Inzest

Alberto Moravia, Inzest, 1965
Alberto Moravia, 1965

Vier Jahre nach sei­nem letz­ten Skan­dal­ro­man, La Noia, kon­fron­tier­te uns Al­ber­to Mo­ra­via mit einer Ta­ge­buch­er­zäh­lung, de­ren deut­scher Ti­tel Inzest end­gül­tig die Wo­gen der Em­pö­rung über dem ita­lie­ni­schen Schrift­stel­ler zu­sam­men­schla­gen las­sen hät­te kön­nen: Der gut­si­tu­ier­te Fran­ces­co ver­liert da­rin die Lust an sei­ner fa­den Ehe­frau Co­ra und wen­det sich an­stel­le ih­rer Ga­bri­el­la zu, der her­an­wach­sen­den Toch­ter sei­ner Frau. – In­zest? Ein Ta­bu­the­ma, das nach Pa­ra­graf 173 des deut­schen Straf­ge­setz­bu­ches da­mals wie auch heu­te noch straf­bar ist. Doch Ge­mach, lie­be(r) Le­se­r¦in, we­der ist Ga­bri­el­la leib­li­che Toch­ter Fran­ces­cos, noch traut sich der Mann, tat­säch­lich über­grif­fig zu wer­den. Die Ge­schich­te han­delt also von einem Ge­dan­ken­ex­pe­ri­ment eines frus­trier­ten Mitt­vier­zi­gers.

Auf die Idee, den ita­lie­ni­schen Ori­gi­nal­ti­tel L’atten­zio­ne – al­so die „Auf­merk­sam­keit“ oder „Hin­wen­dung“ – un­ver­blümt mit „In­zest“ ins Deut­sche zu über­set­zen, konn­te nur ein Ver­le­ger kom­men, der sei­ne Ver­kaufs­zah­len in die Hö­he trei­ben woll­te. Ob das da­mals vor sech­zig Jah­ren funk­tio­niert hat, weiß ich nicht. Heu­te je­den­falls ist Inzest aus deut­schen Ver­lags­pro­gram­men ver­schwun­den. Wen­den wir uns al­so ein­mal oh­ne Vor­ver­ur­tei­lung dem Ta­ge­buch Fran­ces­cos zu.

Inzest – Das Tagebuch

Da haben wir es wie­der, Alberto Mora­vias Stan­dard­mo­tiv: Mann (mit Geld) hei­ra­tet Frau (ohne Geld). So war das schon beim Kon­for­mis­ten, als Mar­cello seine betu­liche Giu­lia ehe­lichte; eben­falls aus sozial­roman­ti­schen Grün­den. Oder beim Hei­rats­an­trag Dinos an Ceci­lia in La Noia, der sich damit ledig­lich von sei­ner gefähr­li­chen Lei­den­schaft für sein Mäd­chen befreien wollte. Oder bei Die Röme­rin, wo sich Mino an Adri­ana zu bin­den anschickte, ohne es je wirk­lich zu wol­len. Und nun ist es also die­ser Fran­cesco, der die ein­fa­che Nähe­rin Cora hei­ra­tet, weil er „das Volk als ein­zi­gen Bewah­rer des Ech­ten“ (Seite 9) betrach­tete. In den ande­ren Roma­nen Mora­vias enden sol­che Bezie­hun­gen durch äußere Ein­wir­kung, bevor sie schei­tern kön­nen. Aber in Inzest beginnt die Ge­schich­te eben genau damit: mit dem Schei­tern einer schlecht über­leg­ten Ehe:

Ver­hei­ra­tet mit einer Frau, die älter war als ich, doch mir nun eine Fremde; unter einem Dach mit einem Mäd­chen, das nicht meine Toch­ter war; ohne Zu­trauen zu den Din­gen die mir wich­tig erschie­nen waren.
(Seite 16)

Substitute

Cora und Fran­ces­co Merighi arran­gie­ren sich. Sie blei­ben in der gemein­sa­men Woh­nung, aller­dings getrennt lebend. Fran­ces­co betäubt sich zunächst mit jun­gen Pro­stitu­ier­ten, bevor er als Rei­sebe­richt­erstat­ter zu arbei­ten beginnt und sich von da an – über gut ein Jahr­zehnt hin­weg – über­wie­gend in fer­nen Län­dern auf­hält.

