Nach der sexuellen Revolution und der gesellschaftlichen Sexwelle in den siebziger Jahren, ich sage nur „Schulmädchen-Report“, kam Alberto Moravia noch einmal mit seinen beiden Lieblingsthemen um die Ecke: Sexus und Geld! Sein Roman Desideria wurde tatsächlich noch im Jahr 1978 beschlagnahmt. Nach seinen beiden handlungsbefreiten, existenzialistischen Werken La Noia und Inzest kommen Moravias Romanfiguren diesmal wieder ins Tun. Erste Protagonistin ist das Mädchen Desideria, die gegen Gesellschaft und Adoptivmutter ins Feld zieht.
Im Klappentext der Ausgabe, die in meinem Regal steht, heißt es, der Roman markiere einen Gipfelpunkt im gesamten Werk Moravias. Desideria werde zur Summe dessen, was Moravia je geplant und geschrieben habe. Zumindest auf das Setting trifft diese Aussage zur Summe seiner Werke auf jeden Fall zu. Und ich hätte mich auch gewundert, wenn Alberto Moravia nicht wieder mit seiner längst bewährten Standardpersonalkonfiguration aufgewartet hätte. Denn die Hauptfigur hat natürlich wieder einmal keinen Vater und wächst als Einzelkind bei ihrer steinreichen Mutter auf. So wie schon zuvor Agostino, der Konformist Marcello und Dino aus La Noia.
Diese Desideria nun ist das leibliche Kind eines ehemaligen Dienstmädchens im Haushalt Viola Papas‘ und ihres Mannes. Vermutlich war dieser Ehemann sogar der Vater des Mädchens. Jedenfalls adoptierten Viola und ihr Mann das Kind, als die Mutter das Haus verließ. Doch noch im Kleinkindalter Desiderias verstirbt ihr Vater. Das Mädchen und ihre verwitwete Adoptivmutter bleiben alleine in einem großzügigen Haus im vornehmen römischen Parioli-Viertel.
Über die Geschichte
Dieser Roman ist ein Interview, das die unter dem Namen „Desideria“ dargestellte Person dem Autor („Ich“) im Laufe der sieben Jahre, die die Niederschrift des Buches dauerte, gewährt hat.
(Nachsatz, Seite 398)
Eigentlich ist dieses Verhör nach typischer Moravia-Art ja sogar ein Dreiergespräch. Denn Desideria erklärt einen Großteil ihrer Verhaltensweisen mit einer geheimnisvollen Stimme, die nur sie hören kann und die ihr sagt, was zu tun ist. Diese von außen kommende Stimme macht sich erst bemerkbar, nachdem das Mädchen ihre unglückliche Kindheit in der Hülle einer verfressenen, aufgedunsenen Holothurie (wie die Stimme Desiderias Existenz nennt), also einer auf Verdauung reduzierten Seegurke, hinter sich gelassen hat.
Die Stimme
Ähnlich wie die Stimme Gottes bei Jeanne D’Arc, auf die sich der Romantext bezieht, stiftet Desiderias Stimme das Mädchen zur Entweihung und Zerstörung bürgerlicher Ideologien an. Sie will aus dem „kleinen Parioli-Flittchen“ (Seite 46) eine Revolutionärin machen. So gut wie alle ihre Entscheidungen und Verhaltensweisen erklärt Desideria dem Interviewer als Eingaben oder gar Befehle der Stimme, die man vielleicht als den manifestierten Geist der Rebellion ansehen könnte.
Eines Tages diktiert die Stimme dem Mädchen einen „Übertretungs- und Profanierungsplan“, einen „erhabenen, leuchtenden, reinen und unfehlbaren Plan für ihr künftiges Leben“ (Seite 91). Sogenannte „dialektische Binome“ müssten von ihr eingehalten werden: zum Beispiel Diebstahl statt Eigentum, Gottlosigkeit statt Religion, Prostitution statt Liebe, Mord statt Achtung vor dem menschlichen Leben.
Handlung
Das Interview beginnt also mit einem Bericht Desiderias aus ihrem dreizehnten Lebensjahr. Sie ist fettleibig, nimmersatt und unglücklich. Die Adoptivmutter Viola beschimpft sie wegen ihrer Unfähigkeit zur Mäßigung. Seinen Wunsch nach Nähe zu irgendjemandem, zu irgendeinem menschlichen Wesen, befriedigt das Mädchen im wahrsten Sinn des Wortes durch häufiges Masturbieren. Doch nachdem Desideria zufällige Zeugin einer Analsexszene zwischen Viola, deren Liebhaber Tiberi und einer zweiten Frau wird, entpuppt sich das Mädchen innerhalb kurzer Zeit – womöglich ausgelöst durch das traumatische Erlebnis? Aus der gefräßigen Raupe wird ein schöner, wohlproportionierter Schmetterling.
