
Wachablösung im schwedischen Ystadt: Linda, die Tochter von Kurt Ingvar Wald, setzt sich ans Steuer. Zwar ist es auch dieses Mal noch ihr Vater Kurt, der im Kriminalfall „vor dem Einsetzen des Frostes“ die Ermittlungen leitet, aber machen wir uns nichts vor, eigentlich ist es die Tochter, die die Straftaten aufklärt. – Linda, übernehmen Sie!
Vor dem Frost ist in chronologischer Hinsicht der zehnte Band der Wallanderserie und folgt dem recht enttäuschenden Vorgänger Wallanders erster Fall, dem biografischen „Ausrufezeichen“ hinter den ursprünglichen Wallanderromanen, mit einem Abstand von drei Jahren; zumindest im schwedischen Original.
Zunächst einmal muss dringend angemerkt werden, dass ich mitnichten an geistiger Umnachtung leide. Tatsächlich heißt der Kriminalkommissar, um den sich bisher das Gros der Romane von Autor Henning Mankell drehte, mit Nachnamen Wallander. Nicht etwa Wald.
Wenn man allerdings die Hintergründe ausleuchtet, die zu Mankells ungeheuer erfolgreichen Krimiserie führten, so stellt man fest: Zum fiktiven Polizisten Kurt Wallander gibt es tatsächlich ein Vorbild in der Realität. Kurt Ingvar Wald ist wie Wallander Polizeibeamter in Ystad. Er ist geschieden, hat eine Tochter namens Linda und liebt die Oper. Außerdem klärte er um 1990 den realen Mordfall an dem Bauernehepaar auf, den Mankell im ersten Wallander, Mörder ohne Gesicht, wiedergab.
Der Generationenwechsel
Nach neun Folgen mit Kurt Wallander soll also jetzt Schluss sein. Vor dem Frost berichtet von der Übergabe der Amtsgeschäfte vom Vater an die Tochter. Linda Wallander hat die Polizeischule absolviert und wartet auf ihren Dienstbeginn in Ystad. Sie wohnt übergangsweise zu Hause bei ihrem Vater. Vor diesem Hintergrund bleibt es nicht aus, dass sie auch ohne Mandat in die Ermittlungen einbezogen wird.
Als ein anonymer Anrufer der Polizei von brennenden Schwänen berichtet, begleitet sie Kurt ebenso an den Ort des Geschehens wie kurz darauf, als ihr Vater einem Bauern beisteht, dessen Jungstier mit Bezin übergossen und angezündet wurde. Außerdem findet Linda die Spur zum ersten menschlichen Opfer der Mörder.
Es ist schon fast überflüssig anzumerken, dass es auch Linda ist, die stets den besten Riecher hat. Sie macht die wichtigsten Entdeckungen und hat die richtigsten Eingebungen. Kurz und gut, auch ohne Uniform ist Linda Wallander selbst in kriminalistischer Hinsicht die Hauptperson des Romans. Und sie ist im Gegensatz zu den Vorgängerromanen die Erzählerin: Vor dem Frost ist aus der Sicht Lindas geschrieben.
Worum geht es?
Ein schwedischer Familienvater verlässt seine Frau und die junge Tochter. Er streift zunächst ziellos durch die Welt, bevor er sich einer christlichen Sekte anschließt und letztlich deren unrühmliches Ende im Dschungel von Guyana miterleben muss – als einer der wenigen Überlebenden. Der Mann baut schließlich seine eigene religiöse Gemeinschaft auf, kehrt mit den Anhängern nach Schweden zurück, um dort den jüngsten Tag einzuläuten. Linda und Kurt Wallander sowie das Ermittlungsteam in Ystad haken sich nicht zuletzt auf der Basis persönlicher Beziehungen Lindas in die Geschehnisse ein und versuchen, die Pläne des selbsternannten Sektenführers aufzuhalten.
Gesellschaftskritik
Auch im neuen Roman rahmt Henning Mankell seine Geschichte durch Anmerkungen zu gesellschaftlichen Missständen. Diesmal nimmt er religiösen Fanatismus auf Korn. Der Kriminalfall baut auf ein historisches Ereignis aus dem Jahr 1978 auf. Der Sektenführer Jim Jones in Guayana führte damals über neunhundert Mitglieder seiner Volkstempler in den Freitod.
Bei Mankell überlebte einer der Gefolgsleute. Dieser sucht nun dreiundzwanzig Jahre nach dem Massaker Südschweden mit seiner eigenen Variante des religiösen Fanatismus heim. Und der Autor spannt den Bogen bis ins Jahr 2001: Er lässt Linda Wallander am Ende der Geschichte, dann endlich als Polizeibeamtin in Amt und Würden, das Attentat auf das World Trade Center am Fernsehgerät miterleben.
