Mit die Hunde von Riga knüpft Henning Mankell an den ersten Band der Wallander-Reihe an. Nur ein Jahr nach Teil eins liefert der Autor bereits die Fortsetzung ab. Nachdem in den Mördern ohne Gesicht die Täter nach Schweden „importiert“ worden waren, sind es diesmal die Opfer – die Leichen zweier Russen –, die aus dem Baltikum über die winterliche Ostsee in einem Rettungsboot bei Ystad an Land getrieben werden. Diesmal konzentriert sich Mankell nicht auf schwedische Gesellschaftsprobleme sondern auf die Konsequenzen des Zusammenbruchs der UdSSR und des Anschlusses der ehemaligen DDR an den deutschen Westen.
Aber auch diesmal beginnt die Geschichte mitten in den Unbillen des schwedischen Winters, im Februar 1991. Und wir ziehen die langen Wollunterhosen auch nicht aus, als sich die Romanhandlung über die Ostsee ins Baltikum verlagert.
Über den Inhalt
Der Leichenfund am Strand zieht Ermittlungen der Polizei in Ystad nach sich. Wallanders Team erkennt bald, dass die beiden Opfer aus Osteuropa oder Russland stammen müssen. Alsbald decken sie die Identität der Männer auf. Es handelt sich um Mitglieder der Russenmafia aus Lettland. Daraufhin stößt Major Karlis Liepa, Polizeibeamter aus der lettischen Hauptstadt, zu Wallanders Ermittlerteam und nimmt Fall und Leichen nach wenigen Tagen mit zurück in seine Heimat am anderen Ende der Ostsee. Doch dort wird er nur Stunden nach seiner Rückkehr ermordet. Die lettische Polizei bittet Wallander um seine Unterstützung vor Ort in Riga.
Weder der Leserschaft noch Wallander selbst erschließt sich der Grund, weshalb die schwedische Polizei tatsächlich um Amtshilfe gebeten wird. Vermutlich soll Wallander lediglich als westlicher Zeuge einer unbestechlichen Polizeiarbeit in Lettland dienen. Oder steckt doch mehr dahinter? Was wollen die beiden undurchsichtigen Polizeiobersten Putnis und Murniers in Riga wirklich von Kurt Wallander? Wer steckt mit der Russenmafia unter einer Decke? Und was verspricht sich Baiba, die Witwe des ermordeten Liepa, von Wallander?
Nachdem die offiziellen Ermittlungen um den Tod von Karlis Liepa überraschend rasch abgeschlossen werden können, kehrt der Protagonist zunächst zurück nach Schweden. Allerdings nur für kurze Zeit, um danach inkognito und über die grüne Grenze nach Lettland zurückzukehren. Er will Baiba Liepa, der lettischen Witwe, ganz persönlich und auf eigene Gefahr beistehen. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Und ein ganzes Rudel der „Hunde von Riga“ nimmt Wallanders Spur auf.
Worum geht es tatsächlich?
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Lettland von der Roten Armee erobert und der Sowjetunion angegliedert. Unter der Sowjetherrschaft wurden Zehntausende Letten nach Sibirien deportiert, das Land war einer Russifizierungspolitik ausgesetzt. Im Mai 1990 schließlich beschloss der Oberste Rat der lettischen Regierung die „Wiederherstellung der Unabhängigkeit“. Dieser Parlamentsbeschluss wurde jedoch erst mit dem Zerfall der Sowjetunion im August 1991 wirksam. Jahre später, 2004, wurde die Republik Lettland dann Mitglied der Europäischen Union und trat der NATO bei.
„Sie müssen verstehen, Kommissar Wallander, daß Sie sich in einem Land befinden, in dem noch nichts entschieden ist.“ (Seite 134)
Als Mankell seinen Roman schrieb, also Anfang 1991, konnte noch niemand wissen, was aus der lettischen Unabhängigkeitserklärung werden würde. Damals lagen pro-russische und freiheitliche Interessensgruppen in gewaltsamem Streit. Auch das organisierte Verbrechen versuchte, seinen Einfluss zu mehren. Mitten hinein in dieses unübersichtliche Szenario platzt der schwedische Stier Wallander – nicht zuletzt deshalb, weil er romatische Gefühle gegenüber Baiba Liepa hegt. Hormone also wieder mal.
