Dystopische Geschichten sind gerade wieder en vogue. Unter dem Titel Dein Land in Schutt und Asche hat Autor Georg Adamah im Frühjahr eine solche Erzählung herausgebracht: Deutschland in drei Jahren. Was wir uns alle nicht vorstellen wollen, ist jenseits der glatten Oberfläche der medialen Berichterstattung und der behäbigen Gleichgültigkeit des Politikbetriebs langsam aufgeblüht. Im Verborgenen wurde die Glut der Unzufriedenheit angefacht und bricht plötzlich als Flächenbrand hervor. Bürgerkrieg! Mitten in Deutschland! Wer die Entwicklung nicht wahrhaben wollte, wird mit einem Donnerschlag aufgeweckt und sieht sich mit einem Mal seiner Existenz beraubt. Tod oder Flucht, eine dritte Alternative ist nicht erkennbar. Adamahs Protagonist Ismael van Weyden ist einer derer, die völlig unvorbereitet ihr bisheriges Leben zurücklassen müssen, nur um überhaupt überleben zu können.
Nennt mich Ismael
Adamah beginnt seine Geschichte mit einem der berühmtesten Romanzitate der Weltliteratur, nämlich mit dem ersten Satz Herman Melvilles in seinem Klassiker Moby-Dick: Die Erzählung des Matrosen Ismael, der sich im 19. Jahrhundert dem starrköpfigen, verbitterten Kapitän Ahab anschloss auf dessen Strafexpedition gegen den Weißen Wal. Auf eine Expedition, die mit dem Tod fast aller Beteiligten endete. Lediglich Ismael konnte sich retten.
Beinahe zwei Jahrhunderte später tritt der moderne Ismael ein Reiseabenteuer an, das zwar überhaupt nichts mit Walfang zu tun hat. Wohl aber erneut mit der Unfähigkeit des Menschen, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Und mit der Unbeirrbarkeit unserer Spezies, stets im Kleinen unseres persönlichen Eigeninteresses zu handeln und dafür das Gelingen eines größeren Plans aufs Spiel zu setzen.
Über die Hintergründe
Bürgerkrieg? Ausgerechnet in Deutschland? In Europas heiligstem Hort der politischen Stabilität? – Was für ein ausgemachter Unsinn, hätten wir alle noch vor drei Jahren im Sommer 2019 geschnauft. Doch nun haben wir zweieinhalb Jahre heftiger gesellschaftlicher Verunsicherung hinter uns: Erst unkontrolliertes Corona-Chaos und direkt im Anschluss die Ukrainekrise mit dramatischen Prognosen zu Energieversorgung und zu finalem Weltklimaabsturz. Wer mag da jetzt noch seine Hand dafür ins Feuer legen, dass nicht in ein paar weiteren Jahren Dinge geschehen könnten, die wir alle bis vor Kurzem noch als kranke Hirngeburten eines fiebernden Mad-Max-Adepten abgetan hätten?
Natürlich wiegeln wir rationalen Prognostiker längst ab. (Zugegeben: Ich selbst gehöre auch zu dieser Gruppe.) Es wird bestimmt nicht zu einem derartigen Armageddon kommen. Aber: Auch jener Ismael van Weyden gehört zu uns Skeptikern. Und im Roman irrt er sich eben doch ganz gewaltig. Was also, wenn es wirklich zum Super-GAU käme? Nur einmal angenommen …
Die Position des Autors
Als ich schließlich im Februar 2020 mit den Arbeiten begann, hätte ich niemals erwartet, dass der Ausgangspunkt meiner Geschichte erschreckende Parallelen mit der tatsächlichen europäischen und weltpolitischen Situation des Jahres 2022 aufweisen würde: unsere Gesellschaft nach zwei Jahren Pandemie gespalten, die weltpolitische Situation aus den Fugen, Europa an der Schwelle eines Krieges.“
(Seite 405, Nachwort)
Man muss Adamah ein Kompliment machen: Er hat der Versuchung widerstanden, seiner Geschichte einen ideologischen Unterbau mitzugeben. Es geht nicht einmal ansatzweise darum, Position zu beziehen zwischen politischen Entscheidungen einer bestehenden Kaste und einer außerparlamentarischen Opposition, die den Krieg auslöst. Es ist eben so gekommen. Reichsbürger haben aufgerüstet. Panzer rollen. Dann fallen Schüsse, Granaten explodieren. Aus dem Osten rücken russische Truppen ein, chinesische Einheiten unterstützen die Reichsbürger. US-Amerikaner kommen aus dem Westen zu Hilfe. Und Bürger wie Ismael, wie Du und wie ich stehen mit einem Mal zwischen den Fronten.
