Mörder ohne Gesicht lautet der Titel des ersten Romans einer Serie von insgesamt zwölf Bänden, die der Schwede Henning Mankell über seine bekannteste Figur, den schwedischen Kriminalbeamten Kurt Wallander, geschrieben hat. Die Geschichte entstand, als der Autor nach einem längeren Aufenthalt in Afrika in seine Heimat zurückkehrte und von den vorgefundenen gesellschaftlichen Änderungen wie vor den Kopf gestoßen war. Mit seinem ersten Wallander-Roman porträtiert und kritisiert Mankell diese aus den Fugen geratene Welt, die nichts mehr mit der Sorglosigkeit des schwedischen Wohlfahrtsstaates zu tun hat.
Der Text wurde innerhalb eines Jahres geschrieben und handelt – wie die nächsten sieben Nachfolgebände auch – in seiner Entstehungszeit; im Falle des ersten Romans also im Jahr 1990.
Über den Inhalt
In einer kalten Januarnacht wird ein altes Bauernehepaar in seinem Haus überfallen. Der Mann wird brutal ermordet. Als die Polizei eintrifft, ist die Frau noch am Leben, stirbt jedoch ebenfalls, nur wenige Stunden später im Krankenhaus. Ihre letzte Botschaft an die Ermittler lautet: „Ausländer!“
Spätestens an dieser Stelle ist dem Leser klar, was folgen muss. Presse und Öffentlichkeit bekommen mit, dass als Täter fremde Zuwanderer unter Verdacht stehen. Kurz darauf steht ein Asylantenheim in Flammen. Und etwas später wird ein somalischer Asylbewerber von Rechtsradikalen ermordet. Natürlich vermutet die Leserschaft bereits jetzt: Die Ausländerhatz geht vollkommen an den wahren Hintergründen des Doppelmordes vorbei. Und so kommt es dann schließlich auch. Die Auflösung des Kriminalfalles ist trivial.
Gesellschaftskritik
Henning Mankell nutzt die Aufklärungsarbeit der Polizei und insbesondere des Protagonisten Kurt Wallander, um sein Bild der Zustände in Schweden zu illustrieren. Die Polizei ist unterbesetzt und überarbeitet. Die Menschen sind selbstsüchtig und grausam. Behörden und deren Leiter sind einerseits schludrig, andererseits dünkelhaft und trunken von der eigenen Wichtigkeit. Alle öffentlichen Medien sind ausschließlich auf der Suche nach Schlagzeilen und bereit, ziemlich alles für eine reißerische Story zu tun: übertreiben, erfinden, lügen und bestechen.
Die Morde an dem Ehepaar und auch am Somalier zeichnen sich durch ganz besondere Brutalität aus. Es wird gefoltert und es werden Köpfe „weggeblasen“, das Leiden der Opfer ist unerhört. Damit setzt Mankell – wie auch in späteren Wallander-Romanen – einen Kontrapunkt zum vermeintlich beschaulichen Leben in Schweden. Was soll aus diesem Land bloß werden? Wer tut so etwas?
Erfolgsrezept?
Unterfüttert wird dieses apokalyptische Bild einer unaufhaltsam ins Debakel schlitternden Gesellschaft durch die Grundstimmung der Romanszenen. Denn das Januarwetter im Jahr 1990 ist natürlich ein einziger Graus mit seinen eisigen Stürmen und Matschschneetagen. Die mühseligen Ermittlungen sind nichts anderes als Sisyphusarbeiten, die sich leider immer wieder als Sackgassen erweisen und auch noch erschwert werden durch Fehlinformationen oder mangelnde Unterstützung durch Presse und Behörden. Unendlich langsam mäandert der Ermittlertross über ein halbes Jahr hinweg in Richtung der Lösung des Falles. – Da könnte man doch als Leser*in durchaus einmal müde werden und die Lust verlieren?
Hinzu kommt, dass dieser Wallander nicht nur als Kriminalist sondern auch als privater Mensch nicht unbedingt ein erbauliches Leben führt. Er ist frisch geschieden von seiner Ex. Er hat kaum Kontakt zur gemeinsamen erwachsenen Tochter und streitet sich ständig mit seinem einsam lebenden, zunehmend verwirrten Vater. Kurt Wallanders Lebensführung ist alles andere als vernünftig oder gesund. Er ernährt sich von Junk Food, trinkt viel zu viel Alkohol und tut im Rausch Dinge, die ihm selbst nachträglich die Haare zu Berge stehen lassen. Zu guter Letzt verliert sich Wallander in erotischen Fantasien statt ein funktionierendes Familien- oder Sozialleben aufzubauen und zu pflegen. Und sein an sich simples Alltagsleben zu organisieren, schafft der Mann nun ganz und gar nicht. – Müsste man nicht trübsinnig werden, wenn man über 330 Seiten hinweg einem derartigen Lebensversager folgen muss?
Eigenartigerweise ist es aber genau diese Kombination aus Frust, Versagen und Weitermachen, die zumindest mich auf Lesekurs gehalten hat. Und nicht nur das: Sie hat mich sogar zum Wallander-Fan werden lassen. Es ist allerdings schon ein bisschen so, wie Thomas Kürten von der KRIMIcouch.de in seiner Rezension titelt: „Erzählstil und Charaktere klasse, Handlung schwach und langatmig“.
