Wallanders erster Fall

Henning Mankell, Wallanders erster Fall, 2002
Henning Mankell, 2002

Eigentlich war bereits Die Brandmauer als Abschlussband der Wallander-Romanserie Henning Mankells angelegt. Doch nur ein Jahr nach der Brandmauer schiebt der Autor eine Sammlung mit fünf kürzeren Erzählungen über den längst weltberühmten Schwedenkommissar nach. Diese Sammlung trägt den Titel Wallanders erster Fall (und andere Erzählungen). Wie der Titel vermuten lässt, handelt der neunte Band in der Zeit vor dem ersten Roman, Möder ohne Gesicht, er präsentiert also die Vorgeschichte von Kurt Wallander. Im Vorwort erklärt Mankell, er habe bemerkt, dass er „im Kopf anfing, Erzählungen zu schreiben, die vor der Romanserie spielten“. Er habe diesen Band herausgegeben, „weil er ein Ausrufezeichen darstellt nach dem Punkt, den ich mit Die Brandmauer gesetzt hatte“.

Für die weltweite Fangemeinde des schwedischen Kommissars stellt der neunte Band keinen Epilog dar, sondern einen Prolog. Obwohl er zuletzt geschrieben ist.

„Wallander ist für viele ein lebendiger Mensch geworden. Er ist aus den Buchseiten herausgetreten und zu einem Mitmenschen geworden. Auch wenn alle im Innersten natürlich wissen, daß er nur in der Vorstellung existiert. Aber er hat trotzdem eine Vergangenheit. Er war einmal jung. In diesen Erzählungen versuche ich, einige der frühesten Teile seines Lebens, so wie ich sie mir vorstelle, in das Bild einzufügen.
Kein Bild wird jemals vollständig. Aber diese Geschichten gehören zur Serie über Wallander. Ich mache den Sack zu.“ (Seite 11)

Wallanders erster Fall –

Überblick und Kritik

Tatsächlich schließt die Sammlung eine chronologische Lücke zwischen den Jahren 1968 und 1990, dem Jahr, in dem die Handlung des ersten Romans einsetzt. Für intime Kenner des Schwedenkommissars bringen die fünf Erzählungen in Band neun jede Menge Bonusmaterial. Wir bekommen Details aus Wallanders Werdegang – beruflich wie privat – aufgetischt, die erklären, wie Kurt Wallander zum dem wurde, der er ist. (Wer sich für einen knappen Überblick über das Leben des Kult-Kommissars interessiert, dem empfehle ich einen Blick in mein Kompendium. Dort habe ich die Puzzlestücke aus den einzelnen Romanen zusammengesetzt.)

Unstimmigkeiten

Nachdem ich nun allerdings alle Romanbände von eins bis neun nicht nur gelesen sondern durchgearbeitet habe, komme ich nicht um den Hinweis herum, dass der Autor in den großen Zusammenhängen unsauber geblieben ist. Das beginnt schon mit der noch immer ungeklärten Frage nach dem Geburtsdatum Wallanders, zu der es in den verschiedenen Romanen unterschiedliche Hinweise gibt.

Ein weiteres Beispiel für Ungereimtheiten ist die Geschichte zur Berufswahl von Wallanders Tochter Linda. Beinahe über alle Romanbände von eins bis acht hinweg äußert sich Kurt Wallander besorgt über die Wankelmütigkeit der Tochter. In einem der Romane macht sie dies, im anderen jenes. Im Band neun fasst nun der Autor Lindas wechselnde Berufsinteressen so zusammen, als habe die junge Frau das alles längst vor 1990 hinter sich gebracht. Das passt einfach nicht zur chronologisch nachfolgenden Entwicklung Lindas.

Auch der eine oder andere Mitstreiter Wallanders bekommt hier im Prolog einen ganz anderen Auftritt als in früher geschriebenen Romanfolgen. Als Beispiel möchte ich die Figur des Kriminaltechnikers Sven Nyberg anführen. In Band drei hatte Nyberg im Jahr 1992 seinen ersten Auftritt:

„Er traf auf Sven Nyberg, der erst vor einigen Monaten zur Ystader Polizei gekommen war. Vorher hatte er in Malmö gearbeitet.“
(Die weiße Löwin, Seite 86)

Im neunten Band nun bekommt eben dieser Nyberg bereits Mitte der Achtzigerjahre seinen Auftritt. Und zwar als schon damals langjähriger und zuverlässiger Mitarbeiter der Polizei in Ystad.