Solche Kriegsnachrichten sind sehr knapp gehaltene Ausnahmen. Der Autor bleibt voll und ganz bei seinen Romanfiguren. Was im Großen und Ganzen aus diesem Bürgerkrieg wird, erfahren wir nicht. Es ist schlichtweg nicht Thema der Geschichte. Worum es Adamah geht, ist die Frage, wie Menschen mit einer plötzlichen existenziellen Bedrohung umgehen.
Über den Autor
Es ist anzunehmen, dass der Name Georg Adamah nicht allzu vielen Menschen geläufig ist, auch wenn sie sich intensiv mit Belletristik beschäftigen. Er wurde 1964 im Fränkischen geboren, studierte mehrere Fächer im wissenschaftlichen Bereich, war beruflich bei internationalen Organisationen tätig und ist inzwischen Geschäftsführer seiner eigenen Politikberatung. „Georg Adamah“ ist ein Pseudonym.
Der erste von ihm verfasste Roman, das Beziehungsdrama Die Sonne über dem südlichen Wendekreis, wurde zunächst unter dem Titel Liliths Töchter, Adams Söhne veröffentlicht. 2019 wurde ihm im Rahmen der Radio Planet Berlin Awards der Titel Künstler des Jahres verliehen. Seit 2015 engagierte sich Adamah ehrenamtlich im Rahmen der Integration afrikanischer Immigranten.
Über die Romanhandlung
Ismael van Weyden lebt im unterfränkischen Würzburg und ist ein Durchschnittsmensch par excellence: glücklich verheiratet, er liebt seine Tochter abgöttisch, hat aber gerade eben auch noch eine Affaire mit seiner Jugendliebe aufgenommen. Zwischen diesen drei Frauen ist Ismael entscheidungsunfähig. Das hat auch Auswirkungen auf seinen Job. Wenn sein Leben so weitergeht, wird er unausweichlich in eine persönliche Katastrophe steuern. Aber dazu kommt es nicht mehr. Denn plötzlich ist seine Frau samt Tochter verschwunden. In einem Abschiedsbrief erklärt sie, sie habe die Sorge um einen Krieg in Deutschland nicht mehr ausgehalten und habe sich deshalb im Flugzeug nach Algerien abgesetzt.
Bevor Ismael überhaupt irgendwie reagieren kann, rollt auch schon die erste Bürgerkriegswelle über Würzburg hinweg. Der Mob randaliert auf den Straßen, Explosionen erschüttern die Nacht. Ohne jegliche Vorbereitung flieht Ismael zusammen mit einem wirrköpfig scheinenden Obdachlosen namens Elia ins Ungewisse.
Die Truppe
In einem abgelegenen Industriegebiet suchen die beiden Schutz und fallen in die Hände einer kleinen paramilitärischen Gruppe: sechs Männer und eine Frau unter dem Kommando des „Hauptmanns“. Die wollen sich in Richtung Süden nach Italien durchschlagen, um sich von dort aus an der nordafrikanischen Küste zunächst in Sicherheit zu bringen. Aus Mangel an Alternativen schließen sich Elia und Ismael der Schicksalsgemeinschaft an und brechen auf. Schließlich sieht Ismael darin die vage Chance, irgendwie nach Algerien zu gelangen, um dort Frau und Kind wiederzufinden.
