Zumindest in Italien gilt Der Konformist als das Meisterwerk des früheren Nationalschriftstellers Alberto Moravia. Darin zeichnet der Autor die Biografie eines Durchschnittsbürgers, könnte man sagen. Zwar ist sein Marcello von klein auf ein monströses Geschöpf. Doch gerade deshalb versucht er später, in der Masse der vermeintlich normalen Menschen aufzugehen. Er beschließt, sich dem Zeitgeist anzuschließen und in der Meute der Mitläufer ein willfähriger Diener der italienischen Faschisten der Dreißigerjahre zu werden. Der Roman ist nun siebzig Jahre alt. Doch er weist erschreckende Parallelen zur heutigen Zeit auf. In der gesamten westlichen Welt driften „zornige Normalbürger“ wieder in autoritäre politische Umfelder ab. Aktuelle Wahlresultate und Entwicklungen in vermeintlich gefestigten Demokratien sind dafür düstere Zeichen. Moravias eindringliche Mahnung hat diese Tendenz ebenso wenig wie all die literarischen Appelle anderer Schriftsteller verhindern können.
Im Grunde ist dieser Marcello nichts anderes als eine Variation oder Weiterentwicklung des Agostino, des Protagonisten eines der früheren Romane Moravias: Ein Einzelkind, dessen psychisch schwer kranker Vater dem Jungen keinen Halt bietet. Dessen Mutter zu jung ist, um dem Sohn eine Erzieherin sein zu können. Ein Deformierter, der dann eben anderswo Orientierung sucht. Die eigentliche Geschichte des Konformisten setzt genau dort ein, wo die des Agostino endet.
Über die Romanhandlung
Die ersten siebzig der insgesamt 380 Textseiten überschreibt der Autor mit dem Titel Vorspiel. Darin lässt er seinen Protagonisten Marcello aus dessen Kindheit in den Neunzehnhundertzehnerjahren berichten.
Zu jener Zeit war Marcello grausam, ohne Reue und ohne Scham. Dies schien ihm ganz natürlich, denn aus der Grausamkeit erwuchsen ihm die einzigen Freuden, die ihm nicht schal vorkamen.
(Seite 7)
Mit einer Weidengerte schlägt er Blumen die Köpfe ab, bricht den Eidechsen das Rückgrat und tötet schließlich mit der Steinschleuder eine Katze. Atemlos erwartet der Sadist die Reaktion seiner Umgebung. Sein bester Freund und Spielkamerad erklärt, dass er Marcellos Tiermorde als abnorm empfindet, und distanziert sich von ihm. Von den Eltern hingegen bekommt der Junge überhaupt keine Reaktion. Vater und Mutter bieten ihm weder Orientierung noch Tadel. Dabei „sehnte er sich verzweifelt nach irgendeiner Norm und Ordnung“.
Abgründe
Jahre später, in der Oberschule, findet Marcello keinen Anschluss in der Gemeinschaft der Klassenkameraden. Wegen seiner femininen Gesichtszüge und der Neigung zu erröten und zärtliche Gesten zum Ausdruck zu bringen halten sie ihn für ein Mädchen in Hosen und rufen ihn Marcellina.
Zu allem Überfluss fällt Marcello dann auch noch im Alter von dreizehn Jahren in die Hände eines pädophilen ehemaligen Geistlichen, Lino, der als Chauffeur für eine reiche Amerikanerin arbeitet. Dieser Lino lockt den Jungen unter dem Vorwand, ihm eine Pistole schenken zu wollen in sein Zimmer, um ihn dort zu vergewaltigen. Doch Marcello greift nach der umherliegenden Pistole, schießt Lino in die Brust und lässt ihn sterbend zurück.
Da haben wir sie wieder, die Parallelen zu früheren Romanen Moravias. Auch sein Agostino konnte sich im Kreis der Gefährten nicht durchsetzen und wäre ebenfalls um ein Haar Opfer eines Pädophilen geworden. Und in Die Römerin ist es der Chauffeur reicher Leute, der Adriana die Unschuld raubt, obwohl er längst verheiratet ist. Chauffeure – und Priester – kommen bei Moravia nie sonderlich gut weg.
Der Konformist
Nach dem Vorspiel überspringt die Romanhandlung siebzehn Jahre. Marcello Clerici ist dreißig, hat promoviert und ist im Staatsdienst tätig. Die traumatischen Ereignisse seiner Kindheit versucht er in den Griff zu bekommen, indem er seine Individualität verschwinden zu lassen versucht. Er kleidet sich wie alle anderen, raucht die gleiche Zigarettenmarke, hat sich mit einem Durchschnittsmädchen verlobt und liebt das spießige Allerweltsambiente der Wohnung, in der seine Giulia mit ihrer Mutter lebt.