Wir müssen festhalten, dass der Gesamtheit der Wallanderromane in so manchem Detail Stimmigkeit und übergreifende Konsistenz fehlen. Konsequente Buchführung über zehn, zwanzig Jahre hinweg gehörte gewiss nicht zu Mankells Stärken.

Wallanders erster Fall – Über die Handlung

Wie gesagt, Wallanders erster Fall besteht aus einer Sammlung von fünf separaten Erzählungen mit zeitlichem Abstand zueinander. Die erste trägt den Titel des Buches selbst. Darin beginnt Kurt Wallander 1969 seine berufliche Laufbahn als Ordnungspolizist in Malmö. Im Privaten hat er seine Beziehungsprobleme mit der Freundin Mona. Doch unmittelbar nach Ende der Erzählung heiraten die beiden und bekommen die gemeinsame Tochter Linda. Als Kurts Wohnungsnachbar tot aufgefunden wird, arbeitet er der Kriminalpolizei bei der Klärung der Umstände zwar unkonventionell aber so erfolgreich zu, dass er am Ende zur Kripo Malmö wechseln kann.

Der Mann mit der Maske

Fünf Jahre später zieht die junge Familie nach Ystad um. Der Wechsel Wallanders von der Kripo Malmö nach Ystad steht bevor, als Wallander an Heiligabend 1975 auf dem Heimweg noch dem besorgten Anruf einer Ladenbesitzerin nachgeht. Er findet die Leiche der Anruferin und wird im nächsten Augenblick von einem Unbekannten niedergeschlagen. Beim folgenden Versuch, den schwarzafrikanischen Angreifer zum Aufgeben zu überreden, entgeht Kurt Wallander nur knapp dem Tod.

Diese Episode ist die kürzeste der Sammlung und lässt die Leserschaft einigermaßen ratlos zurück. Der Autor bringt seine dramatisch komprimierte Kritik an der südafrikanischen Gesellschaft zum Ausdruck. Doch man fragt sich schon, was diese Erzählung zur Entwicklung Wallanders beitragen soll.

Der Mann am Strand

Weitere zwölf Jahre später, im Frühjahr 1987, stirbt ein vermeintlicher Urlauber auf dem Rücksitz eines Taxis an einer Vergiftung. Die Ermittlungen ergeben, dass der Mann über mehrere Tage hinweg zu Fuß am Strand südlich von Ystad unterwegs war. Am vierten Tag endet sein Leben auf der Rückfahrt zum Hotel.

Auch diese Episode ist sehr kurz gehalten. Ihre kriminalistische Auflösung wirkt an den Haaren herbeigezogen und gehört sicher nicht zu den Glanzlichtern der mankellschen Erzählungen. Außer sehr viel Frustration bei allen an der Geschichte Beteiligten konnte ich bei der Lektüre nicht viel aufnehmen. Eine Lösung mit nachvollziehbarem Motiv fehlt schlichtweg.

Der Tod des Fotografen

Ziemlich genau ein Jahr nach dem vergifteten Spaziergänger wird ein allseits bekannter Fotograf Ystads in seinen Geschäftsräumen erschlagen aufgefunden. Die vierte Episode des Bandes ist ausführlicher als die beiden vorangegangenen Erzählungen. Und sie wirkt im Aufbau wesentlich raffinierter. Der nach außen unauffällige, als Persönlichkeit blasse Fotograf entpuppt sich als Mensch mit Geheimnissen und Unzulänglichkeiten, die ihn letztlich ins Grab bringen.

Der Tod des Fotografen ist ganz eindeutig meine Liebingsgeschichte im vorliegenden Erzählband. Sie ist stimmig, spannend und letztlich auch nachvollziehbar, was man längst nicht von allen anderen Episoden des Buches sagen kann. Außerdem ist sie die einzige der fünf Geschichten, die das Abgründige im Menschen hervorkehrt, das viele der besonders gelungenen Romane Mankells auszeichnet. Auf der privaten Ebene Wallanders bringt diese Erzählung die Trennung des Protagonisten von seiner Frau Mona.

