aus keiner anderen Geschichte so packend und plastisch gelesen. „Pass auf, dass Du nicht gleich jemanden aus dem Tintenherz herausliest!“, riefen sie entzückt und entsetzt zugleich.
Bewertung
Abgesehen einmal von den beschriebenen Verquickungen verschiedener Bewusstseins- und Realitätsebenen gelingt es der Autorin mit ihrer Geschichte bei Lesern und Zuhörern auch noch eine erstaunliche Leidenschaft für Bücher zu wecken. Die Zuneigung der Romanfiguren zu Büchern als solchen und zu den erzählten Geschichten färbt ab. Sie weckt schier unbezähmbare Lust auf mehr. Zum Beispiel darauf, selbst Leseabenteuer zu erleben; vielleicht sogar selbst die Schranken zwischen Wirklichkeit und Erfindung zu überwinden und selbst Romanfiguren herbeilesen zu können.
Einer der Kunstgriffe Cornelia Funkes besteht darin, jedes der Kapitel mit einem Zitat aus einem mehr oder weniger bekannten Buch einzuleiten. All diese Einleitungen dienen einerseits dazu, inhaltlich auf die Geschehnisse des jeweiligen Kapitels vorzubereiten. Andererseits können die Zitate als Anker für künftigen Lesestoff verwendet werden.
Einschränkend könnte vielleicht angesprochen werden, dass ein erwachsener Leser in Tintenherz so einige Ungereimtheit entdecken mag. Diskrepanzen, die es zwischen den Erfordernissen des wahren Lebens und der Handlung geben könnte. Sprachbarrieren etwa gibt es in der Geschichte ebensowenig wie finanzielle Grenzen. Aber wer mag schon solche Unwichtigkeiten einem Kinderbuch vorwerfen?
Fazit:
Für ältere Alleinleser ist die Geschichte durchaus empfehlenswert, trotz der wenigen genannten Einschränkungen. Insbesonders Bibliophile kämen auch für sich alleine voll auf ihre Kosten. Drei von fünf Punkten wäre mir Tintenherz selbst in diesem Fall wert.
Als Vorlesestoff – speziell für Väter¹ von acht bis zwölfjährigen Töchtern – ist das Buch jedoch eine Offenbarung. In dieser Kombination wäre ohne Frage die volle Punktzahl fällig. In der Summe kann ich also besten Gewissens vier der fünf möglichen Sterne vergeben.
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¹ — Es tut mir leid, dass ich hier dieses Geschlechterstereotyp einbeziehe. Aber Tintenherz ist nun einmal die Geschichte von Meggie und ihrem Vater Mo.
Cornelia Funke: Tintenherz
Dressler Verlag, 2003
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