Wo bleibt denn der Krimi? Der Thriller?
Doch was zu Anfang von Vor dem Frost überaus spannend beginnt, verblasst leider mit zunehmendem Fortschreiten der Erzählung. Am Ende steht die Handlung merkwürdig zusammenhangslos, aus dem Kontext gerissen im Raum. Es gelingt dem Autor nicht so recht, den Bogen von Jones zu bin Laden überzeugend zu spannen.
Auch die eigentliche kriminalistische Handlung, hervorgerufen durch die Aktionen des Sektenführers in Schonen, wirkt unterkühlt und ungewohnt spannungsarm. Blutrünstig sind die Geschehnisse zwar allemal. Da sterben Tiere den Flammentod. Menschen werden aus unterschiedlichen Gründen brutal gemeuchelt. Die Täter werden trefflich charakterisiert, ihre Motive sind durchaus nachvollziehbar. Aber dennoch wirken die Mordfälle wie eine im Hintergrund inszenierte Rahmenhandlung.
Dieses Zurücktreten sowohl der eigentlichen Handlung, als auch der moralischen Schlussfolgerung entsteht durch Mankells ausführliche Bezugnahme auf die Personen und Hintergründe der Familie Wallander. Solche Sequenzen nehmen einen erheblichen Teil des Bandes für sich in Anspruch. Sie trennen den eigentlichen Kriminalroman in kurze Happen. Die Leserschaft muss diese jedes Mal von Neuem in Zusammenhang bringen.
Ich vermute: Der vorliegende zehnte Wallander wird die Fangemeinde entzweien. Wer an Mankells Krimis vor allen Dingen die unerhörte Spannung liebte, mag sein letztes Buch nach dem Lesen ein wenig enttäuscht beiseite legen.
Die andere Fraktion aber, die schon immer am liebsten bei Wallanders zu Hause auf dem Sofa saß, um wie in einer Seifenoper deren Familiengeschichten zu verfolgen und womöglich Parallelen zum eigenen Leben aufzustellen; ja, diese Fraktion wird Vor dem Frost sehr wahrscheinlich zum Leckerbissen der gesamten Reihe erklären.
Wallander im Rückspiegel
Auf eine lange Reise ins Innenleben seiner Heldin entführt uns Henning Mankell in seinem Roman Vor dem Frost. Lange Seiten füllt er mit den Gedankengängen Linda Wallanders. Mit ihren Erinnerungen an persönliche und familiäre Ereignisse, mit Reflexionen über Parallelitäten zwischen ihrem Vater und ihr selbst. Und mit ihrem Aufarbeiten von Kindheitserlebnissen und der Integration von Kriminalfällen früherer Wallanderromanen aus ihrer eigenen Sicht.
Darüber hinaus lässt der Autor auch Vater Kurt sehr persönliche Gedanken äußern. Etwa wenn er die Tochter durch seinen geheimen „Waldfriedhof“ führt, in dem die Bäume für all die Toten in seinem Leben stehen. Und selbst Lindas Mutter Mona bekommt ihren – völlig aus dem Roman gerissenen – Auftritt, als sie von der Tochter betrunken und unbekleidet in ihrer Wohnung angetroffen wird.
Erstaunlich ist, dass Mankell mit Vor dem Frost etwas zustande bringt, was er mit dem Vorgänger Wallanders erster Fall wohl beabsichtigt aber eben nicht geschafft hat: Aus dem Blickwinkel der Tochter wird nun endlich das Vorleben Kurt Wallanders mit einem Mal verständlich und nachvollziehbar. – Was für ein Durchbruch!
Die Schlüsselfigur
Als Dreh- und Angelpunkt für so ziemlich alle Ereignisse der Geschichte erweist sich Lindas Beziehung zu ihrer Freundin Anna. Diese stellt zwar in erster Linie den Zusammenhang zwischen Lindas Berufswelt und den Sektenmördern her. Dennoch gilt der weitaus größte Teil der Schilderungen um Anna deren früherer und aktueller freundschaftlicher Beziehung zu Linda Wallander.
Eben über diese Anna taucht Linda immer wieder in ihre Vergangenheit und damit auch in ihre Beziehungen zu den eigenen Eltern Mona und Kurt ein. – Man muss schon sagen: Anna und die mit ihr verbundenen Möglichkeiten sind ein äußerst geschickter Schachzug Mankells.
In der Romanhandlung verschwindet Anna spurlos, und Linda verbeißt sich besorgt in die Suche nach der Freundin. Dabei taucht sie immer wieder über lange Textpassagen hinweg tief in ihre eigene Vergangenheit ein, etwa wenn sie in Annas Wohnung nach Ansatzpunkten für deren Verschwinden forscht.
