Sehr wenige Romantitel wird es in der Literaturgeschichte geben, die so gut wie jeder Mensch zumindest der westlichen Hemisphäre kennen dürfte – auch wenn es nur der Titel ist. Einer von ihnen ist sicher Herman Melvilles Moby Dick aus dem Jahr 1851. (Mit oder ohne Bindestrich. Der Originaltitel wurde aus unbekannten Gründen mit dem Strich geschrieben.) Es geht darin um den persönlichen Rachefeldzug von Kapitän Ahab, den die Jagd auf einen riesigen Pottwal einst ein Bein gekostet hatte. Vorgetragen wird diese Erzählung von einem jungen Matrosen namens Ismael, der Teil der Schiffsmannschaft war, die unter Ahabs Kommando Jagd auf den Riesenwal Moby Dick machte.
Nennt mich Ismael.
Mit diesem berühmten ersten Satz leitete Melville seine Geschichte über die Jagd auf Moby Dick ein. Die meisten Literaturzeitschriften ignorierten übrigens damals, vor 170 Jahren, den Roman. Bei allen anderen waren sich die Kritiker einig: Es handele sich um eine „wilde Mischung aus Philosophie, Blasphemie, Fantasie, Überschwang und Abenteuer“. Längst ist der Romantext nicht mehr urheberrechtlich geschützt, es gibt zahlreiche Ausgaben auch in deutscher Sprache. (Das Titelbild hier oben stammt von der Ausgabe des Anaconda Verlags aus dem Jahr 2012, das in meinem Regal steht. Allerdings habe ich den Roman sicher schon Jahrzehnte früher gelesen, als Leihgabe einer öffentlichen Bücherei.)
Einem Seelenverwandten, Nathaniel Hawthorne, schrieb Melville 1851, er „habe ein gottloses Buch geschrieben, und fühle mich doch unbefleckt wie ein Lamm“.
Worum es geht
Dieser Roman ist eine exzellente Zeitmaschine. Ein Zeitdokument, das uns mit unwiderstehlichem Sog zwei Jahrhunderte zurückversetzt in eine archaische Epoche, in der Begriffe wie Artensterben und Erhalt unseres Lebensraumes nur wenig Platz hatten im Denken und Handeln der Menschheit. In diesem Zusammenhang sollte allerdings auch festgehalten werden, dass zu Zeiten der kommerziellen Waljagd mit Segelschiffen, also im 18. und 19. Jahrhundert, pro Jahr im Schnitt gerade einmal 1.500 Wale erlegt wurden. Zum Wechsel ins 20. Jahrhundert waren es gut 10.000, und erst seit Waljäger mit Motorschiffen unterwegs waren, stieg die Zahl der getöteten Wale auf über 30.000 pro Jahr.¹
Über den Hintergrund der Reise
Vordergründig lässt der Autor einen Matrosen und Erzähler namens Ismael über die letzte Fahrt des Segelschiffs Pequod berichten. Unter dem Kommando von Kapitän Ahab verlässt das Schiff zur Weihnachtszeit den Hafen von Nantucket, um auf Walfang zu gehen. Tatsächlich hat der Kapitän aber einen anderen Plan: Er will an einem ganz speziellen Wal Rache nehmen, einem alten, hellhäutigen Pottwal. Nur wenige Wale hatten damals eigene Namen. Doch dieser war als Moby Dick bekannt. Und eben dieser Moby Dick hatte Ahab bei deren letztem Zusammentreffen den Unterschenkel eines Beines abgetrennt.
Der kommerzielle Zweck der Reise, nämlich innerhalb von drei oder vier Jahren möglichst viele Pottwale zu erlegen und abzuspecken, um das wertvolle Tranöl auszukochen, interessiert Ahab nicht. Denn er ist in allererster Linie darauf fixiert, Moby Dick wiederzufinden und zu töten. Dem Matrosen, der vom Aussichtsmasten den verhassten Wal aussingen würde, verspricht Ahab eine goldene Dublone, die er an den Hauptmast der Pequod nagelt.
