Der achte Band der Romanserie um den schwedischen Kult-Kommissar trägt in der deutschen Übersetzung den Titel Die Brandmauer. Ursprünglich hatte Henning Mankell diese Folge als Abschluss seiner Wallanderromane geplant. Allerdings reichte er anschließend doch noch drei weitere Bände nach. Der deutsche Buchtitel Die Brandmauer wirkt übrigens etwas verunglückt, wenn man weiß, dass das schwedische Original Brandvägg lautet. Dieser Begriff wird üblicherweise nicht im Sinne einer gemauerten Brandschutzwand sondern vielmehr mit „Firewall“ übersetzt. Aber vielleicht war es ja Absicht des Übersetzers, die Leserschaft nicht schon vor dem Aufblättern der ersten Seite mit der Nase auf das Romanthema zu stoßen? Oder war damals in den Neunzigern schlicht und einfach das Wort „Firewall“ noch nicht im Sprachgebrauch präsent?
Tatsächlich steckt hinter der Geschichte ein von langer Hand geplanter Computerangriff auf die Finanzsysteme der Menschheit, der einen weltweiten wirtschaftlichen Kollaps auslösen soll. – Dazu schreibt Mankell im Nachwort auf Seite 575:
„Ich vermute ja, daß das, was in diesem Buch steht, bald geschehen wird.“
Bis allerdings diese düstere Vision in den Blickwinkel der Ermittler in Ystad rückt, müssen sich die Leute um Kurt Wallander zunächst mit geradezu grotesken Geschehnissen um zwei an sich banale Todesfälle auseinandersetzen.
Über die Handlung
I – Der Anschlag
Nachts bricht ein Mann vor einem Geldautomaten tot zusammen. Die Diagnose der Ärzte lautet: Herzinfarkt. Doch Ex-Frau und Hausarzt des Toten beschwören Wallander, diesem Befund keinen Glauben zu schenken; der Mann sei kerngesund gewesen. Zunächst wird das Ermittlerteam in Ystad jedoch von einem anderen Todesfall in Anspruch genommen. Zwei Mädchen, Teenager, haben einen Taxifahrer erschlagen. Als Motiv geben sie Geldnot an.
Doch dann flieht eines der Mädchen aus der Polizeihaft und wird mitten in der Nacht in einem Umspannwerk der Elektrizitätswerke aufgefunden. Ihr Körper wurde in einer Trafostation bis zur Unkenntlichkeit verschmort. Wenig später wird die Leiche des toten Geldabhebers aus der Gerichtsmedizin in Malmö gestohlen. Anstelle der sterblichen Überreste findet die Polizei ein schweres Starkstromrelais im Leichenschauhaus. Noch bevor sich Wallander und die seinen von ihrer Verwunderung erholen können, taucht der verschwundene Leichnam unversehens erneut auf. Jemand legt ihn zum zweiten Mal vor dem gleichen Geldautomaten ab, nachdem er ihm zwei Finger abgeschnitten hat.
Nachforschungen ergeben, dass der Tote EDV-Berater war. Ein stark abgesicherter Rechner wird gefunden, und Wallander zieht einen jungen Computer-Nerd hinzu, dem es schließlich gelingt, in das System einzudringen.
II – Die Brandmauer
Etwa in der Buchmitte blendet der Autor über nach Luanda, in die Hauptstadt Angolas. Na klar, wohin anders als nach Afrika, denkt sich die/der versierte Mankell-Kenner¦in? Von dort aus agiert ein Bösewicht, der sich Carter nennt und der Leserschaft von seiner Verbindung zu einem Schweden erzählt. Mit dem Toten vom Geldautomaten plante dieser Carter unter dem Projektnamen „Jakobs Moor“ einen Cyberangriff auf das Finanzsystem.
Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Carter und sein Mann fürs Grobe in Schweden versuchen zu verhindern, dass die Polizei das Projekt aufdeckt und den Vernichtungsschlag unterbindet. Doch Wallander und sein Team robben sich Zentimeter um Zentimeter an „Jakobs Moor“ heran und schicken sich an, über die Firewall zu klettern.
Und sonst so?
Diesmal hat sich Mankell richtig viel Mühe gegeben, seine Gesellschaftskritik so zu verpacken, dass sie nicht so stereotyp vorgetragen wird wie in anderen seiner Romane. Das Bild der beiden jungen Mädchen, die ohne jedes Schuldbewusstsein einen Menschen ermorden, wirkt so authentisch, dass man als Leser¦in geradezu Hass auf die beiden jungen Egomaninnen entwickelt. Fast möchte man Wallander applaudieren, als ihm bei einem der unsäglichen Auftritte eines der Mädchen die Hand ausrutscht und er ihm eine Ohrfeige verpasst. Natürlich war das keine gute Idee, denn sie führt konsequent zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Kommissar.
Eben wegen dieser internen Ermittlung kommt nun ungewohnt frischer Wind in Wallanders Verhältnis zu seinen Kollegen. Er streitet sich offen und heftig mit der Polizeichefin über fehlende Rückendeckung und muss erkennen, dass sein langjähriger Kollege Martinsson die Gelegenheit nutzt, um gegen ihn als Ermittlungsleiter zu intrigieren. Da kommt es dann tatsächlich zu Handgreiflichkeiten unter den Kollegen.