Auch politisch verleiht Marcello seinem Wunsch nach Gleichförmigkeit Ausdruck. Wie die große Mehrheit der Italiener bejubelt er den spanische Bürgerkrieg und die faschistische Regierung im eigenen Land. Er geht sogar soweit, dem Geheimdienst seine Spitzeldienste anzubieten. Denn sein ehemaliger Universitätsprofessor ist mittlerweile Persona non grata im Regime Mussolinis und arbeitet im französischen Exil gegen Italiens Faschisten. Marcello stellt in Aussicht, diesen Professor Quadri in Paris zu kontaktieren und in einen Hinterhalt zu locken.
Tatsächlich bekommt er den Auftrag, im Rahmen seiner anstehenden Hochzeitsreise nach Paris Quadri ans Messer zu liefern. Seine Giulia ist natürlich entzückt, nach der Hochzeit mit ihrem Angebeteten in die Stadt der Liebe reisen zu dürfen. Vom Mordkomplott ahnt sie nichts. Doch von da an laufen die die Dinge aus dem Ruder.
Politische und amouröse Scharaden
Schon auf der Zugreise nach Paris gesteht Giulia ihrem frisch Angetrauten, dass sie keine Jungfrau mehr ist, sondern über Jahre hinweg von einem Freund der Familie sexuell missbraucht worden war. Marcello ist baff. Als dann die Clericis in Paris auf die Quadris treffen – denn Professor Quadri ist inzwischen mit mit einer jungen Frau namens Lina verheiratet –, bröckelt das so sorgsam zusammengebastelte Eheleben Marcellos. Er entflammt auf einmal für diese Lina. Die kann ihn zwar nicht ausstehen, geht jedoch zum Schein auf seine Avancen ein. Tatsächlich aber ist Lina darauf aus, Giulia in eine lesbische Affaire zu verstricken.
Das Chaos ist vorprogrammiert und gipfelt in einem Abend zu viert, der mit einem Restaurantbesuch beginnt und in einem Nachtclub endet. Quadri gibt Marcello zu verstehen, dass er weiß: sein ehemaliger Student ist für die italienische Geheimpolizei tätig. Doch er versucht, Marcello umzudrehen und für die antifaschistische Sache zu gewinnen. Währenddessen versucht Lina auf der Tanzfläche des Clubs für Frauen, die Frauen lieben, zu verführen.
Kurz zuvor hatten die beiden Paare noch gemeinsam mit Champagner angestoßen: „Trinken wir auf unsere Sache!“ – „Also, auf das Wohl der Sache!“ (Seite 298)
Spätestens jetzt ist klar, dass jeder der vier seiner jeweils eigenen Sache zuprostete und hoffte, seine persönlichen Pläne verwirklichen zu können.
Der Morgen danach
Quadri hatte seinen Ex-Studenten nicht für die antifaschistische Sache begeistern können, seine Frau Lina war bei Giulia abgeblitzt. Marcellos Hoffnungen auf ein Liebesabenteuer mit Lina sind zerplatzt wie eine Seifenblase. Aber sein politischer Auftrag geht auf. Am Tag nach den Scharaden reisen die Quadris nach Süden zu ihrem Feriendomizil. Auf der Fahrt werden beide von Schergen italienischer Faschisten ermordet.
Marcello und Giulia machen sich auf die Rückreise nach Rom. An dieser Stelle macht der Roman erneut einen Sprung über mehrere Jahre in die Zukunft.
Nachspiel
Die Familie Clerici ist gewachsen. Giulia und Marcello haben eine Tochter namens Lucilla bekommen und leben in der eigenen Spießerwohnung mit Auto und Möbeln, die sie auf Raten gekauft haben. Fast sieht es so aus, als habe Marcello sein Ziel erreicht und als der größte aller Konformisten triumphiert. Doch dann kollabiert seine sorgsam konstruierte Welt: Mussolini wird gestürzt, der italienische Faschismus ist am Ende.
(Wer das Finale der Geschichte nicht selbst lesen möchte, kann den Text im Spoiler aufklappen und sich verraten lassen, wie alles zu Ende geht.)
Spoiler aufklappen
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Mit dieser Begegnung gerät das Lebensgebäude Marcellos endgültig zum Einsturz. Als bekanntem Faschisten und Polizeispitzel droht ihm ohnehin das Ende seines sorgfältig geplanten Berufslebens. Er ist „ein ruinierter Mann, der nichts mehr von seiner Zukunft zu erwarten hat“. Und nun erweist sich der Hauptgrund für seine Flucht in die Konformität, nämlich der Totschlag an einem Pädophilen, als Hirngespinst. Es hätte alles nicht so kommen müssen, wenn Marcello als Dreizehnjähriger nicht aus seiner Anomalität als Mörder entkommen hätte müssen.