Eine neue Art von Helden
Warum mich die Geschichte von Kurt Wallander so fasziniert, kann ich vielleicht am besten mit der Entwicklung des modernen Kriminalistenpersonals über die Zeit erklären. Über allwissende Ego-Ermittler von Schlage eines Hercule Poirot oder eines Sherlock Holmes sind wir längst hinaus. Auch der stur linear agierende Typ, den etwa Stephan Derrick verkörperte, hat seine Anziehungskraft verloren. Da kam uns doch allen ein Kracher wie Horst Schimanski sehr gelegen, der sich durch die Achtzigerjahre prügelte & soff und dessen Lieblingsformulierung „Scheiße!“ lautete.
Mit seinem Wallander der Neunziger geht Henning Mankell noch einen Schritt weiter. Seinem Protagonisten fehlt nicht nur die allgegenwärtige Überlegenheit seiner Vorgänger sondern gar jegliche praktische Lebenstauglichkeit. Er ist nämlich einer von uns, bei dem auch ständig alles schief läuft; der aber nicht in der Lage ist, konsequent zu reagieren, sondern stets den Weg des geringsten Widerstandes geht. Das Lauteste ist immer zuerst dran, alles andere muss warten. Er weiß wohl, dass sein Verhalten nicht richtig ist. Aber er hat nicht die Kraft, dagegen anzukämpfen. Und die Gesellschaft, in der er (über)lebt, macht es ihm nicht leichter.
So kennen auch wir das Leben. Ich bewundere diesen Wallander, weil er letztlich doch erfolgreich ist – und dies nur, weil er eine bewundernswerte Eigenschaft besitzt: Er ist zäh und er gibt niemals auf. Komme, was da wolle. Glücklicherweise kann er sich dabei auf sein Ermittlerteam verlassen, das allen Rückschlägen zum Trotze wie ein gut geöltes Uhrwerk weiter tickt und tätig bleibt.
Bewertung
Besonders interessant am Mörder ohne Gesicht ist aus heutiger Sicht die Tatsache, dass der Autor bereits vor zwanzig Jahren die Asylantenproblematik beschrieb, wie wir sie gerade heute wieder – oder immer noch – in unserer Gesellschaft erleben. Was sich 1990 in dem Roman ereignet, könnte genauso gut auch heute bei uns stattfinden. Oder besser gesagt: Findet auch heute bei uns so statt!
Darüber hinaus mag ich Mankells systematischen Aufbau einer Figur, die gleichzeitig Protagonist und Problemfall ist. Er nimmt sich wirklich viel Zeit, uns diesen Kurt Wallander nahe zu bringen und verstehen zu lassen. Diese Geduld wird sich in den Folgebänden auszahlen. Hätte der Autor auf die persönliche Romanebene verzichtet oder hätte sie knapper gehalten, sein Aufschrei gegen Gewalt und Asylpolitik wäre wohl ungehört in der medialen Dauerbeschallung unserer Zeit untergegangen. Erst die Mischung macht’s!
Ich frage mich durchaus, wieviel Wallander in Mankell selbst steckte. Immerhin sind Autor und seine Romanfigur gleich alt, lediglich durch vier Kalendertage voneinander getrennt. – Eine spannende Frage.
Kontra?
Im Gegenzug zu dieser Erkenntnis bin ich bereit, die tatsächlich oft langatmige kriminalistische Handlung in den Hintergrund meiner Bewertung treten zu lassen. Auch wenn man den Roman deshalb gewiss nicht als Thriller bezeichnen kann, wie es manch andere Buchbesprechung nahe legt. Denn auch die Tatsache, dass der bedauernswerte Wallander im Laufe der Ermittlungen mehr wegstecken muss als ein Schwergewichtsboxer nach zwölf Runden gegen Mike Tyson, ändert nichts an dieser Einschätzung.
Im Grunde könnte man ja einmal echte Kriminalbeamte befragen; aber ich habe den Verdacht, dass sich polizeiliche Ermittlungsarbeit im wahren Leben ziemlich genau so wie in diesem Buch dahinzieht. (Allenfalls abzüglich der körperlichen Misshandlungen des Protagonisten.)
Notiz am Rande: Eine prominente Nebenrolle spielen im Roman in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder Pferde. Wohl aus diesem Grund hat der Deutsche Taschenbuch Verlag bei der Umschlaggestaltung der ersten Ausgaben (siehe Abbildung des Covers ganz oben) einen Ausschnitt aus einem Deckenfresco des Venezianers Giovanni Battista Tiepolo verwendet. Apoll führt dem Genius Imperii die Kaiserliche Braut zu (1751) ist im Original im Kaisersaal der Residenz Würzburg zu bestaunen. – Eine wunderbare Idee, wie ich finde!
Wer diese Rezension gern gelesen hat, könnte sich eventuell auch für Buchbesprechungen anderer Wallanderromane interessieren oder meine Themenseite über Kurt Wallander ansehen wollen.
Fazit:
Ich empfehle Mörder ohne Gesicht unbedingt allen Leser¦innen, die zum einen eine wirklich gute, stets unterhaltsame Schreibe zu schätzen wissen und zum anderen gern viel Persönliches über die Hauptfigur einer Geschichte wissen wollen. Solchen, die sich mit einer Figur identifizieren können und wollen – sei es mit Freuden oder mit Schrecken. Wer hingegen rasante Krimis oder Thriller bevorzugt, der sollte besser die Finger von Henning Mankells erstem Wallander lassen.
Dieser Komposition aus Gesellschaftskritik, Persönlichkeitsbild und Lebenswirklichkeit möchte ich drei extra-dicke Sterne von fünf möglichen verleihen. Für den vierten Stern hat es ganz knapp nicht gereicht.
Henning Mankell: Mörder ohne Gesicht
Deutscher Taschenbuchverlag, 1993
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