Nur zwei Jahre nach seinem Agostino veröffentlicht Alberto Moravia eine Romangeschichte über Die Römerin, ein sechzehnjähriges Mädchen aus armen Verhältnissen. Adriana lebt mit ihrer Mutter in einer heruntergekommenen Wohnung in einem Unterschichtenviertel Roms. Dank ihrer ebenmäßigen Schönheit beginnt das Mädchen, als Aktmodell für Künstler ein wenig Geld zum mageren Haushaltseinkommen beizutragen. Doch es dauert nicht lange, bis Adriana von Gisella, einem der anderen Aktmodelle, in die Prostitution gedrängt wird. Erstaunlicherweise empfindet die junge Römerin ihren neuen Beruf eher als Berufung denn als Schmach.
Die ganze Geschichte wird ausnahmslos aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Adriana erzählt. Von Anfang an war ich etwas skeptisch. Da schreibt ein Vierzigjähriger, also einer, den man heute als „alten weißen Mann“ bezeichnen würde, aus Sicht eines jungen Mädchens über deren eigene Gedanken und Gefühle. Moravia sagte dazu in einem Interview* nur lapidar: „Ein guter Schriftsteller ist beides, ein Mann und eine Frau.“ Ob man einem Bestsellerautor des 21. Jahrhunderts ein solches Statement ohne öffentliche Debatte abnehmen würde, weiß ich nicht.
Frauenperspektive aus Sicht eines männlichen Schriftstellers?
Bereits im Romanvorgänger Agostino hat Moravia bewiesen, dass er sich durchaus in die Sichtweise und in die Gedankengänge eines Teenagers hineinversetzen kann. Allerdings war dieser Agostino eben ein Junge. Adriana hingegen ist ein junges Mädchen der sozialen Unterschicht des faschistischen Italiens der Dreißigerjahre. Im Archiv des Deutschlandfunks habe ich eine ambivalente Besprechung von Die Römerin gefunden**. Die Germanistin und Politikwissenschaftlerin Sojitravalla bescheinigt darin Moravia, „nicht zu langweilen, eine Geschichte zu präsentieren, die mit knackigen Überraschungen aufwartet, mit Spannung nicht geizt und doch auch eine anrührende, wenn auch etwas altmodische Liebesgeschichte bietet“. Doch ob die Kritikerin heute, zwanzig Jahre nach ihrer Besprechung, noch immer so urteilen würde, ist fraglich.
Trotzdem weise ich auf diese zwei Jahrzehnte alte Rezension hin. Denn sie enthält eine Charakterisierung Adrianas, die man einfach nicht treffender formulieren kann:
Irgendwie schließt man die einigermaßen dumme Gans ins Herz. Dabei gibt es keinen Grund dafür. Sie ist von einer Naivität, die rasend macht, von einer Unbedarftheit, die geschüttelt werden will und hängt nicht ausrottbaren Kleinmädchenträumen nach. Denn ganz im Gegensatz zu ihren literarischen Kolleginnen möchte Adriana gar nichts weiter als bloß ein ganz normales Leben führen. Das heißt für sie: ein Mann, ein Haus, ein Kind.**
Und Sojitravalla findet auch eine Begründung dafür, warum diese dämliche Adriana die Sympathie der Leserschaft findet: „Ganz einfach, der Leser hat Mitleid mit ihr, und zwar in erster Linie deswegen weil Moravia möchte, dass er Mitleid mit ihr hat. […] Moravias Hauptanliegen beim Schreiben: Das Mitleiden mit den Figuren, das ihn selbst erfüllt und das er beim Leser erzeugen möchte.“**
Dieser Einschätzung möchte ich mich unbedingt anschließen. Gleiches war mir schon bei der Lektüre des Jungen Agostino im Romanvorgänger aufgefallen. Auch in Die Römerin gelingt dies Moravia ohne jeden Zweifel.
