Carlos Ruiz Zafón († 2020 im Alter von 55) wurde in der katalanischen Hauptstadt Barcelona in der Spätzeit der Franco-Diktatur geboren. Zunächst Werbetexter in seiner Heimat, wanderte Ruiz mit dreißig in die USA aus. Er arbeitete in Los Angeles als Drehbuchautor und schrieb Artikel für die beiden größten spanischen Tageszeitungen, El País und La Vanguardia.
Außerdem erschienen Anfang der Neunzigerjahre seine ersten Romane aus der sogenannten „Nebel-Trilogie“:
- El príncipe de la niebla (1993) | Der Fürst des Nebels (1996 & 2010)
- El palacio de la medianoche (1994) | Der Mitternachtspalast (2010)
- Las luces de septiembre (1995) | Der dunkle Wächter (2009)
Während dieser Jahre habe ich selbst in Barcelona gelebt. Doch die ersten Romane Carlos Ruiz‘ habe ich dort nicht im Buchhandel oder in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Bekannt wurde der spanische Autor erst Jahre später durch seinen absoluten Bestseller Der Schatten des Windes, der 2001 erschien und den ersten Band der längst berühmten und in über 40 Sprachen übersetzten Romanreihe um die Geheimnisse der Altstadt Barcelonas darstellte:
Der Friedhof der Vergessenen Bücher
- La sombra del viento (2001) | Der Schatten des Windes (2003)
- El juego del ángel (2008) | Das Spiel des Engels (2008)
- El prisionero del cielo (2011) | Der Gefangene des Himmels (2012)
- El laberinto de los espíritus (2016) | Das Labyrinth der Lichter (2017)
- Kurzerzählung¹: El Príncipe de Parnaso (2012) | Der Fürst des Parnass (2014)
- Erzählband²: La Ciudad de Vapor (2020) | Der Friedhof der vergessenen Bücher (2021)
(Vollständige Bibliographie bei Wikipedia)
Wer wissen möchte, was es mit diesem mysteriösen Ort auf sich hat, den Ruiz in seinen Romanen als gemeinsamen Dreh- und Angelpunkt entstehen lässt, kann sich hier eine ausführliche Detailbeschreibung anzeigen lassen:
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Friedhofsdetails verbergen
„Was du hier siehst, Daniel, ist ein geheimer Ort, ein Mysterium. Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seele derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben. Jedesmal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedesmal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten läßt, wächst sein Geist und wird stark. Schon vor so vielen Jahren, als mein eigener Vater zum ersten Mal hierher kam, war dieser Ort uralt. Vielleicht so alt wie die Stadt selbst. Niemand weiß mit Bestimmtheit, seit wann es ihn gibt oder wer ihn geschaffen hat. Ich erzähle Dir jetzt, was mir schon mein Vater erzählt hat. Wenn eine Bibliothek verschwindet, wenn eine Buchhandlung ihre Türen schließt, wenn ein Buch dem Vergessen anheimfällt, dann versichern wir uns, die wir diesen Ort kennen, also die Aufseher, daß es hierhergelangt. Hier leben für immer die Bücher, an die sich niemand mehr erinnert, die Bücher, die sich in der Zeit verloren haben, und hoffen, eines Tages einem neuen Leser in die Hände zu fallen. In einer Buchhandlung werden Bücher verkauft und gekauft, aber eigentlich haben sie keinen Besitzer. Jedes Buch, das du hier siehst, ist jemandes bester Freund gewesen. Jetzt haben sie nur noch uns, Daniel.“
(Der Schatten des Windes, Seite 10)
Wo befindet sich dieser Friedhof?
Bezaubernd, nicht wahr? Dieser verwunschene Ort soll sich im Herzen der Altstadt, westlich der Ramblas befinden. Vom weltweit bekannten Boulevard zwischen Plaça Catalunya und der Kolumbussäule am Hafen biegt man in den Raval ein. Genauer gesagt in den engen Carrer Arc del Teatre. Irgendwo dort, in diesem Gässchen müsste sich der Eingang zum Friedhof der Vergessenen Bücher befinden.