Die Pyramide

Die letzte und längste der fünf Erzählungen des Bandes trägt sich im Winter 1989/90 zu. Sie endet auf den Punkt mit dem Beginn der Ermittlungen zur ersten Folge der Wallanderromane, Mörder ohne Gesicht. Auch sie zeichnet sich durch den viel gelobten Stil Mankells aus, mit einer verwirrenden Verbrechensgeschichte zu beginnen und aus einer zunächst völlig zusammenhanglosen Konstellation eine stimmige Kriminalstory aufzubauen. Hier stürzt zunächst ein kleines Privatflugzeug ab, die zwei Insaßen verbrennen. Doch das Flugzeug ist nicht registriert, der Flug war nicht angemeldet. Waren das Schmuggler?
Kurz darauf wird das Gebäude eines Handarbeitsgeschäftes in Ystad in Brand gesteckt. Die Leichen der Inhaberinnen, zweier älterer Schwestern, werden in den Trümmern aufgefunden. Doch die Toten waren nicht nur verbrannt, sondern zuvor durch Genickschüsse hingerichtet worden.
Ein fünfter Toter schließt sich an: Ein als Drogendealer verdächtigter Ystader wird erschossen im Wald aufgefunden.

Das kriminalistische Rezept dieser Erzählung ist zwar bestechend. Aber die Auflösung der Mordfälle war mir dann doch zu banal. Am originellsten wirkt noch eine persönliche Nebenepisode der Geschichte, in der Wallanders Vater sich einen seiner Lebensträume erfüllt und nach Kairo reist, um die Pyramiden zu sehen. Allerdings beschränkt sich der störrische Alte nicht aufs Ansehen. Er versucht, die Cheops-Pyramide zu besteigen, wird dabei verhaftet und vor Gericht gestellt. Wallander muss dem Vater nachreisen, um ihn für teuer Geld auszulösen und vor einer Haftstrafe in Ägypten zu bewahren.

Wallanders erster Fall – Meine Wertung

Weiter oben habe ich ja bereits Kritik geübt und mich über Unstimmigkeiten bei Details und im chronologischen Aufbau der Romanserie beklagt. Leider hat Henning Mankell die Gelegenheit verstreichen lassen, in diesem nachträglich geschriebenen Prolog zu den bislang acht Romanen für Klärung zu sorgen. Statt dessen verstrickt er sich noch tiefer in Widersprüche. Das ist schade.

Außerdem fehlt mir bei mindestens dreien der Erzählungen die Originalität, die den schwedischen Autor sonst auszeichnet. Der Mann mit der Maske stellt das negative Extrem dar, diese Episode hätte sich Mankell schlichtweg sparen können. Sparen müssen. Die vier anderen Geschichten sind so lala. Einzig Der Tod des Fotografen hat mich qualitativ überzeugt.

Um zum Zitat aus dem Vorwort zur Geschichtensammlung am Anfang dieser Buchbesprechung zurückzukehren: Nein, den Sack hat er gewiss nicht zugemacht, der Henning Mankell!

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Notiz am Rande: Der Zsolnay Verlag hat auch diesen Nachschlag wieder mit einem Ausschnitt aus dem Ölbild eines Meisters aus dem 19. Jahrhundert bebildert. Der Schutzumschlag zeigt die linke Hälfte des Werkes Eine Seele zum Himmel (1878) von William Adolphe Bouguereau. Das ganze Bild kann man sich im Museum für Kunst und Archäologie im französischen Périgord ansehen.

Wer diese Rezension gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für Buchbesprechungen anderer Wallanderromane oder möchte sich meine Themenseite über Kurt Wallander ansehen.

Fazit:

Für eingefleischte Wallanderfans ist Wallanders erster Fall natürlich unbestritten ein absolutes Muss. Heute würde man den neunten Band als „Prequel“ bezeichnen. Was Episode I bis III für Star Wars bedeutet, das ist Wallanders erster Fall für die bekannte Schwedenkrimi-Reihe. Aber so wie eben auch die Star-Wars-Prequels unter echten Fans höchst umstritten sind, gilt auch der Wallander-Prolog nicht bei allen als Meisterwerk. Mankell hat es leider versäumt, Unstimmigkeiten aus den acht Vorgängerbänden auszuräumen. Auswahl und Aufbereitung der einzelnen Episoden sind mehrheitlich leider auch eher traurig. Diese Folge der Wallanderserie kann man sich ersparen. (Das hat Henning Mankell nachträglich wohl auch erkannt und deshalb noch weitere Romane nachgeschoben.)

Wallanders erster Fall ist mir gewiss nicht mehr als zwei von fünf möglichen Sternen wert.

Henning Mankell: Wallanders erster Fall,
Paul Zsolnay Verlag, 2002

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