Die Romangeschichte
Adriana lebt mit ihrer verwitweten Mutter in ärmlichen Verhältnissen in Rom. Als Adriana sechzehn ist, schleust sie die Mutter dank früherer Kontakte als Aktmodell bei verschiedenen Künstlern ein. Dies gelingt hauptsächlich deswegen, weil Adriana ein außergewöhnlich hübsches Mädchen ist. Obwohl die Mutter ihre Tochter anfleht, sich nicht einem armen Schlucker an den Hals zu werfen sondern ihre Reize auszuspielen, verliebt sich Adriana in den Erstbesten:
Gino ist mittelloser Chauffeur einer herrschaftlichen römischen Familie. Die beiden verloben sich, und Adriana gibt sich Gino hin. Natürlich kommt es, wie es kommen muss. Dieser Gino erweist sich als Betrüger, der mit einer anderen verheiratet ist und mit dieser Ehefrau längst Kinder hat.
Prostitution
Die Entlarvung des Heiratsschwindlers verdankt Adriana allerdings nicht etwa ihrer weiblichen Intuition. Vielmehr erhält sie die Information von einem gewissen Astarita, einem hohen Beamten der faschistischen politischen Polizei. Diesen Astarita hatte sie durch Intrigen ihrer Berufskollegin als Aktmodell, Gisella, kennengelernt. Gisella hatte Adriana und Astarita zusammengebracht, um die Freundin ins Gewerbe der bezahlten Liebesdienerinnen hineinzuziehen. Astarita, ebenfalls verheiratet, ist nämlich der schönen Adriana hoffnungslos verfallen und tut alles, um sich deren Gunst zu sichern.
Was mit diesem Astarita beginnt, zieht schnell weite Kreise. Nach dem Bruch mit Gino nimmt Adriana bald wahllos irgendwelche Freier mit in ihr bescheidenes Zuhause und gibt sich diesen gegen Bezahlung hin. (Die Mutter nimmt den neuen Beruf ihrer Tochter kommentarlos hin. Schließlich kommt endlich ein wenig Geld ins Haus.)
Über käufliche und romantische Liebe
Adriana selbst verfällt angesichts ihres Abgleitens in die moralische Verwerflichkeit des Straßengewerbes nicht etwa in Depressionen. Sie schätzt durchaus die Bequemlichkeit des Gelderwerbs als Dirne. Das Geld ihrer Freier nimmt sie gerne, gibt es allerdings ohne eigennützig zu denken an die Mutter weiter.
Im Herzen bleibt Adriana ihren naiven Mädchenträumen treu. Und schließlich lernt sie Mino kennen, einen Studenten aus begütertem Hause. Sofort ist sie Feuer und Flamme für diesen jungen Mann, der gar noch ein Jahr jünger ist als sie selbst. Doch obwohl sich Mino durchaus von Adriana angezogen fühlt, ist er doch voller Selbstzweifel oder gar Selbstekel. Die Beziehung zwischen den beiden scheint in ein Fiasko zu münden. Außerdem engagiert sich Mino in einer politischen Protestbewegung und bewegt sich auf Kollisionskurs mit der faschistischen Staatsmacht.
Letztlich kommt es zur Belastungsprobe zwischen Andriana, dem Partisanen Mino und dem liebestollen Polizeischergen Astarita. Überraschung: Moravia baut im letzten Teil seiner Romangeschichte sogar noch einige Thrillerelemente ein! – Mehr mag ich hier nicht verraten. Lest doch selbst! (Wer allerdings unbedingt wissen will, wie die Geschichte ausgeht, kann hier im Spoiler weiterlesen.)
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Begleiterscheinungen der Prostitution
Ich hatte mich von Anfang an ein wenig gewundert: Über die üblichen Begleiterscheinungen des Hurengewerbes hat Moravia nicht ein Wort verloren. Wie Adriana die Problematiken von Geschlechtskrankheiten, Empfängnisverhütung oder Schutz vor gewalttätigen Freiern durch Zuhälter bewältigt, erfahren wir nicht. Kurzzeitig hatte ich die Idee, dass dieser Sonzogno womöglich zum Luden Adrianas werden könnte.
Doch damit lag ich falsch. Auch Sonzogno ist nur einer der Männer, die dem Mädchen verfallen. Auch wenn er eben dazu neigt, sich mit Gewalt zu nehmen, was er will. Bei seinem letzten Geschlechtsakt mit Adriana schwängert er dazu noch das Mädchen.