Die Reiseroute
Das Walfangschiff segelt über den Atlantik südostwärts und umrundet das südafrikanische Kap der Guten Hoffnung. Es durchquert den Indischen Ozean, um zwischen den Malaien und Australien in den nördlichen Pazifik zu gelangen. Natürlich werden auf dieser Reise mehrere Pottwale gejagt und einige davon auch getötet und verarbeitet. Und ebenso natürlich begegnet die Pequod auf ihrer Reise verschiedenen anderen Waljägern. Einen jeden davon fragt Ahab stets als Erstes nach Sichtungen Moby Dicks.
„Da bläst er!“
Nachdem die Pequod aus dem Nordpazifik auf Südkurs gedreht hat, begegnen sie zwei Schiffen, die beide von schrecklichen Begegnungen mit dem Weißen Wal berichten und Tote zu beklagen haben. Schließlich ist es dann soweit. Ahab selbst ist es, der den glitzernden Buckel und die Blasfontäne Moby Dicks als Erster sichtet.
Drei Tage lang verfolgen sie den Wal, jeden Morgen nehmen sie seine Spur erneut auf. An jedem der drei Tage werden die Walfangboote zu Wasser gelassen und harpunieren Moby Dick. Doch ein jedes Mal erweist sich der Wal als schlauer und zermalmt die angreifenden Boote. Bis er schließlich am dritten Tag die Pequod selbst angreift, leck schlägt und versenkt, bevor er dessen Kapitän Ahab an einer verwickelten Harpunenleine mit sich in die Tiefe zieht.
Als einziger Überlebender wird zwei Tage später der Erzähler Ismael von einem anderen Walfänger aufgenommen, nachdem es ihm gelungen war sich auf einem zur Rettungsboje umfunktionierten Sarg vor den Haien in Sicherheit zu bringen.
Das ganze Sammelsurium
Wenn Ihr nun denkt, diese schreckliche Geschichte um den verblendeten Ahab, der letztlich in sein unvermeidliches Schicksal taucht, sei alles, was uns Melville auftischt, dann muss ich Euch eines Besseren belehren. Denn tatsächlich bildet die bloße Abenteuergeschichte nur einen recht kleinen Teil des gesamten Romantextes.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der Autor seinen Ismael nur „vordergründig“ über die Walfangreise berichten lässt. Zwar ist der Text über weite Strecken in der Ich-Form verfasst. Doch die Grenzen zwischen Ismael und Melville selbst sind fließend. Es lässt sich kaum nachvollziehen, wo Ismaels Bericht endet und wo der Autor selbst als Erzähler auftritt. Es gibt jedoch Passagen, in denen eindeutig Herman Melville als Sprecher gelten muss. Als Beispiel für diese Behauptung soll ein Detail aus Kapitel XLV dienen:
Nun, dieser Kapitän D’Wolf […] wohnt in Dorchester nahe Boston. Ich habe die Ehre, sein Neffe zu sein.
(Kapitel 45, Die beeidete Aussage)
In der Tat heiratete ein gewisser John D’Wolf einst die Schwester von Herman Melvilles Vater, nicht etwa Ismaels Tante.
Alles über Wale und über den Rest der Welt
Irgendwo dort, wo Ismael aufhört und der Autor selbst beginnt, erfahren wir so ziemlich alles, was die Welt im 19. Jahrhundert bewegte. Das beginnt mit Unmengen von Details, die Wale und den Walfang betreffen. Wie werden Wale in der Kunst dargestellt? Welche Gegenstände werden aus dem Walkörper hergestellt? Mit Hilfe welcher Gerätschaften wird der Wal gefangen, getötet und zerlegt? Wie sind Wale anatomisch aufgebaut? Was hat es mit dem „Blas“ des Wals auf sich? Wie sind die rechtlichen Bestimmungen beim Kampf Schiff gegen Schiff um die Wale?
Nun verlasst Euch bitte nicht blind auf all das, was Melville da zusammenschreibt. Denn bedenkt: Sein Wissensstand ist zwei Jahrhunderte alt. Beispielsweise seine Ausführungen zur Fontäne der Wale (dem „Blas“), die angebliche Stimmlosigkeit von Walen, oder die Herkunft des berüchtigten Ambra halten keiner aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnis mehr stand.