Der Marsch nach Süden ist allerdings kein Urlaubsspaziergang. Immer wieder gerät die Gruppe unter Beschuss, muss Militärverbänden ausweichen und den furchtbarsten Gräueltaten eines Krieges ins Auge blicken, die der Autor gnadenlos und in epischer Breite vor ihnen ausrollt. Das hat natürlich Auswirkungen. Es gibt Todesopfer auch innerhalb der Gruppe und schließlich Meuterei.
Apropos Meuterei
Die Welt war zu einem schwankenden Schiff geworden, vielleicht einem Walfänger. Bei diesem Gedanken musste Ismael kurz grinsen.
(Seite 52)
Ja, und die Leserschaft muss auch kurz grinsen. Denn seit dem Einstieg mit dem berühmten Romanzitat aus Moby-Dick werden die Parallelen zwischen den beiden Romangeschichten immer dichter. Spätestens mit der Vorstellung der Truppe des Hauptmanns ist für jedermann klar, dass es sich dabei um die Mannschaft des Walfangschiffes Pequod aus dem Melville-Roman handelt:
Da ist Queequeg, tätowierter Kannibale und einer der Schiffsharpunier, der bei Adamah jetzt Kwieckweck heißt. Tashtego, ebenfalls Harpunier, jedoch indianischer Abstammung, hat von Adamah noch ein c im Namen spendiert bekommen, heißt jetzt also Taschtego und hat eher Züge von Stubbs, dem Zweiten Maat auf der Pequod. Die einzige Frau der Truppe wird Fettschneider genannt; und wenn man Moby-Dick gelesen hat, weiß man, dass der Erste Harpunier auf Walfängern der Speck- oder Fettschneider ist. Dann ist da noch der unheimliche Schwarzer, der seinem Hauptmann bedingungslos folgt und in dem wir womöglich die vertraute Figur des Fedallah bei Melville wiederfinden.
Fletscher ist Vertrauter und Vertreter des Hauptmanns, verkörpert demnach Starbuck, den Ersten Maat auf Ahabs Schiff.
Der Hauptmann und Elia
Der Hauptmann selbst ist natürlich Ahab, der spirituelle Führer seiner Gefolgsleute, die mit ihm aufgebrochen sind, um ihrer Bestimmung zu folgen. Nämlich Vergeltung zu üben an denen, die Schuld am Zusammenbruch Deutschlands tragen. (Siehe Seite 99.)
Auch den prophetischen Elia gibt es bei Moby-Dick. Allerdings hat er dort nur einen kurzen Auftritt zu Beginn der Erzählung. Bei Adamah ist Elia ein alter Bekannter, womöglich ehemaliger Freund des Hauptmanns. Die beiden eint eine drei Jahrzehnte zurückliegende Vergangenheit, in der sie beide der gleichen Frau verfallen waren, nämlich der Tochter ihres früheren Gurus und Kampfsporttrainers, dessen Name Fedallah lautete. Ja, Fedallah ist bei Adamah kein indischer Harpunier, aber immerhin noch so etwas wie ein spiritueller Lotse des Hauptmanns.
Der einfache Matrose Ismael ist bei Melville Erzähler und ansonsten unbeteiligt am Fortgang der Walfanghandlung. Das gleiche Schicksal teilt zunächst der moderne Ismael, der zumindest bis gegen Ende der Geschichte mit den anderen durch Schutt und Asche watet, aber zu den Flucht- und Kampfeshandlungen keinen Beitrag leisten kann.
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Wie weit die Truppe um den Hauptmann kommt, will ich hier nicht verraten. Nur soviel sei angedeutet: Fletscher belässt es nicht wie einst Starbuck beim einmaligen Aufbegehren gegen den Anführer. Wo Starbuck die auf Ahab gerichtete Flinte wieder sinken lässt, geht Fletscher einen weiteren Schritt. Und Ismael verlässt irgendwann ebenfalls die Passivität seiner Figur, begehrt auf und wächst an den Folgen der Meuterei.
Erfolgsrezepte
Was wäre, wenn wir von heute auf morgen gezwungen wären, unser Land zu verlassen? Wie würde sich das anfühlen? Wie wäre es, wenn der Spieß umgedreht würde und nicht Afrikaner nach Deutschland fliehen würden, sondern Deutsche in Scharen nach Afrika?
