La Noia ist der zwölfte Roman des italienischen Nationalschriftstellers Alberto Moravia. Darin lernen wir den frustrierten Intellektuellen Dino kennen, Sohn aus reichem Hause und gescheiterten Maler. Dieser Dino verfällt einem jungen Mädchen, Cecilia. Aus der Bekanntschaft der beiden entwickelt sich eine beklemmende Hörigkeit, aus der Dino immer wieder auszubrechen versucht. Wie fast alle Romane Moravias erregte auch La Noia Mitte des vergangenen Jahrhunderts wegen seiner sexuellen Freizügigkeit Aufsehen. Im Jahr 1961 musste sich der Autor wegen einer Pornografieklage vor Gericht verantworten.
Auch diesmal scheint das Romanpersonal komplett aus früheren Erzählungen Moravias entsprungen zu sein. Da haben wir zum einen eine reiche Witwe und ihren Sohn, ein Einzelkind. Die beiden könnten ohne Frage die chronologische Fortsetzung aus der Geschichte um Agostino bilden. Zum anderen gleicht das siebzehnjährige Aktmodell Cecilia der Figur der Adriana aus Die Römerin, zumindest was das Setting betrifft. Ebenso heiter, unbeschwert und lebenslustig wie Adriana ist Cecilia allerdings nicht.
Zum Hintergrund
Es ist auffällig, dass Alberto Moravia seine Hauptfiguren gerne als vaterlose Halbwaisen auftreten lässt. Wie gesagt wuchs schon Agostino ohne seinen Vater auf. Die Römerin Adriana verbrachte ihr Leben mit ihrer Mutter, einer verarmten Bahnbeamtenwitwe. Der Vater des Konformisten lebte zwar, allerdings dem Wahnsinn verfallen in der Psychiatrie. Und nun begegnen wir Dino, dessen Vater ein rastloser Reisender war, der es nie lange bei seiner Frau aushielt und schließlich während eines seiner Aufenthalte in weiter Ferne bei einem Unfall starb. Ebenfalls auffällig ist, dass männliche Protagonisten stets steinreiche Mütter hatten und sich um Geld keine Sorgen zu machen brauchten.
Woher diese Familienkonstellationen in Moravias Romanen stammen, ist nicht erklärlich. Autobiografisch sind sie jedenfalls kaum. Denn Alberto Moravia, dessen bürgerlicher Nachname Pincherle lautete, wuchs in einer wohlhabenden römischen Familie neben zwei Schwestern und einem Bruder auf. Albertos Vater war erfolgreicher Architekt und Maler, der erst spät, im Alter von 81 Jahren, verstarb, als Alberto selbst bereits Mitte Dreißig war.
Über die Romangeschichte
Aber zumindest den Maler haben wir hier wiedergefunden. Nicht nur der Vater Moravias, auch seine Romanfigur Dino ist Maler. Die Erzählung setzt genau in dem Moment ein, als Dino beschließt, die eigene Talentlosigkeit anzuerkennen und den künstlerischen Beruf an den Nagel zu hängen. Die Malerei war ohnehin nur eine Idee gewesen, sich womöglich von einem Zustand zu befreien, in dem Dino sich befindet, seit er sich erinnern kann: Er ist befallen von einer unerklärlichen dauerhaften Langeweile, eines Überdrusses, einer Beziehungslosigkeit zu allem, was ihn umgibt – von La Noia.
Für mich war die Langeweile eine Art Nebel, in dem mein Denken sich unablässig verirrte und nur zeitweise irgendeine Einzelheit der Wirklichkeit erkannte. Ich glich einem Menschen, der in dichtem Nebel bald eine Häuserecke, bald die Gestalt eines Passanten, bald irgendetwas anderes wahrnimmt, das gleich darauf wieder verschwunden ist.
(Seite 77 f.)
Den Umgang mit seiner überaus begüterten Mutter (verab)scheut Dino. Kurz nachdem er ein weiteres Mal aus deren Villa geflohen ist, macht er in seinem Atelier die Bekanntschaft eines jungen Mädchens. Cecilia war Aktmodell seines Nachbarn, eines älteren Malers, der gerade verstorben war. (Die Nachbarschaft munkelt, der Maler sei während des Liebesaktes mit Cecilia dahingerafft worden.)
Das Liebespaar
Zwischen Cecilia und Dino entwickelt sich ein Beziehung. Liebe kann man es nicht nennen, was zwischen den beiden entsteht. Denn Dino kann auch in den intimen Stunden mit dem Mädchen keine wahrhaftige Beziehung aufbauen, auch wenn sie täglich in seinem Atelier Geschlechtsverkehr haben. Sie langweilt ihn ebenso wie alles andere in seinem Leben. Und auch Cecilia scheint keine echten Gefühle für ihren neuen Liebhaber zu haben. Sie bleibt schweigsam und unnahbar. Offenbar ist sie lediglich an ihrer eigenen Erfüllung während des Sexualaktes mit Dino interessiert.
Doch gerade als sich Dino von Cecilia trennen will, geschieht etwas Eigenartiges. Das Mädchen beginnt eine Affaire mit einem anderen Mann. Dadurch verwandelt sich Cecilia für Dino „aus einem unwirklichen, langweiligen Wesen in ein wirkliches und begehrenswertes“ (Seite 192). Und schon ist der Nebel der Noia weggepustet – wie durch eine frische Meeresbrise.
