
Garou lautet der Titel des zweiten Romans der Schriftstellerin Leonie Swann. Der Roman ist als Fortsetzung von Glennkill angelegt, Swanns berühmtem Schafskrimi aus dem Jahr 2005. Die Autorin selbst bezeichnet die Fortsetzung nicht mehr als Krimi sondern als „Schaf-Thriller“. Natürlich geht es in Garou auch wieder um einen Kriminalfall, der aufgeklärt werden will. Aber die Geschichte hat noch eine zweite Ebene; mystische Ereignisse, die die Protagonisten des Romans nicht rational einordnen können.
Das zweite Buch ist für Schriftsteller stets das schwerste, heißt es. Ist es Leonie Swann gelungen, sich vom Druck zu befreien, der nach dem Erfolg ihres Erstlings auf ihr lastete?
Glennkill handelte in Irland. Geschrieben hatte Swann die Geschichte in Paris, Berlin und Irland. Garou hingegen spielt nun in Frankreich und wurde in Berlin und England verfasst.
Aber bevor wir uns mit dem Inhalt des Romans befassen, will ich es nicht versäumen, auf eine Besonderheit zumindest der gedruckten Ausgabe des Buches hinzuweisen. Nämlich auf das Daumenkino.
Für die jüngeren unter den Lesern: „Daumenkino“ ist das, was wir hatten, bevor es Internet und Zappelbilder im GIF-Format gab. Auf alle Seiten des Buches ist in der Ecke rechts unten ein gezeichnetes Bildchen eines Widders vor einem Baumstamm abgebildet. Auf jeder Seite ein bisschen anders als auf der vorhergehenden. Wenn man nun ein Bündel dieser Seitenecken ganz schnell über den Daumen gleiten & blättern lässt, dann laufen in rascher Folge die Einzelbilder hintereinander ab. Man sieht dann einen Zeichentrickfilm, in dem der Widder mit seinen Hörnerschnecken in einem Scheingefecht den Baum angreift. – Ja, Daumenkino, ein historischer Spaß für die älteren unter uns.
Worum also geht es?
Der im ersten Band ermordete Schäfer George hatte einst seiner Schafsherde eine Reise nach Europa versprochen. Im zweiten Band löst nun Rebecca, Georges Tochter, das Vermächtnis ihres Vaters ein. Sie reist mit der Herde rund um die Superschafe Mopple the Whale, Miss Maple und Othello nach Frankreich.
Die Herde, Rebecca und – ojemine! – auch deren überkandidelte „Mama“ überwintern auf einer Weide, die zu einem alten Schloss gehört. Der Winter bringt jedoch nicht nur Schnee und Kälte sondern auch Tote. Zunächst wird am Waldrand der übel zugerichtete Kadaver eines Rehs gefunden. Überraschenderweise zieht der Fund eine umfangreiche Polizeiaktion rund um das Gelände nach sich. Ein weiteres totes Reh folgt, und schließlich auch der Leichnam von Yves, dem Schlossknecht.
Längst verdrängte Geschichten werden leise und unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitergeflüstert. Vor Jahren hatte an gleicher Stelle ein Werwolf sein Unwesen getrieben, ein loup garou! Damals hatte er Rehe und Menschen getötet und sogar eine Schafsherde beinahe vollständig ausgelöscht. – War dieser Werwolf womöglich jetzt zurück? Diese Vermutung zumindest legt bereits der Prolog der Geschichte nahe.
Aufbau und Struktur
Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Den ersten Teil über sind die Schafe damit beschäftigt, die Geschichte der Angst vor dem „Garou“ aufzudecken. Das ist gar nicht so einfach, denn die Schlossbewohner „quaken“ auf Französisch und die Schafe brauchen Hilfestellung, die sich durch die benachbarte Ziegenherde anbietet. Die verstehen und übersetzen zwar französisch in eine gemeinsame Schafs-Ziegen-Sprache, sind allerdings komplett verrückt, verschlagen und manchmal kryptischer als das Orakel von Delphi. Außerdem stinken sie. Dennoch raufen sich die beiden Herden zusammen.
Im zweiten Teil der Geschichte beginnen die Schafe zu ermitteln. Dabei teilen sie sich manchmal für den Leser unübersichtlich in verschiedene Gruppen auf. Mich hat Swann in diesem Teil das eine oder andere Mal abgehängt. Aber zum Ende hin wird zumindest klar, dass es vielleicht doch keinen Garou gibt. Sind gar lediglich einige undurchsichtige Trittbrettfahrer schuld an den Todesfällen? Oder ist da dennoch ein Werwolf? Und nicht nur dieser, sondern womöglich noch ein Dritter, der seinerseits den Garou jagt?
Nun, der dritte Romanteil bringt all die vielen losen Ende doch noch zusammen und die ganze Geschichte zu einem stimmigen Ende. Wer oder was da alles mordete, werde ich hier jedenfalls nicht verraten.