(Seite 406, Nachwort)
Also hat Adamah ihn einfach umgedreht, den Spieß. Schön fühlt sich das nicht an. Aber die Botschaft ruft wach. Und sie ist so packend erzählt, dass der Leserschaft an der einen oder anderen Stelle ein Schauer des Grauens über den Rücken läuft. Dieser Weckruf ist allemal gelungen.
Die Schatten der Vergangenheit
Doch der Autor belässt es nicht bei einer kontinuierlich geschilderten Flüchtligsstory. Immer wieder flicht er lange Jahre zurückliegende Begebenheiten in seine Geschichte ein. Fast immer aus der Sicht Ismaels oder des Hauptmanns. Damit gelingen ihm zwei Dinge: zum einen gibt er seinen Romanfiguren größere Tiefe, erweckt sie zu echtem Leben und lässt durchblicken, wieso sie so handeln, wie sie es eben tun. Und zum anderen schürt er gekonnt die Spannung, Cliffhanger nennt man das wohl.
Solche Blenden in die Vergangenheit füllen oft ihre eigenen Kapitel, etwa unter den Überschriften Siebenundzwanzig Jahre vorher: … Aber sie werden manchmal auch übergangslos mitten in den Text eingestreut, so dass wir zunächst stutzen – was ist das denn jetzt? –, bevor wir begreifen, dass da gerade eine Rückblende stattfindet. Ja, das macht Adamah wirklich geschickt.
Sprache und Bilder
Sicher ist Euch nicht entgangen, dass ich den Übertrag von Personal und Handlungsstruktur aus Moby-Dick richtig gut finde. Ich bin schließlich lang und breit genug darauf herumgeritten. Dieser Aufbau von Parallelen verleiht der Geschichte einfach eine weitere Dimension, über die die Leserschaft nachsinnen und in der sie sich verlieren kann.
Darüber hinaus muss man dem Autor attestieren, dass er gekonnt mit Sprache umgeht; spielerisch und mit großem Spaß an der Sache, die sich auf seine Leser¦innen überträgt. So gliedert er seine Geschichte in fünf Teile, die er Kapitel nennt. Die Überschriften zu diesen Kapiteln sind lautmalerisch angelegt: 1. Glut, 2. Brut, 3. Blut, 4. Wut und 5. Flut. Mit solchen Tricksereien fängt mich Georg Adamah endgültig ein.
Dafür sehe ich ihm doch gerne auch ein paar Ausrutscher nach. Etwa den expliziten Hinweis auf Zigarettendunst, der den Geruch von Nikotin verströmt (Seite 47, welchen Geruch soll er denn sonst verströmen?). Oder die gut vier Seiten, auf denen ein chinesischer Offizier in direkter Rede spricht, die mit eher peinlich anmutender Wiedergabe eines chinesischen Akzents notiert ist (Seite 254 ff.).
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Wer diese Buchbesprechung interessant findet, wird vielleicht auch meine Rezension von Moby-Dick ansehen und lesen wollen.
Fazit:
Dein Land in Schutt und Asche hat mir ausgesprochen gut gefallen. Das Thema ist brandaktuell, die Geschichte ist sehr gut aufbereitet und mit allerlei schmückendem Beiwerk äußerst interessant gestaltet. Sogar das Ende – an dessen Schlüssigkeit viele Romane kranken – hat mich angesprochen. Ich will diesen Roman unbedingt allen empfehlen, die einmal einen alternativen Blick auf unsere Gesellschaft oder meinetwegen auf unsere Weltordnung werfen wollen.
Wegen einiger weniger Makel hat es Dein Land in Schutt und Asche nicht ganz bis auf den Gipfel des Olymp geschafft. Aber ich vergebe besten Gewissens satte vier von fünf möglichen Sternen für diese nachdenklich machende und dennoch hoch spannende Erzählung.
Georg Adamah: Dein Land in Schutt und Asche
Redrum Verlag, 2022
Ich bedanke mich herzlich beim Autor für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar