Agostino

Alberto Moravia, Agostino, 1944
Alberto Moravia, 1944

Der erste Roman, den Al­ber­to Mo­ra­via nach dem Zwei­ten Welt­krieg ver­öf­fent­lichte, trägt den Ti­tel Agostino. Es ist eine kur­ze Ge­schich­te, kei­ne hun­dert Text­sei­ten lang: Der drei­zehn­jäh­ri­ge Jun­ge Agos­ti­no be­rich­tet von sei­nen Er­leb­nis­sen in einem Fe­rien­ort an der ita­lie­ni­schen Küs­te wäh­rend eines Som­mer­ur­laubs, den er und sei­ne Mut­ter in einer Fe­rien­woh­nung ver­brin­gen. Dem Autor ist mit dem Be­richt des Teen­agers eine un­ver­gess­li­che, haut­na­he Coming-of-Age-Er­zäh­lung ge­lun­gen.

Agos­ti­no ist der ein­zi­ge Sohn einer wohl­ha­ben­den Fa­mi­lie aus Pi­sa. Sein Va­ter ist of­fen­bar früh ver­stor­ben. Da­nach hat der Jun­ge die Rol­le des Be­schüt­zers sei­ner noch jun­gen, ver­wit­we­ten Mut­ter über­nom­men.

Vor­sicht: Ödi­pus­kon­flikt an li­gu­ri­schen Ge­sta­den!

Agostino – Über die Handlung

Die Erzäh­lung setzt ein mit den thea­tra­li­schen Auf­trit­ten Agos­ti­nos, immer wenn er seine Mut­ter auf ihren täg­li­chen Ruder­boots­aus­flü­gen am Strand des Urlaubs­or­tes beglei­tet. Er genießt es, vor den Augen der ande­ren Urlau­ber den männ­li­chen Gefähr­ten der schö­nen Mut­ter zu spie­len. Doch sein Traum­idyll platzt, als der junge Renzo auf­taucht und der Mut­ter den Hof zu machen beginnt. Fas­sungs­los beob­ach­tet Agos­tino, wie sich seine sonst so selbst­si­chere Mut­ter in Gegen­wart des Ver­eh­rers in ein kichern­des Püpp­chen ver­wan­delt und mit Renzo flir­tet.

Als Agos­tino eines Tages nicht als fünf­tes Rad am Wagen mit Renzo und der Mut­ter auf Ruder­par­tie geht, macht er die Bekannt­schaft des Fischers Saro und einer Bande wil­der Jun­gen aus dem Dorf. Saro und seine Jungs öff­nen Agos­tino die Augen. Denn natür­lich haben sie alle die Balz Ren­zos um die schöne Urlau­be­rin beob­ach­tet. Nun machen sie kei­nen Hehl aus ihren Ver­mutun­gen darü­ber, was auf dem Boot drau­ßen auf dem Was­ser pas­siert.

Agos­tino ist ent­setzt: Doch nicht sei­ne Mut­ter! Aller­dings wird ihm bald klar, dass die ande­ren recht haben müs­sen. Und eines Abends ertappt er schließ­lich die Mut­ter, wie sie im Musik­sa­lon des Urlaubs­quar­tiers Renzo küsst.

Eigene Erfahrungen

Bei der Erkennt­nis über kör­per­li­che Bedürf­nisse sei­ner Mut­ter bleibt es jedoch nicht. Eines Tages nimmt Saro den Jun­gen alleine mit auf sein Segel­boot, lässt Agos­tino wäh­rend des Törns Lyrik rezi­tie­ren und hält dabei seine Hand. Obgleich wei­ter nichts vor­fällt, ver­höh­nen die Fischer­jungs Agos­tino danach als Lust­kna­ben des pädo­phi­len Saro. Agos­tino ist beschämt. Als Tor­tima, der Älteste der Bande, ihm eines Tages eine Villa zeigt, in der sich ein Bor­dell befin­det, beschließt er, Nägel mit Köp­fen zu machen und end­lich eigene Erfah­run­gen mit der kör­per­li­chen Liebe zu machen. Er kratzt seine Erspar­nisse zusam­men, borgt sich noch ein paar Lire von der Mut­ter und lädt Tor­tima auf einen Puff­be­such ein.