Rezeption
Webseiten, die sich auf die Wallander-Romane spezialisiert haben, listen den zehnten Teil ohne mit der Wimper zu zucken als ersten Teil der zu erwartenden Lindaserie. Ich hatte beim Lesen jedoch einen anderen Eindruck. Liegt uns mit Vor dem Frost der erste Schritt zu einem Genrewechsel des Autors vor? Sind wir mit dem letzten Mankell dabei, dem Kriminalroman den Rücken zuzukehren? Wandelt sich die Wallanderserie etwa zum Entwicklungs- oder Gesellschaftsroman?
Wie geht es weiter?
Genügend Türen in Richtung auf einen solchen Wechsel lässt Henning Mankell offen stehen. Dazu gehört zum Beispiel der Einschub über Lindas Mutter Mona. Deren offensichtliche Lebenskrise äußert sich in Selbstvernachlässigung und Alkoholismus. An diesen Aufsatzpunkt könnte der Autor eine ganze Menge unterschiedlicher Folgeentwicklungen knüpfen. Diese hätten allesamt wenig mit Krimi zu tun. Eher gäben sie weit verbreiteten Gesellschaftsproblemen ein Gesicht.
Ein weiteres Detail der Geschichte lässt Spekulationen über künftige Romanfolgen breiten Spielraum. Einer der Ermittler im aktuellen Fall ist Stefan Lindman, der sich von Borås nach Ystadt versetzen hat lassen. Man erinnert sich: Lindman ist der Protagonist in Die Rückkehr des Tanzlehrers. Diesen Roman hatte Henning Mankell zwischen den neunten Wallander und den Beginn der Lindaserie geschoben.
Vor dem Frost skizziert nun den Beginn einer romantischen Beziehung zwischen Stefan und Linda. Man mag sich die Frage stellen, ob das Einbeziehen des alternativen Helden nichts anderes als des Autors Versuch ist, seinem Werk eine gleichbleibende Linie zu geben. Vielleicht steckt aber auch mehr hinter dieser Verknüpfung zweier ansonsten unabhängiger Romane.
Wir dürfen gespannt sein, was Mankell aus seiner breit angelegten Neuinszenierung machen wird. Ob er zum klassischen Kriminalroman zurückkehren, oder ob er sich in unbekannte Gewässer begeben wird? Das werden wir wohl erst in seinem nächsten Buch erfahren. – Dass ein solches kommen wird, steht in meinen Augen immerhin außer Zweifel.
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Notiz am Rande: Natürlich hat es sich der Zsolnay Verlag auch diesmal nicht nehmen lassen, die Gestaltung des Schutzumschlages wieder nach einem historischen Gemälde gestalten zu lassen. Diesmal ist der Bezug wirklich ganz außerordentlich gelungen: Der Roman beginnt mit in Brand gesetzten Schwänen, das zu Grunde liegende Werk trägt den Titel Der bedrohte Schwan (1652). Es stammt vom französisch-niederländischen Landschafts- und Historienmaler Jan Asselijn. Das Original kann man im Rijksmuseum in Amsterdam bestaunen.
Wer diese Rezension gern gelesen hat, mag sich womöglich auch für Buchbesprechungen anderer Wallanderromane interessieren oder meine Themenseite über Kurt Wallander ansehen wollen.
Fazit:
Für den Krimifreund ist Vor dem Frost nicht gerade eine Empfehlung. Auch wer sich in die Wallanderserie einlesen möchte, ist mit diesem Roman als Startpunkt schlecht beraten. Zu viele Details verweisen auf die Vergangenheit. Hauptsächlich handelt es sich um Verweise auf die private Seite der Wallanders. Einsteiger können dadurch wenig Verständnis für die langen Abhandlungen und Gespräche zwischen Vater und Tochter aufbringen. Wenn sich allerdings jemand mehr für Wallander als Person denn als Kriminalisten interessiert, dann gibt es für das Buch nicht nur eine Empfehlung sondern einen Lesebefehl.
Da ich mich eher zur letztgenannten Gruppe zähle, habe ich Lindas erstem Auftritt ohne zu zögern vier von fünf möglichen Sternen zugesprochen – wohl wissend, dass es Leser gibt, die aus völlig nachvollziehbaren Gründen womöglich noch nicht einmal drei vergeben würden.
Diese Buchbesprechung erschien zuerst am 28. Oktober 2003. Sie wurde behutsam angepasst und ergänzt am 16. November 2020
Henning Mankell: Vor dem Frost
Paul Zsolnay Verlag, 2003
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