Mit einem Mal sind alle nur mehr an Desiderias körperlichen Reizen interessiert. So macht sie die Bekanntschaft der Kupplerin Diomira, die sich als ihre leibliche Mutter ausgibt und das Mädchen in ihr Haus lockt, um sie sogleich einem Freier zuzuführen. Doch das Unterfangen scheitert. Gleichzeitig entdeckt Desideria, dass ihre Adoptivmutter mittlerweile kaum beherrschbare inzestuöse Obsessionen ihr gegenüber entwickelt hat.
Erste gemeinsame sexuelle Erfahrungen macht sie mit einem Jungen aus dem schulischen Umfeld. Da überredet nämlich Desideria einen gewissen Giorgio dazu, sich von ihr oral befriedigen zu lassen. Wenig später beschwatzt die Stimme das Mädchen, sich Tiberi, dem Sexualpartner seiner Mutter anzubieten, um ihn dazu zu bringen, eine hohe Geldsumme von Violas Konten zu veruntreuen. (Natürlich alles im Rahmen der geplanten Revolution.)
Die Revolution
Als Desideria schließlich Erostrato kennenlernt, steuert das Mädchen auf einem Weg ohne Abzweigungen auf die „Liebe zu dritt“ zu – mit ihrer Adoptivmutter Viola und diesem undurchsichtigen Erostrato; in ein pornografisches Szenario, das genau jenem entspricht, in das Desideria sechs Jahre zuvor als Zwölfjährige hineingeplatzt war. Die Stimme treibt das Mädchen an, weil sich Erostrato als Mitglied einer revolutionären Zelle aus Mailand und somit als wichtiger Kontakt für die geplante Revolution erweist.
Tatsächlich macht Erostrato Desideria mit Quinto bekannt, einem wichtigen Mitglied der Umstürzler. Um das Mädchen in die Revoluzzerszene einzuschleusen, bringt die Stimme Desideria dazu, sich von Quinto entjungfern zu lassen. Doch statt der erhofften Aufnahme in die Mailänder Zelle, kassiert das Mädchen eine schmachvolle Abfuhr. Quinto lässt sie links liegen, nachdem er mit ihr geschlafen hat. Ein letzter Versuch, sich interessant zu machen, scheitert ebenfalls: Als sie bei Tiberi Beweismaterial gegen Erostrato erpressen will, um es Quinto zuzuspielen, entgeht sie einer Vergewaltigung nur dadurch, dass sie den zudringlichen Mann erschießt.
Zuletzt erkennt Desideria, dass Quinto ihr den Weg in die erhoffte Revolution nicht ebnen wird und erschießt schließlich auch diesen. Danach verabschiedet sie sich unvermittelt von ihrem Interviewer mit einer fast schon shakespearehaften Formulierung:
„Deine Phantasie hat mich verbrannt, verzehrt. Am Ende werde ich nur in deinem Werk existieren, als Abdruck, als Figur.“
(Seite 398)
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Deutung
Desideria gilt als der schwierigste und gleichzeitig als der in seiner Aussage dichteste Roman Alberto Moravias. Aufgrund meiner stark komprimierten und auf Abläufe konzentrierten Inhaltszusammenfassung könnte man sehr wohl auf die Idee verfallen, es handle sich tatsächlich um einen pornografischen Text. Aber vergegenwärtigen wir uns einmal, was Pornografie bedeutet:
Sprachliche, bildliche Darstellung sexueller Akte unter einseitiger Betonung des genitalen Bereichs und unter Ausklammerung der psychischen und partnerschaftlichen Aspekte der Sexualität
(Duden | Pornografie | Bedeutung)
Ohne Frage, Moravia betont den genitalen Bereich – stärker noch als in seinen früheren Romanen. Allerdings kann man ihm keinesfalls ein Ausklammern psychischer und partnerschaftlicher Aspekte unterstellen. Vielmehr geht es ihm ja gerade darum, psychische Auslöser sowie partnerschaftliche, familiäre und gesellschaftliche Aspekte des Sexus deutlich zu machen. Desideria ist ein schockierendes Porträt einer verkommenen Gesellschaft, die sich aus purem Hass auf sich selbst, auf die eigenen Werte und auf das Leben selbst umbringt. Die Protagonistin steht zwischen bürgerlichen und revolutionären Diskursen. Am Ende rebelliert sie gegen beide, versetzt beiden den Gnadenstoß: Das perverse Großbürgertum stirbt mit Tiberi, die heuchlerische Revolution mit Quinto.