Privatleben
Ebenfalls mit glücklicher Hand hat Mankell seine Hauptfigur nachmodelliert. Natürlich ist Wallander noch immer schusselig, vergisst ständig Notizbuch, Stift, Brieftasche oder Handy. Aber zumindest hat er seine Lebensweise verbessert, hat abgenommen und ernährt sich vernünftiger. Seine Diabetes hat er einigermaßen im Griff.
Und er macht sich auf Anraten seiner Tochter sogar daran, wieder eine Frau kennenzulernen. Kurt Wallander gibt eine Kontaktanzeige auf. Und er bekommt Antwort, trifft sich schließlich mit einer Frau aus Malmö. Dafür dass die sich anbahnende Romanze in einer Katastrophe endet, kann Wallander nichts.
Meine Bewertung
Man muss leider anmerken, dass Henning Mankell mit Fakten und Daten aus vorangegangenen Romanbänden ein bisschen schludrig umgeht. Beispielsweise hatte sich der langjährige Staatsanwalt Åkesson in Die fünfte Frau auf eine Auslandsstelle im Sudan beworben. Im Mittsommermord arbeitete er dann in Uganda. Und in der Brandmauer ist es nun doch wieder der Sudan.
Wallanders Geburtstag war in Band eins noch am 30. Januar 1947. In späteren Folgen wurde aus 1947 dann 1948. Und nun verlegt der Kommissar seinen 50. Geburtstag in den November 1997. (Siehe auch Quellenangaben in den Fußnoten meines Wallander-Kompendiums.)
Aber sehen wir einmal von dieser kleinen Schwäche ab, dann muss man klar sagen: Mankell hat sich mit dem geplanten Abschiedsband richtig ins Zeug gelegt. Die kriminalistische Ermittlung ist durchgehend spannend. Wir staunen, wie sich aus einer vollkommen verworrenen Ausgangslage mit mehreren Toten Schritt für Schritt die Konturen eines zusammenhängenden Bildes abzeichnen. Gleichzeitig lässt der Autor uns an den Abwehrmaßnahmen von Wallanders Gegenspielern teilhaben, so dass der Puls der Leserschaft den gesamten Roman über mit hoher Frequenz pocht.
Last but not least hat Mankell auch in die private Schiene der Erzählung unerwartete Wendungen eingebaut, etwa die bereits erwähnten Intrigen im Kollegenkreis oder die Rolle von Wallanders Bekanntschaft aus der Kontaktanzeige.
Beeindruckende Weitsicht
Wir dürfen nicht vergessen, dass Mankell die Geschichte in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts – also vor über zwanzig Jahren – erdacht und geschrieben hat. Damals wählten wir uns am PC noch mit einer Datenübertragungsrate von 28 Kilobit pro Sekunde über die Telefonleitung bei der Gegenstelle ein. Ich warf im Jahr 1995 über den Mosaic-Browser erstmals einen Blick auf ein merkwürdig farbloses, textlastiges Internet. Was Mankells Nerds im Roman nur zwei Jahre später so alles mit ihren Rechnern treiben, davon konnten wir noch nicht einmal träumen.
Was ich damit sagen möchte: Der Autor hat mit der Brandmauer eine damals ungewöhnlich weitsichtige Geschichte erdacht. Aus heutiger Sicht können wir nur anerkennend nicken. „Das, was in diesem Buch steht“, ist längst geschehen!
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Notiz am Rande: Auch den achten Wallander habe ich in der gebundenen Ausgabe des Zsolnay Verlages gelesen. Die Gestaltung des Umschlagbildes basiert diesmal auf einem Gemälde von Paul Delaroche, Die junge Märtyrerin (1855). Das Originalwerk ist im Louvre in Paris ausgestellt.
Wer diese Rezension gern gelesen hat, interessiert sich vielleicht auch für Buchbesprechungen anderer Wallanderromane oder möchte sich meine Themenseite über Kurt Wallander ansehen.
Fazit:
Mit Die Brandmauer hat Henning Mankell meiner Ansicht nach den besten Band seiner Wallanderreihe abgeliefert. Die Originalität der Geschichte und ihre Spannung sind schwer zu toppen. Und interessanterweise hat der Autor seine Erzählung so aufgebaut, dass man diesen achten Teil der Serie durchaus auch als ersten Wallanderroman lesen und sich erst im Nachhinein mit der Vorgeschichte beschäftigen könnte, die hier immer wieder anklingt. Freilich bestünde dann die Gefahr, dass frühere Folgen nicht mit der Klasse des achten Romans mithalten können und womöglich langweilig wirken.
Aber wie auch immer: Für Die Brandmauer gibt es eine unbedingte und uneingeschränkte Leseempfehlung. Was hier sehr selten vorkommt, für dieses Buch vergebe ich die volle Punktzahl von 5 Sternen.
Henning Mankell: Die Brandmauer,
Paul Zsolnay Verlag, 2001
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