Der erste Roman, den Alberto Moravia nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte, trägt den Titel Agostino. Es ist eine kurze Geschichte, keine hundert Textseiten lang: Der dreizehnjährige Junge Agostino berichtet von seinen Erlebnissen in einem Ferienort an der italienischen Küste während eines Sommerurlaubs, den er und seine Mutter in einer Ferienwohnung verbringen. Dem Autor ist mit dem Bericht des Teenagers eine unvergessliche, hautnahe Coming-of-Age-Erzählung gelungen.
Agostino ist der einzige Sohn einer wohlhabenden Familie aus Pisa. Sein Vater ist offenbar früh verstorben. Danach hat der Junge die Rolle des Beschützers seiner noch jungen, verwitweten Mutter übernommen.
Vorsicht: Ödipuskonflikt an ligurischen Gestaden!
Über die Handlung
Die Erzählung setzt ein mit den theatralischen Auftritten Agostinos, immer wenn er seine Mutter auf ihren täglichen Ruderbootsausflügen am Strand des Urlaubsortes begleitet. Er genießt es, vor den Augen der anderen Urlauber den männlichen Gefährten der schönen Mutter zu spielen. Doch sein Traumidyll platzt, als der junge Renzo auftaucht und der Mutter den Hof zu machen beginnt. Fassungslos beobachtet Agostino, wie sich seine sonst so selbstsichere Mutter in Gegenwart des Verehrers in ein kicherndes Püppchen verwandelt und mit Renzo flirtet.
Als Agostino eines Tages nicht als fünftes Rad am Wagen mit Renzo und der Mutter auf Ruderpartie geht, macht er die Bekanntschaft des Fischers Saro und einer Bande wilder Jungen aus dem Dorf. Saro und seine Jungs öffnen Agostino die Augen. Denn natürlich haben sie alle die Balz Renzos um die schöne Urlauberin beobachtet. Nun machen sie keinen Hehl aus ihren Vermutungen darüber, was auf dem Boot draußen auf dem Wasser passiert.
Agostino ist entsetzt: Doch nicht seine Mutter! Allerdings wird ihm bald klar, dass die anderen recht haben müssen. Und eines Abends ertappt er schließlich die Mutter, wie sie im Musiksalon des Urlaubsquartiers Renzo küsst.
Eigene Erfahrungen
Bei der Erkenntnis über körperliche Bedürfnisse seiner Mutter bleibt es jedoch nicht. Eines Tages nimmt Saro den Jungen alleine mit auf sein Segelboot, lässt Agostino während des Törns Lyrik rezitieren und hält dabei seine Hand. Obgleich weiter nichts vorfällt, verhöhnen die Fischerjungs Agostino danach als Lustknaben des pädophilen Saro. Agostino ist beschämt. Als Tortima, der Älteste der Bande, ihm eines Tages eine Villa zeigt, in der sich ein Bordell befindet, beschließt er, Nägel mit Köpfen zu machen und endlich eigene Erfahrungen mit der körperlichen Liebe zu machen. Er kratzt seine Ersparnisse zusammen, borgt sich noch ein paar Lire von der Mutter und lädt Tortima auf einen Puffbesuch ein.
Leider schlägt die geplante Entjungferung fehl. Denn die Puffmutter lässt den kurzbehosten Agostino nicht ein. Tortima ergreift die Gelegenheit und verjubelt Agostinos Erspartes im Alleingang. Der Gedemütigte kehrt verzweifelt zurück zur Mutter. Die Romangeschichte endet in Agostinos verzweifelter Erkenntnis:
„Wie einen Mann“, mußte er noch einmal denken, bevor er einschlief. Aber er war noch kein Mann. Und lange, unglückliche Jahre würden vergehen, bis er einer war.
(Schlusssatz)
Sexualität und Geld
Die beiden dominierenden Themen Alberto Moravias bestimmen bereits diesen frühen Roman des Schriftstellers. Der unbehagliche Auftritt eines Verehrers seiner Mutter und die Anzüglichkeiten der Dorfbande wecken in ihm die
„Vorstellung, daß er der Sohn jenes Wesens war, in dem er nichts als eine Frau erkennen konnte. […] Die Mutter verhüllte sich ganz wie früher, nicht besonders vor seinen Augen, da sie seinen veränderten Blick nicht bemerkte. Ihre Unbekümmertheit erschien Agostino aufreizend und herausfordernd.“
(Seite 49)
Auf der anderen Seite gelingt dem Jungen der Anschluss an Saro und die Fischerbande nur, indem er der Mutter zwei Zigarettenpäckchen entwendet, die diese nicht vermissen würde. Aber die Jungs ließen sich ganz einfach damit bestechen.
Die Quittung erhält Agostino, als er sein Erspartes mit einem der vermeintlichen neuen Freunde bei einem Bordellbesuch teilen will, doch dabei übers Ohr gehauen wird.
Am Ende der Geschichte findet sich der Protagonist in wahrlich schrecklicher Lage wieder: Die unbeschwerte Familienzeit mit der Mutter ist zweifellos für immer vorüber. In die Welt der Erwachsenen passt der angehende Teenager längst noch nicht. Mit den gleichaltrigen behüteten Schnöseln der gehobenen Gesellschaft kann er nichts mehr anfangen. Doch andererseits kann er sich auch in der Gegenwart der ärmeren, unverstellteren Bevölkerung nicht behaupten.
Dieser Sommerurlaub hat Agostino ins Fegefeuer seines Bewusstseins gestürzt, aus dessen Flammen er die nächsten fünf oder zehn Jahre nicht entkommen wird.
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Diese Buchbesprechung ist Teil meiner Retrospektive im Sommer 2022. Wem sie gefallen hat, wird vielleicht auch meine anderen Rezensionen zu Alberto Moravias Romanen lesen wollen.
Fazit:
Mit seinem Agostino hat Alberto Moravia ein klassisches Pubertier ins Rennen um das Leben geschickt. Ich überlege gerade, aber wahrscheinlich ist es allen von uns Jungs damals irgendwie ähnlich ergangen. Deshalb empfehle ich die Lektüre allen Männern, die diese Phase hinter sich gebracht haben. Aber vielleicht auch den Teens von heute? Denn die Geschichte ist zeitlos. Und wahr. Und Moravia hat sich zurückgehalten: Es gibt keinen Grund, den Text Jugendlichen von heute vorzuenthalten. Und Frauen, die sich dafür interessieren, wie Jungs ticken, sind wohl auch potenzielle Leserinnen.
Weil ich die ganze Geschichte für sehr gelungen und auch nach achtzig Jahren unverändert für aktuell halte, vergebe ich bombastische vier von fünf möglichen Sternen.
Alberto Moravia: Agostino
Verlag Klaus Wagenbach, 2005
(Erstausgabe: Verlag Kurt Desch, 1947)