Und weil die Angelegenheit damit tatsächlich beendet ist, schafft sich Desideria sofort im Anschluss konsequent selbst ab.
Parallelen
Dass sich der Autor in der Personalfrage der Romanbesetzung wie so oft an sein Erfolgsrezept gehalten hat, habe ich bereits im zweiten Absatz dieser Besprechung erwähnt. Doch wenn man andere Geschichten Moravias gelesen hat, fallen einem viele kleine Details auf, die man aus anderen Zusammenhängen kennt.
Den symbolischen Diebstahl einer Puderdose als Enteignung der Bourgeoisie hatte bereits Adriana in Die Römerin begangen. Das Bild der Mutter als Kupplerin gab vor Diomira schon die Cora in Inzest ab. Die bürgerliche Angst vor der Unanständigkeit von Reichtum, über den man deshalb vor Bediensteten nicht redet, repräsentierte nicht erst Viola sondern auch Dinos Mutter in La Noia. Geschlechtsverkehr im Bett der Mutter als Profanierung der Familie hatten nicht nur Desideria und Erostrato sondern zuvor bereits Cecilia und Dino, ebenfalls in La Noia. Und Mütter, die gleichzeitig als Kupplerinnen auftreten, sind bei Moravia im bürgerlichen Beruf gern Schneiderinnen (wie schon in Die Römerin und in La Noia).
Wenn wir uns all diese Parallelen vor Augen halten und dazu noch bedenken, dass Desideria die drastischste und expliziteste Attacke auf das postfaschistische Wertesystem der italienischen Gesellschaft ist, dann lässt sich die Formulierung im Klappentext meiner Romanausgabe durchaus nachvollziehen: Desideria markierte einen Gipfelpunkt im Werk Alberto Moravias und „wird zur Quintessenz seines ganzen Schaffens“.
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Im Jahr 1980 wurde die Geschichte der Desideria unter der Regie von Gianni Barcelloni verfilmt. In den Hauptrollen traten damals Lara Wendel (Desideria) und Stefania Sandrelli (Viola) auf. In den Filmkritiken wurde der Streifen allerdings als „missglückter halbherziger Softporno, realitätsfern und langweilig“ bezeichnet.
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Diese Buchbesprechung ist Teil meiner Retrospektive im Sommer 2022. Wem sie gefallen hat, wird vielleicht auch meine anderen Rezensionen zu Alberto Moravias Romanen lesen wollen.
Fazit:
Desideria ist ein harter Brocken. Da darf man als Leser¦in nicht zimperlich sein. Sonst läuft man womöglich Gefahr, aus lauter Empörung über die explizite Sprache Moravias an seinen kritischen Aussagen vorbeizulesen. Als Erstlektüre für jemanden, der sich mit dem Werk des Schriftstellers auseinandersetzen will, würde ich den Roman nicht empfehlen. Vielleicht ist die chronologische Lektüre seiner Texte eine ganz gute Idee. Etwa so wie in der Reihenfolge auf meinem Autorenprofil? (Auch wenn dort einige seiner Bücher fehlen.)
Mir hat die Präzision der Formulierung Moravias wieder einmal ausnehmend gut gefallen. Und die Idee, seine sonst üblichen Romanverhöre hier über den ganzen Text zu strecken, in eine Interviewform zu gießen, ist genial. Das „Ich“ des Autors oder Erzählers stellt immer punktgenau die Fragen, die Desideria keinen Ausweg mehr lassen. Er setzt sie unter Druck und bringt sie zu äußerster Klarheit. Der vermeintliche Objektivitätsanspruch dieses Interviewers ist ohnehin Maskerade und bricht spätestens mit dem Schlusssatz Desiderias komplett zusammen.
Mein Bewertungssystem ist nach der Lektüre des Romans eindeutig. Dieser Desideria gebühren stattliche vier von fünf möglichen Sternen. Schade, dass gerade dieser Moravia nicht neu aufgelegt wurde und nur gebraucht erworben werden kann.
Alberto Moravia: Desideria
List Verlag, 1979