Aber mit den Betrachtungen zum Thema Wal lässt es Melville nicht bewenden. Er verstrickt die Leserschaft in ein gesamtheitliches, bildungsumspannendes Netz. Wir bekommen antike Mythen und Helden präsentiert. Ebenso wie diverse Religionsextrakte, Bibelzitate (vom Alten Testament bis Luther), tatsächliche historische Begebenheiten, architektonische Besonderheiten, Astronomie, wissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Betrachtungen. Derlei Randnotizen nehmen einen erheblichen Prozentsatz des gesamten Textes ein. – Um dabei nicht vollkommen den Überblick zu verlieren, empfehle ich, unbedingt eine sachkundig kommentierte Ausgabe des Romans zu Rate zu ziehen.²
~
Rezeption
Zu Lebzeiten Herman Melvilles verkauften sich gerade einmal dreitausend Exemplare seines Moby-Dick. Insbesondere US-Kritiker hatten den Roman zerrissen, nicht zuletzt wegen seiner ketzerischen Passagen, in denen etwa das heidnische Brauchtum des Kannibalen Queequeg christlichen Ritualen gleichgesetzt wurde. Die negativen Rezensionen ließen den Roman in Vergessenheit geraten. Erst vierzig Jahre danach wurde Moby-Dick wiederentdeckt. Melville erlebte den späten Erfolg seines Textes nicht mehr. Seit fast hundert Jahren zählt die Romangeschichte zu den Klassikern der amerikanischen und der Weltliteratur.
Auf die Idee für seine Erzählung kam der Autor durch einen Artikel in der Zeitschrift The Knickerbocker. Denn im Jahr 1839 erschien dort die Geschichte Mocha Dick: or The White Whale of the Pacific. Nach eigenen Erfahrungen als Teil der Mannschaften auf mehreren Walfängern und nach der schrecklichen Geschichte des Walfangschiffs Essex, von dessen Besatzung nur acht Menschen überlebten, nachdem ein Pottwal das Schiff zum Sinken gebracht hatte, erdachte Herman Melville schließlich sein Meisterwerk.
Der Charme der Geschichte
Nun könnte man meinen, ein Text mit derartig vielen ausflatternden Gedankenfahnen, wie ich sie oben beschrieben habe und die oft in keinerlei Zusammenhang mit der Romangeschichte oder auch nur mit dem Walfang stehen, liefe Gefahr, unlesbar zu sein. Es ist wohl wahr, dass ich mich manchmal schwer getan habe, bei der Stange zu bleiben, wenn Melville wieder einmal einen seiner säbelschwingenden Ausritte in irgendein thematisches Abseits-Terrain unternimmt. Da hilft dann aber nichts als Augen zu auf und durch. Oder schlimmstenfalls eben mal kurz querlesen und den einen oder anderen Absatz überspringen.
Roman oder Drama?
Mit zunehmender Seitenzahl und besonders auffällig gegen Ende hin, verstummen Ismael und auch Melville. Dann wird der Text mit einem Mal zum Bühnendrama, inklusive Regieanweisungen. Shakespeare übernimmt die Erzählung! Anfangs empfand ich diese Genrewechsel etwas anstrengend. Doch auf den letzten Metern zum Showdown machen sie wirklich Spaß. Allerdings muss man das mögen; und ich weiß jetzt, warum ich damals als junger Mensch Moby-Dick nicht sonderlich gemocht habe.
Die Pequod und die ganze Welt
Am wohlsten habe ich mich jedoch stets beim Lesen von Milieuschilderungen der Walfängerbesatzung gefühlt. Herrlich, wie sich Ismael und sein späterer Blutsbruder Queequeg, ein polynesischer Kannibale und Harpunier von Beruf, kennenlernen!