Im zweiten Teil des Zyklus erzählt uns der ewige Zerberus des literarischen Friedhofs, Isaac Monfort², ein paar historische Einzelheiten über den Ort:
„Wahrscheinlich ist das alles hier so alt wie die Stadt selbst und ist mit ihr gewachsen, in ihrem Schatten. Wir wissen, dass das Gebäude auf den Überresten von Palästen, Kirchen, Gefängnissen und Krankenhäusern errichtet wurde, die einmal an diesem Ort gestanden haben mögen. Die Grundmauern des Hauptbaus stammen ursprünglich aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert. Vorher war der Friedhof der Vergessenen Bücher unter der mittelalterlichen Stadt verborgen. Es heißt, in den Zeiten der Inquisition hätten Gebildete und Freidenker verbotene Bücher in Sarkophagen versteckt und zu ihrem Schutz auf den Gottesackern vergraben, die es überall in der Stadt gab, im Vertrauen darauf, dass kommende Generationen sie wieder ausgraben würden. Mitte des letzten Jahrhunderts fand man einen langen Tunnel, der vom Inneren des Friedhofs der Vergessenen Bücher zu den Kellergeschossen einer alten Bibliothek führt, die heute versiegelt und in den Ruinen einer ehemaligen Synagoge des Call-Viertels¹ verborgen ist. Beim Einsturz der letzten Stadtmauer entstand ein Erdrutsch, und der Tunnel wurde von einem unterirdischen Strom überschwemmt, der seit Jahrhunderten unter den jetzigen Ramblas entlangfließt. Heute ist der Tunnel ungangbar, aber wir nehmen an, dass er lange einer der Hauptzugänge zu diesem Ort war. Der größte Teil des Baus, den sie vor sich sehen, wurde im neunzehnten Jahrhundert errichtet. Nicht mehr als hundert Menschen in der ganzen Stadt kennen diesen Ort.“
(Das Spiel des Engels, Seite 179)
¹) Das jüdische Viertel El Call befand sich vom zwölften bis vierzehnten Jahrhundert im Barrio Gótico auf der entgegengesetzten Seite der Ramblas.
Die geheime Geschichte des Friedhofs
Im nachgeschobenen Vorwort zu seiner Tetralogie, nämlich im Bändchen Der Fürst des Parnass, liefert der Autor noch ein weiteres Detail nach. Oder wie er es nennt: Er „lässt mehr von der geheimen Geschichte des Friedhofs der Vergessenen Bücher aufblitzen“. In seiner Version der Geschichtsschreibung ist das literarische Paradies im Herzen Barcelonas nämlich auf der letzten Ruhestätte der Gebeine von Miguel de Cervantes entstanden.
So arg weit hergeholt ist der Vergleich zwischen Carlos Ruiz Zafón und Cervantes gar nicht, jedenfalls nicht in Bezug auf den finanziellen Erfolg. Der Schatten des Windes wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und verkaufte sich weltweit mehr als 15 Millionen mal – der größte spanische Bucherfolg seit dem Don Quijote von 1605 (Quelle: Süddeutsche Zeitung, 2020).
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Friedhofsordnung
„Der Brauch will es, daß jemand, der diesen Ort zum ersten Mal besucht, sich ein Buch aussuchen muß, dasjenige, das ihm am meisten zusagt, und er muß es adoptieren und darum besorgt sein, daß es nie verschwindet, daß es immer weiterlebt. Das ist ein ganz wichtiges Versprechen. Auf Lebenszeit.“
(Der Schatten des Windes, Seite 11)
Allerdings geht das Gerücht, dass es das Buch ist, das seinen Adoptivbesucher findet, und nicht umgekehrt. Im ersten Roman verlässt Daniel Sempere den Friedhof mit dem Titel Der Schatten des Windes (sic!) von Julián Carax. Im zweiten Band nimmt David Martín den Titel Lux Aeterna mit. Beide Bücher treiben die Hauptpersonen mit unwiderstehlichem Puls durch ihre jeweiligen Geschichten.
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Vermarktung
Gegen Ende der Romanserie erhält der Friedhof der Vergessenen Bücher sein eigenes Logo. Bereits die spanischen Nachauflagen von Band drei, Der Gefangene des Himmels, wurden auf dem Umschlag mit einer stilisierten Wendeltreppe versehen.
Diese Wendeltreppe wurde schließlich im vierten Band, Das Labyrinth der Lichter, auch zum inhaltlichen Bestandteil der Romanhandlung. Sie ziert nämlich die Bücher von Victor Mataix, dem dritten der verdammten Schriftsteller Barcelonas nach Carax und Martín.
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²) Zum Abschluss des vierten, abschließenden Bandes erhält der Friedhof der Vergessenen Bücher einen letzten würdigen Wärter. Isaac Monfort geht nämlich in Rente und wird abgelöst vom ewigen Stehaufmännchen Fermín Romero de Torres, der mit seiner Bernarda und den Kindern eine Wohnung im Nachbarhaus bezieht. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
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Rezeption
Ein Liebling der heimischen Kritiker war Carlos Ruiz nie. Insbesondere über die systematische Ausgrenzung durch den klüngelhaften spanischen Literaturbetrieb beklagte sich der Autor immer wieder. Nur der italienische Corriere della Sera nannte den Schriftsteller einst den „Dickens von Barcelona“.
Aber wie auch immer: Die Leser liebten seine Romane um das vergessene Barcelona des vergangenen Jahrhunderts. Gerade Deutsche neigen ja dazu, Bildungsreisen mit ganz besonderer Akribie vorzubereiten. Der Barcelona-Tourismus, natürlich stets mit dem aktuellsten „Zafón“³ im Gepäck, hat somit ganz bestimmt von den Romanen des Autors profitiert.