Leider schlägt die geplante Ent­jung­fe­rung fehl. Denn die Puff­mut­ter lässt den kurz­behos­ten Agos­tino nicht ein. Tor­tima ergreift die Gele­gen­heit und ver­ju­belt Agos­tinos Erspar­tes im Allein­gang. Der Gede­mü­tigte kehrt ver­zwei­felt zurück zur Mut­ter. Die Roman­ge­schich­te endet in Agos­tinos ver­zwei­fel­ter Erkennt­nis:

„Wie einen Mann“, mußte er noch ein­mal den­ken, bevor er ein­schlief. Aber er war noch kein Mann. Und lange, unglück­li­che Jahre wür­den verge­hen, bis er einer war.
(Schlusssatz)

Agostino – Sexualität und Geld

Die bei­den domi­nie­ren­den The­men Alberto Mora­vias bestim­men bereits die­sen frü­hen Roman des Schrift­stel­lers. Der unbe­hag­li­che Auf­tritt eines Ver­eh­rers sei­ner Mut­ter und die Anzüg­lich­kei­ten der Dorf­bande wecken in ihm die

„Vor­stel­lung, daß er der Sohn jenes Wesens war, in dem er nichts als eine Frau erken­nen konnte. […] Die Mut­ter ver­hüllte sich ganz wie frü­her, nicht beson­ders vor sei­nen Augen, da sie sei­nen verän­der­ten Blick nicht bemerkte. Ihre Unbe­kümmert­heit erschien Agos­tino auf­rei­zend und her­aus­for­dernd.“
(Seite 49)

Auf der anderen Seite gelingt dem Jun­gen der Anschluss an Saro und die Fischer­bande nur, indem er der Mut­ter zwei Ziga­ret­ten­päck­chen ent­wen­det, die diese nicht ver­mis­sen würde. Aber die Jungs lie­ßen sich ganz ein­fach damit beste­chen.

Die Quit­tung erhält Agos­tino, als er sein Erspar­tes mit einem der ver­meint­li­chen neuen Freunde bei einem Bor­dell­besuch tei­len will, doch dabei übers Ohr gehauen wird.

Am Ende der Ge­schich­te fin­det sich der Pro­tago­nist in wahr­lich schreck­li­cher Lage wie­der: Die unbe­schwerte Fami­lien­zeit mit der Mut­ter ist zwei­fel­los für immer vorü­ber. In die Welt der Erwach­se­nen passt der ange­hende Teen­ager längst noch nicht. Mit den gleich­altri­gen behü­te­ten Schnö­seln der geho­be­nen Gesell­schaft kann er nichts mehr anfan­gen. Doch ande­rer­seits kann er sich auch in der Gegen­wart der ärme­ren, unver­stell­te­ren Bevöl­ke­rung nicht behaup­ten.

Die­ser Som­mer­ur­laub hat Agos­tino ins Fege­feuer sei­nes Bewusst­seins gestürzt, aus des­sen Flam­men er die nächs­ten fünf oder zehn Jahre nicht ent­kom­men wird.

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Diese Buch­bespre­chung ist Teil mei­ner Retro­spek­tive im Som­mer 2022. Wem sie gefal­len hat, wird viel­leicht auch meine ande­ren Rezen­sio­nen zu Alberto Mora­vias Roma­nen lesen wol­len.

Fazit:

Mit sei­nem Agos­tino hat Alberto Mora­via ein klas­si­sches Puber­tier ins Rennen um das Leben geschickt. Ich über­lege gerade, aber wahr­schein­lich ist es allen von uns Jungs damals irgend­wie ähn­lich ergan­gen. Des­halb emp­fehle ich die Lek­türe allen Män­nern, die diese Phase hin­ter sich gebracht haben. Aber viel­leicht auch den Teens von heute? Denn die Ge­schich­te ist zeit­los. Und wahr. Und Mora­via hat sich zurück­gehal­ten: Es gibt kei­nen Grund, den Text Jugend­li­chen von heute vor­zuent­hal­ten. Und Frauen, die sich dafür inte­res­sie­ren, wie Jungs ticken, sind wohl auch poten­zi­elle Lese­rin­nen.

Weil ich die ganze Ge­schich­te für sehr gelun­gen und auch nach acht­zig Jah­ren unver­än­dert für aktu­ell halte, ver­gebe ich bom­bas­ti­sche vier von fünf mög­li­chen Ster­nen.

Alberto Moravia: Agostino
Verlag Klaus Wagenbach, 2005
(Erstausgabe: Verlag Kurt Desch, 1947)

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