Man kann davon ausgehen, dass der Autor mit der Besatzung der Pequod einen Spiegel der gesamten Welt aufstellen wollte. Dieser Ahab war ja auch ein vorchristlicher König Israels, dem vom Propheten Eliah aus religiösen Gründen ein böses Schicksal vorausgesagt worden war. Und genau so ein Elijah warnt nun Ismael und Queequeg vor dem schrecklichen Ausgang der Walfangreise.
Unter Ahab haben sich verschiedene höhere Dienstgrade verdingt: Starbuck, der streng religiöse Ostküstler als Gegenpol zum finsteren, manchmal halluzinierenden Ahab; die vielfarbigen Harpuniere Queequeg (siehe oben), Tashtego (indianischer Nachkomme der US-Ureinwohner), der gewaltige Daggo (dunkelhäutiger Afrikaner) und der mysteriöse Fedallah, ein parsischer Inder, der auf schwer erklärbare Weise eine Art teuflischen Führer oder Guru für Ahab darstellt.
„Und wenn Ihr dann schon einmal fort seid – wenn das jemals geschieht –, dann müsst Ihr mir, bevor ich Euch folgen kann, noch erscheinen, um mich zu lotsen? – War es nicht so? Nun denn, glaubte ich all dem, was Ihr sagt, oh mein Lotse! Dann hätt‘ ich zwei Versprechen hier, dass ich Moby Dick noch erschlagen und überleben werde.“
(Kapitel 117, Die Walwache, Ahab zu Fedallah)
Genau wie es dieser Fedallah prophezeit hat, muss erst er selbst sterben, sich danach aber noch einmal zeigen, bevor dann Ahab dem Tod ins Auge sehen kann. – Eine schaurige Geschichte mit Wiederauferstehungsanteil um das Ende der Pequod. Oder um das Ende der Menschheit, die sich einerseits ihrer Bestimmung nicht entziehen, aber andererseits eben auch nicht gegen die Gewalt der Natur, des Planeten in Gestalt des gewaltigen, ursprünglichen Wals Moby-Dick bestehen kann!
~
Ich habe die alte Walfanggeschichte nach vielen Jahren noch einmal aus dem Bücherregal gezogen, als ich bei der Lektüre von Dein Land in Schutt und Asche immer wieder auf Bezüge zu Moby-Dick gestoßen bin. Ich konnte nicht anders, ich musste den Parallelen an der Quelle nachgehen.
Fazit:
Moby-Dick ist eine merkwürdige Erzählung. Eine komplexe Geschichte über die Menschheit vor bald zwei Jahrhunderten. Eine Geschichte wie die Sonne selbst, die ständig feurige Tentakeln in alle möglichen Richtungen ausstößt. Aber eben auch eine Metapher auf den Menschen, seinen Erfindungsreichtum und seine Selbstgefälligkeit, die ihn ohne Möglichkeit zur Umkehr immer weiter treiben, schließlich bis zu seinem unausweichlichen Ende.
Wie oft hätten wir schon auf Vergangenes zurückschauen und aus ihm lernen können? Gerade auch wieder in unserer heutigen Aktualität? Aber dazu ist des Menschen Gehirn nicht angelegt. Offenbar sind wir dazu verdammt, immer wieder die gleichen Fehler zu begehen. Das wusste auch schon Herman Melville.
Ich war drauf und dran, dem Weißen Wal und seinem Ahab alle fünf möglichen Bewertungssterne zu verleihen. Doch letztlich habe ich wegen einiger unübersehbaren Längen dann doch einen Abzug machen müssen, so dass dieser Klassiker sich mit vier immerhin prallen Sternen begnügen muss.
Herman Melville: Moby-Dick
Richard Bentley, 1851
* * * * *
Wenn Du über diese Links bestellst, erhalte ich eine kleine Provision auf Deinen Einkauf (mehr darüber)
Fußnoten:
¹ — Spektrum der Wissenschaft, Mensch erlegte über drei Millionen Wale, März 2015
² — Hier empfehle ich etwa die ausführlich und sehr detailliert kommentierte E-Book-Ausgabe des Romans aus dem Jahr 2017, die mir wahrlich über lange Durststrecken hinweg geholfen hat.