Tatsächlich stellt Der Schatten des Windes den größten literarischen Erfolg eines spanischen Werkes dar seit Miguel Cervantes‘ Don Quijote im Jahr 1605.
Auch wenn Rezensenten gern den romantisch verklärten Schleier kritisierten, den Ruiz über seine Barcelona-Geschichten legte; seine Leserschaft liebt doch gerade das Geheimnisvolle, das Sinnliche der Erzählungen. Wenn schon nicht vor Ort in den finsteren Gassen der Altstadt Barcelonas, dann doch wenigstens auf dem Sofa bei einem Glas Wein: Wir begeben uns nur zu gerne auf die Suche nach diesen vergessenen Orten, die ja vielleicht doch existieren. Auch wenn sie in der realen Welt nicht (mehr) aufzufinden sind.
Der Roman Der Schatten des Windes steht nicht zuletzt deshalb schon seit vielen Jahren und noch immer konkurrenzlos an der Spitze meiner ganz persönlichen Lieblingsbücher-Liste.
Erfolgsrezept
Seinen weltweiten Erfolg verdankt der Autor dem handwerklich äußerst gekonnten Verweben historisch belegter Begebenheiten mit Erfundenem, das weit jenseits der Realität steht. Doch Ruiz‘ Erzählkunst schafft aus solch verschiedenen Welten einen bunten literarischen Teppich, über den wir nur allzu gerne immer wieder schreiten.
Man kann den Autor und sein Werk vielleicht auch im Zusammenhang mit anderen spanischsprachigen oder zumindest mediterranenen Schriftstellern der Moderne sehen: Mit dem Argentinier Jorge Luis Borges etwa; oder mit der Chilenin Isabel Allende; mit dem Kolumbianer Gabriel García Márquez; und mit dem Italiener Umberto Eco. Sie alle haben schließlich nach vergleichbarem oder ähnlichem Muster mit Mystischem, mit Geheimnisvollem, Verbotenem oder Vergessenem gearbeitet.
Stets bewundert habe ich Carlos Ruiz für seine standhafte Weigerung, seine Romane verfilmen zu lassen. Dies mag womöglich mit seinen Anfängen als Autor schlechter Drehbücher zu tun haben. Begründet hat Ruiz seine Ablehnung mit der Zielsetzung seiner Romane. Er habe nämlich viel Aufwand in die Erschaffung einer Erlebniswelt gesteckt, die sich jedem einzelnen Leser auf seine Weise erschließe. Eine nachträgliche Verfilmung würde diesen Zauber des Erlebens zunichte machen und „den arbeitsreichen Schaffensprozess rückwirkend redundant erscheinen lassen“.
Abschied
Doch warten wir ab, wie es weiter gehen wird. Im Jahr 2018 erhielt Carlos Ruiz eine Darmkrebsdiagnose. Schon im Juni 2020 verstarb der Autor an seinem Krebsleiden. Er hinterlässt seine Witwe Mari Carmen Bellver. Beide hatten sich noch in Barcelona kennengelernt und lebten seither mehr als drei Jahrzehnte zusammen. Das Paar hatte keine Kinder. – Te echaremos de menos, Carlos | Wir werden Dich vermissen.
„Eine Geschichte hat weder Anfang noch Ende, nur Eingangstüren.“
(Das Labyrinth der Lichter, S. 1274)
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Wer diese Hommage an Don Carlos und seine berühmte Barcelonaromanserie gern gelesen hat, dem empfehle ich auch die Lektüre eines Blogtextes des Kollegen Kaffeehaussitzers mit dem Titel Eine Stadt, in der Zeit verschwunden. Sie lohnt sich.
Fußnoten:
¹ — „Ich habe diese kleine Erzählung als Divertissement gedacht, als eine Art Geschenk an die Leser, das mehr von der geheimen Geschichte des Friedhofs der Vergessenen Bücher aufblitzen lässt.“
(Carlos Ruiz Zafón, Klappentext Der Fürst des Parnass, 2014)
² — Auch wenn der Autor zu Lebzeiten in einem Interview im Jahr 2016 noch mit der Rechten auf dem Buchdeckel seines vierten Romanbandes schwor, dies sei seine letzte Veröffentlichung zu dem Thema: Er konnte nicht verhindern, dass seine Witwe und sein Verlag kurz nach seinem Ableben die Überbleibsel seiner Arbeiten in einer allerletzten Publikation verarbeiteten.
³ — Ich möchte hier nur einmal ganz kurz klugscheißen: Als Spanier heißt der Mann tatsächlich Carlos (Vorname) Ruiz (1. Nachname) Zafón (2. Nachname). Allerdings findet in der gesellschaftlichen Realität der 2. Nachname, den jedermann von seiner Mutter übernimmt, keine Anwendung. Also: „Don Carlos“ oder „Señor Ruiz“.