Bewertung
Diesmal allerdings ist es im Gegensatz zu seinem ersten Band tatsächlich ein Thriller, den Mankell abliefert. So steht es ja auch vorne auf dem Umschlag. Bei Wallanders zweitem Auftritt in Lettland fliegen schon mal ganz james-bondig die Fetzen. Und die Zeit wird knapp. Der Held und seine romantische Gefährtin müssen schnell ans Ziel kommen. Wird es ihnen gelingen, den pro-russischen Schurken zu entlarven, bevor sie auffliegen und ganz unrühmlich abgeschlachtet werden?
Jedenfalls hat der Autor Mankell auf Vorwürfe der Langeweile bei der Ermittungsarbeit in seinem ersten Roman reagiert. Zumindest in der zweiten Hälfte der Geschichte geht es diesmal Schlag auf Schlag. – Ob das nun jedem Wallanderfan gefallen mag, sei dahin gestellt.
Was mir immerhin gut gefallen hat, ist die Schilderung der unterschiedlichen Polizeistrukturen. In Schweden ermitteln unbewaffnete Jeans-Träger; in Lettland hingegen agiert eine Exekutive nach militärischem Muster und mit militärischer Rangordnung. In Schweden muss sich die Polizei stets gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigen; im Baltikum setzt sich der Apparat mit Angst und Schrecken durch, ohne auf demokratische Rahmenbedingungen achten zu brauchen.
Wallander und die Lebenstauglichkeit
Natürlich liegt der Protagonist auch im zweiten Band wieder im Clinch mit seinem Vater und vor allem mit sich selbst. Eine heftige nächtliche Brustschmerzattacke samt Krankenhausaufenthalt ruft ihm in Erinnerung, vielleicht doch endlich Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Allerdings bleibt es diesmal bei dieser einen kurzen Schockepisode. Die Romanereignisse geben weder dem Autor noch seiner Figur mehr Spielraum für eine anstehende gründliche und grundsätzliche Selbstreflexion.
Liebesleben
Sein Undercovereinsatz in Riga lässt Wallander keine Zeit für Beschäftigung mit sich selbst oder seinem Leben. Aber nachdem das ganze Kuddelmuddel vorbei ist – also in dem Moment, in dem ein James Bond üblicherweise in der Umarmung mit einer üppigen Blondine versinkt – findet der schwedische Kommissar Zeit für ein paar zweisame Tage mit Baiba Liepa. Bevor er wieder nach Ystad zurückkehrt. Wallander schafft es jedoch in der Kürze der Zeit nicht, der Frau seine Gefühle zu offenbaren. Aber als aufmerksame Leser ahnen wir natürlich, dass da noch etwas im Busch ist.
„In der Tür umarmte Baiba ihn, sie klammerten sich aneinander, als hätten sie gerade einen Schiffbruch überlebt, und dann ging er.“ (Seite 343)
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Notiz am Rande: Nachdem für die Umschlaggestaltung des ersten Bandes ein Deckenfresco von Tiepolo herhalten durfte, haben sich die Grafiker des Deutschen Taschenbuchverlages diesmal in der Alten Pinakothek in München umgeschaut. Für das neue Titelbild haben sie zwei Jagdhunde aus dem Gemälde Eberjagd (1618) des flämischen Malers Anthonis van Dyck herausgeschnippelt und neu zusammengefügt. – Auch diesmal wieder: eine tolle Idee!
Wer diese Rezension gern gelesen hat, mag sich womöglich auch für Buchbesprechungen anderer Wallanderromane interessieren oder meine Themenseite über Kurt Wallander ansehen wollen.
Fazit:
Natürlich ist die Geschichte schon sehr lange her; fast drei Jahrzehnte mittlerweile. Aber wer sich dafür interessiert, wie das damals gewesen sein könnte, als der Ostblock implodierte, als die Menschen um ihre Leben und um ihre Freiheit rangen, dem werden die Hunde von Riga gut gefallen. So wie mir.
Dazu kommt die minutiöse Erzählweise Mankells, dem in diesem Band eine hervorragende Balance aus Historie, Kriminalroman und Persönlichem gelingt. Alles in allem möchte ich für den zweiten, überaus spannenden Wallanderroman vier von fünf möglichen Sternen vergeben. – Ein wirklich packend verpacktes Zeitdokument!
Henning Mankell: Hunde von Riga
Deutscher Taschenbuchverlag, 1993
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