Polizeiaktionen
Unterdessen gerät Liebesobjekt Adrianas und Untergrundaktivist Mino ins Visier der Faschisten. Die Polizei verhaftet ihn. Adriana wird sofort aktiv und ruft ihren Liebessklaven Astarita zu sich, um das Schlimmste zu verhindern. In ihrer Wohnung treffen jedoch zufällig der fiese Sonzogno und Astarita aufeinander. Der Kriminelle erkennt den hohen Polizeibeamten und lässt sich deshalb widerstandslos von ihm ohrfeigen und aus Adrianas Wohnung werfen.
Danach verspricht Astarita seiner Angebeteten, die Anschuldigungen gegen Mino unter den Teppich zu kehren; in der Hoffnung, die junge Frau würde nun endlich sein Angebot annehmen und sich von ihm exklusiv aushalten lassen.
Showdown
Sonzogno kann die Demütigung durch den Polizeioffizier Astarita nicht verwinden. Er sucht ihn zu Hause auf und stürzt ihn durchs Treppenhaus in den Tod. Doch letztlich wird er von den Suchtrupps der Polizei aufgespürt.
Nach dem Tod Astaritas scheint Mino tatsächlich in Sicherheit. Adriana beichtet ihre Schwangerschaft, stellt allerdings Mino statt Sonzogno als den Kindsvater hin. Eine Weile scheint sich tatsächlich so etwas wie ein Happy End abzuzeichnen. Doch dann richtet sich Mino selbst. Er kann sein Versagen in der Untergrundbewegung, aber auch seine eigene ihm unerträgliche Existenz nicht hinnehmen.
Zuletzt bleiben nur Adriana und ihr ungeborenes Kind übrig. Doch vor seinem Selbstmord hatte Mino noch alle wichtigen Schritte in die Wege geleitet, damit seine Familie die „Schwiegertochterwitwe“ Adriana und das vermeintlich gemeinsame Kind unterstützen werden müssen. Damit endet die autobiografische Erzählung der jungen Adriana.
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Rezeption
Die Geschichte des Straßenmädchens Adriana fand nach seiner Veröffentlichung in den Jahren nach dem Sturz der faschistischen Diktatur in Italien viel Beachtung. Es ist anzunehmen, dass Moravias zur damaligen Zeit sehr freizügigen Darstellungen ihren Teil dazu beitrugen. Aus heutiger Sicht bietet der Roman keine skandalträchtigen Inhalte mehr. Auch nach der Neuübersetzung durch Michael von Killisch-Horn im Jahr 2003 hielt sich das Interesse des Lesepublikums in Grenzen.
Moravia ist kein gefragter Autor mehr, auch wenn ich dies sehr bedauere. Die Römerin ist ein Paradebeispiel für seine liberale Kritik an der italienischen Gesellschaft. Auch wenn dem Text auf weite Strecken die Teilnahmslosigkeit und Lethargie der Hauptpersonen fehlen, die Moravias Welterfolge auszeichnen. Wahrscheinlich macht aber genau die Leichtigkeit der Geschichte den besonderen Reiz des Romans aus.
Im Jahr 1954 wurde die Geschichte der Adriana unter dem Titel Die freudlose Straße verfilmt. Regie führte damals Luigi Zampa, die Hauptrolle spielte Gina Lollobrigida.
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Diese Buchbesprechung ist Teil meiner Retrospektive im Sommer 2022. Wem sie gefallen hat, wird vielleicht auch meine anderen Rezensionen zu Alberto Moravias Romanen lesen wollen.
Fazit:
Mitte des vergangenen Jahrhunderts gehörten Alberto Moravias Romane zu den kulturellen Highlights und zu den gesellschaftlichen Aufregern gleichermaßen. Die Römerin ist sicher eine der spannenderen Geschichten, die uns der italienische Großmeister hinterlassen hat. Ich halte die Erzählung des Straßenmädchens Adriana für zeitlos und auch heute noch für unbedingt lesenswert.
Deshalb bekommt die Geschichte drei starke der möglichen fünf Sterne zugesprochen.
Alberto Moravia: Die Römerin
Verlag Kremayr & Scheriau, 1975
(Erstausgabe: Verlag Kurt Desch, 1950)
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Fußnoten:
*) André Müller, Playboy September 1980: Interview mit Alberto Moravia
**) Shirin Sojitravalla, Die Römerin, Deutschlandfunk 2003