Krise
Zwischen Eifersucht und Besitzanspruch schwankend versucht Dino, Cecilia zu seinem Eigentum zu machen, indem er ihr wie einer Prostituierten Geld zusteckt. Der Leserschaft erklärt er, er wolle das Mädchen in Besitz nehmen, um ihrer danach endlich überdrüssig zu werden; so wie er stets all seiner Besitztümer überdrüssig wurde. Doch der Versuch scheitert. Cecilia nimmt zwar das Geld, lässt sich aber nicht vereinnahmen.
Da nimmt ein geradezu abwegig anmutender Gedanke in Dinos verzweifelten Überlegungen Gestalt an. Er macht Cecilia einen Heiratsantrag. Und in diesem Zusammenhang entsteht dieser eine Romansatz in Dinos Kopf, der in fast allen Rezensionen zitiert wird; auch wenn der Satz in der Erzählung nur gedacht und gar nicht ausgesprochen wird:
„Langeweile ist die Unterbrechung jeglicher Beziehung. Und ich will dich heiraten, damit du mir langweilig wirst, damit ich nicht mehr leide, damit ich dich nicht mehr liebe – mit anderen Worten, damit du für mich nicht mehr existierst.“
(Seite 341)
Doch Cecilia lehnt ab. Enttäuscht und wütend bringt Dino das Mädchen um ein Haar um, kehrt Zorn und Hilflosigkeit schließlich gegen sich selbst und überlebt nur knapp einen Autounfall, als er seinen Wagen gegen einen Baum lenkt.
Immer diese Langeweile!
Alberto Moravia lässt seine Hauptfigur Dino diese ganz besondere Form der Langeweile geradezu exzessartig ausleben und beschreiben. Das ist keine vorübergehende Langeweile, das ist Lebensüberdruss und vollkommene Abschottung von seinem Lebensumfeld. Auch eine gehörige Portion Selbstverachtung kommt hinzu. Schließlich will sich Dino von seiner steinreichen Mutter und deren Gesellschaft abgrenzen. Doch dies gelingt ihm nicht und er muss sich zähneknirschen zu seiner Rolle als obszön Reicher, der doch viel lieber arm wäre, bekennen.
Das ist eben diese Noia, die der Desch-Verlag im Titel unübersetzt aus dem Italienischen übernommen hat. Vielleicht gerade um das Außergewöhnliche dieser Form der Langeweile zu betonen: Langeweile nicht als Zustand sondern als Lebenskonzept. – Nicht umsonst befindet sich Moravia in der zeitgenössischen Gesellschaft bedeutender Vertreter des Existenzialismus wie Sartre, Camus oder de Beauvoir.
Als Leser¦in muss man schon ein gewisses Durchhaltevermögen mitbringen. Der Autor lässt seinen Protagonisten dieses abgelöste Lebensgefühl in aller Breite ausführen. Allerdings hilft dabei ungemein die plastische Ausdrucksweise Moravias, mit der er uns auch Durststrecken überwinden lässt.
Über den Pornografievorwurf
Zur Zeit der Veröffentlichung seiner Romane handelte sich Alberto Moravia jede Menge Ärger mit den Institutionen ein. Sowohl der italienische Staat als auch die katholische Kirche bekämpften sein Werk vehement. Wie bereits angemerkt, wurde der Autor auch wegen Pornografie in La Noia angeklagt.
Wenn man seine Romane heute liest, bleibt von solchen Vorwürfen rein gar nichts mehr übrig. Im Vergleich zu deutlich später erschienenen Texten, die durchaus literarischen Anspruch haben, etwa Das sexuelle Leben der Catherine M., lesen sich die angeblich pornografischen Passagen Moravias geradezu rührend unschuldig. Es stimmt, er schreibt über die Tatsache des Stattfindens von Sexualakten. Doch es fehlen jegliche Detailbeschreibungen erotischer Art, an die wir uns spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts gewöhnt haben. (Und schließlich locken selbst die keine Maus mehr hinter dem Ofen hervor.)
Wer sich also explizite, schockierende oder gar erregende Darstellungen erwartet, die oder der wird von der Lektüre des Romans enttäuscht sein. Interessant ist allerdings die Beobachtung dessen, was vor sechzig Jahren noch als Tabuthema galt und heutzutage längst gang und gäbe ist.
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Der Roman wurde im Jahr 1963 unter der Regie von Damiano Damiani verfilmt. Hauptdarsteller waren Horst Buchholz (damals dreißig) als Dino, Bette Davis (damals fünfundfünfzig) als dessen Mutter und Catherine Spaak als Cecilia.
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Diese Buchbesprechung ist Teil meiner Retrospektive im Sommer 2022. Wem sie gefallen hat, wird vielleicht auch meine anderen Rezensionen zu Alberto Moravias Romanen lesen wollen.
Fazit:
Wer sich für das Romanwerk Alberto Moravias interessiert, kommt an La Noia nicht vorbei. Doch man bereite sich bitte unbedingt darauf vor, kaum wirkliche Handlung vorzufinden. In den bislang von mir besprochenen Geschichten des Autors geschah tatsächlich immer etwas, die Romanfiguren agierten. Hier ereignet sich nun so gut wie nichts, wenn man vom Einstieg über den Tod des Nachbarn absieht und vom Romanende mit dem Autounfall. Was dazwischen geschieht, sind Pseudogeschehnisse, die rein überhaupt nichts zu einer Entwicklung der Geschichte beitragen.
Das muss man mögen. Aber weil mich die brillante Formulierkunst von Meister Moravia wunderbar durch diesen Text getragen hat, vergebe ich mit Freuden wenigstens drei der fünf möglichen Sterne an die Langeweile.
Alberto Moravia: La Noia
Verlag Kurt Desch, 1961
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