Am nächsten Morgen verlassen die Clericis Rom. Sie fliehen Richtung Osten ins Gebirge, nach Tagliacozzo, zu einem Landsitz von Marcellos Mutter. Die Autofahrt führt sie durch malerische Landstriche, die sie die Gedanken an Krieg und Umsturz vergessen lassen. Doch dann geraten sie in einen der letzten Luftangriffe des Krieges, das Auto wird von Maschinengewehrsalven durchlöchert. Als sich der Pulverdampf verzogen hat, ist Marcello alleine: Frau und Tochter haben den Angriff nicht überlebt.
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Das Verführerische des Bösen
Auf seine unnachahmliche Art macht Alberto Moravia seiner Leserschaft klar, was passiert, wenn innere Unsicherheit zu Größenfantasien und diese wiederum zu Gewaltbereitschaft und zu einer Karriere des Tötens werden. Moravia beobachtet aus der Distanz, er seziert und rückt dann ganz nah heran. Dabei verzichtet er auf plakative Markierung des Bösen. Denn das erkennen wir alle, auch ohne mit der Nase darauf gestoßen zu werden. Wenn wir nur die Augen offen halten.
Der junge Marcello wurde stets alleine gelassen mit seinen Nöten. Die Orientierung, die er sich aus der Welt der Erwachsenen erhoffte, wurde ihm von den Eltern ebenso wie von den Erziehern an der Schule versagt. In der Ausweglosigkeit einer sexuellen Gewaltsituation greift er zum einzigen Mittel, das er kennt: zum Totschlag.
Dass der Heranwachsende mit seiner Situation hoffnungslos überfordert war, dürfte jedem von uns klar sein. Und dass dann der Erwachsene an Scheidewegen ebenfalls den Weg in die Gewalt wählen würde, sollte auch niemanden überraschen.
Der Konformist ist das Psychogramm eines seelisch Verstümmelten, wie es folgerichtiger kaum erzählt werden konnte. Der Kurs in die vermeintliche Normalität konnte auf keine Wegweiser, kein Korrektiv vertrauen. So wählte Marcello einerseits den Weg des geringsten Widerstandes und andererseits ganz instinktiv die Seite, auf der er seine latente Gewaltbereitschaft am profitabelsten einsetzen konnte. Situativ auftretende Unsicherheit oder gar Unbehagen wischte er beiseite und wurde schließlich zu diesem Monster, das wir auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder fürchten: Zu einem Mitläufer, der zwar im Kern gar nicht von seinem System überzeugt, aber auch nicht bereit ist, das System und damit sein eigenes Tun grundsätzlich zu hinterfragen. Aus der Summe solcher Konformisten wächst schließlich eine Hydra, deren Bösartigkeit im Nachhinein nur schwer erklärbar ist.
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Der Roman wurde im Jahr 1969 unter dem Titel Der große Irrtum, Regie von Bernardo Bertolucci und in den Hauptrollen mit Stefania Sandrelli als Giulia und Jean-Louis Trintignant als Marcello verfilmt.
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Diese Buchbesprechung ist Teil meiner Retrospektive im Sommer 2022. Wem sie gefallen hat, wird vielleicht auch meine anderen Rezensionen zu Alberto Moravias Romanen lesen wollen.
Fazit:
Der Konformist gehört unbedingt zu den Romanen, die man immer wieder aus dem Regal holen sollte. Insbesondere dann, wenn es in den Ecken wieder einmal bräunlich oder schwärzlich zu modern beginnt. Spätestens dann sollte man Alberto Moravias Roman als Duftbäumchen gegen übel muffenden Zeitgeist hochhalten. Die Geschichte hilft dabei, Weggabelungen zu erkennen, bevor man falsch abbiegt. Und sie hilft auch dabei, die Nöte und Ängste der eigenen Kinder oder meinetwegen Enkel ernst zu nehmen und ihnen auf einen gangbaren Pfad in die Zukunft zu helfen.
Deshalb ist der Roman auch nur ganz knapp an der maximalen Sternezahl vorbeigeschrammt. Aber vier sehr fette von fünf möglichen Sternen vergebe ich aus voller Überzeugung. Selbst nach fast einem Menschenleben seit seiner Erstveröffentlichung. Oder vielleicht gerade deshalb?
Übrigens: Das sonst in Moravias Texten häufig dominant platzierte Thema Sexualität ist diesmal verhältnismäßig zurückhaltend eingearbeitet. Daher ist dieser Roman auch für Leser¦innen empfehlenswert, die keinen Wert auf explizite Darstellungen legen.
Alberto Moravia: Der Konformist
Verlag Kurt Desch, 1960
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