Erfolgsrezept
Leonie Swann bleibt im Grunde beim bewährten Rezept ihres ersten Romanbandes. Zwar verstehen die Schafe beileibe nicht alles, was in der Menschenwelt geschieht. Aber es gelingt ihnen trotzdem, immer wieder zurück zur Spur zu finden.
Die unterhaltsamsten Stellen sind nach wie vor Szenen, in denen Schafe ihre Menschen gründlich missverstehen. Oder sind es doch die Menschen, die sich einfach nur verrückt verhalten?
Da wäre zum Beispiel eine Landkarte. Die Schafe sind überzeugt, dass diese Karte Schuld an der gesamten Reisemisere trägt. Die Karte hat keine Ahnung von der Welt und wird deshalb kurz und bündig aufgefressen. Weitere Sachrollen spielen: Ein merkwürdiges Stielaugengerät (Fernglas), das in Wirklichkeit die Dinge gar nicht größer machen kann. Wie denn auch?
Oder das Zahlenschloss, das man mit „Zählen“ öffnen kann. (Was den Schafen natürlich misslingt.)
Eine sehr fröhliche Szene bietet auch die Unterhaltung der Schafe mit einem LKW, den sie dazu überreden wollen, sie woandershin zu fahren:
Die Verhandlungen waren bisher nicht besonders erfolgreich verlaufen. Sie hatten es mit Schmeicheleien versucht, mit Bitten, mit Drohungen, sogar mit einem kleinen Kick gegen die Stoßstange. Doch das große Auto schwieg verstockt. […] Die Schafe waren nicht naiv. Sie wussten, dass das Auto nicht auf die gleiche Art lebendig war wie Schafe oder Hunde oder Menschen. Aber manchmal bewegten sie sich, und manchmal bewegten sie sich nicht. Irgendetwas musste sie dazu bringen, sich zu bewegen. Aber was?
Hintergründiges und Psychologisches
Ganz klar: Schafen bleibt natürlich verborgen, warum Menschen wie Mama ab und an ein „zweites Gesicht“ oder gar ein drittes auflegen, das sich farblich vom Original unterscheidet. Sie bleiben auch skeptisch, wenn Menschen auf ihren „Sprechgeräten“ herumtippen und hineinquaken.
Und ja, es gibt noch sehr viel mehr witzige Wortspiele und Verständnisprobleme zwischen Mensch und Tier nachzulesen. Die werde ich aber hier beileibe nicht alle ausbreiten. Lest einfach selbst.
Aber dann gibt es doch auch überraschend tiefsinnige Parallelen. Wenn etwa Schafe im Wasser oder in Spiegeln ihr eigenes Bild entdecken. Dieses „Schaf vom Grunde“ sieht entschlossener und stärker aus, als sie selbst sich fühlen. Es vermittelt ihnen Kraft und Willensstärke … äh, pardon: Wollensstärke! – Da ist es doch vom Schaf zum Menschen nur ein ganz kleiner Lämmersprung.
Aber von solchen bemerkenswerten Nebensächlichkeiten einmal abgesehen schafft es die Autorin glücklicherweise auch, den Abschluss des Romans wieder richtig spannend zu gestalten, obwohl die Handlung zuvor und zwischenzeitlich ein bisschen zerfasert wirkte.
Und gegen Ende der Geschichte verrät uns Leonie Swann auch noch, dass die Jung-Schäferin Rebecca niemand anderes als ihr eigenes Alter Ego ist.
Mama zündete sich eine zweite Zigarette an. „Du solltest ein Buch schreiben. Oder wenigstens ein Interview geben. ›Im Rachen des Werwolfs‹ oder so. Glaub mir, das zieht.“
~
Wem meine Besprechung von Garou gefallen hat, wird vielleicht auch die Rezensionen des Vorgängers Glennkill oder des Nachfolgers Gray lesen wollen.
Fazit:
Garou ist eine äußerst vergnügliche Lektüre für alle, die schon Glennkill mochten. Natürlich, der Reiz des Neuen, den uns der erste Roman beschert hatte, ist vorbei. Aber die Autorin ruht sich nicht auf den Lorbeeren von Glennkill aus. Auf Altbewährtem baut sie durchaus neue und erneut überraschend treffsichere Ideen auf.
Mich haben lediglich die ziemlich blassen Identitäten des gesamten Schlosspersonals ein wenig enttäuscht. Da wäre echt mehr drin gewesen und hätte der Auflösung der Kriminalgeschichte gewiss gut getan.
Trotzdem bekommt Garou von mir drei besonders saftige Schafs-Sterne verpasst. Für vier hat es auch diesmal leider nicht ganz gereicht.
Leonie Swann: Garou,
Goldmann Verlag, 2010
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