Als der Mann eines Tages wie­der ein­mal nach Rom zurück­kehrt, erfährt er aus einem ano­ny­men Brief, dass seine Frau eine Kupp­le­rin ist und sechs Jahre zuvor sogar die eigene Toch­ter Män­nern zuzu­füh­ren ver­sucht hatte. Fran­cesco spricht seine Stief­toch­ter darauf an, und das junge Mäd­chen bestä­tigt den Vor­wurf. Von da an ist nichts mehr wie zuvor.

Wir befin­den uns jetzt Anfang der Sech­ziger­jahre, also sozu­sa­gen in Echt­zeit zur Ent­ste­hungs­zeit des Romans. Mitt­ler­weile ist Gabri­ella, die im Roman stets mit ihrem Spitz­na­men Baba ange­spro­chen wird, zwan­zig Jahre alt. Schon bei ihrer ers­ten Begeg­nung nach zehn Jah­ren Ent­frem­dung ent­gleist Fran­cesco, zumin­dest in sei­nen Gedan­ken:

Wäre nicht der Gedanke oder, genauer gesagt, das Wort „Inzest“ gewe­sen, ich hätte Baba nicht begehrt. […] Meine Be­gier­de hatte sich an einem Wort ent­zün­det, war daher von Grund auf ver­fälscht, beson­ders wenn man bedachte, daß Baba und ich nicht wirk­lich Vater und Toch­ter waren.
(Seite 55)

Das lange Warten

Und so war­ten wir also, die gespannte Leser­schaft, was denn nun gesche­hen mag auf den immer­hin 210 Buch­sei­ten, die nach die­ser Szene noch vor uns lie­gen. Wir blät­tern von Seite zu Seite und war­ten, dass Fran­cesco end­lich diesen Pseu­do­in­zest Wirk­lich­keit wer­den las­sen möge. Oder aber sich von sei­ner ver­wirr­ten Lei­den­schaft lösen möge. – Wir sind lang­müti­ger als Becketts Vaga­bun­den Wla­di­mir und Estra­gon, die ver­ge­bens auf ihren Godot war­te­ten.

Aber das ist eben Mora­via. Er erzählt von den Mög­lich­kei­ten, von Ver­wir­rung, von Rück­zugs­gefech­ten; ohne auf die Span­nung im Pub­li­kum Rück­sicht zu neh­men. Fran­cesco spricht von dem „ver­wor­ren dump­fen Gefühl für Baba“, das ihn beherrscht. Er liest im König Ödi­pus. Er hallu­zi­niert davon, Cora die Kupp­le­rin könne ihm ihre Toch­ter Baba anbie­ten. Schließ­lich stei­gert er sich in eine Fan­tasie­szene hin­ein, in der er Baba ent­klei­det.

Fran­cesco nimmt uns auch mit auf Aus­flüge: ins Tier­heim, wo er für Baba einen Hund kauft; in Coras Puff, wo er Dir­nen und Freier belauscht. Und immer, immer wie­der erin­nert er uns daran, dass er ja eigent­lich einen Roman schrei­ben wollte, der wie ein Damo­kles­schwert über den Mög­lich­kei­ten und Unmög­lich­kei­ten einer Bezie­hung zu sei­ner Stief­toch­ter schwebt. Einen Roman, den er uner­klär­ter­weise nicht mehr schrei­ben könne, wenn er Baba zu sei­ner Gelieb­ten machte. Aber wir sind ja gedul­dige Lese­r¦in­nen und wäl­zen wei­ter und immer noch wei­ter.

Am Ende dann doch noch?

Nein, die Bezie­hung zwi­schen Baba und Fran­cesco kommt nicht voran. Nur ein­mal spricht das Mäd­chen offen aus, wie es über die Begehr­lich­keit ihres Stief­va­ters denkt:

„Man soll schla­fende Frauen nicht anschauen. Das ist gefähr­lich“ […] „Zwi­schen uns – das spüre ich seit lan­gem – ist eine Aus­spra­che fäl­lig. Also gut, ich geb’s zu, du gefällst mir, und auch ich scheine dir nicht zu miß­fal­len. Schön. Aber wir sind nun ein­mal Vater und Toch­ter, und so soll es auch blei­ben, unbe­dingt. Ver­ste­hen wir uns?“
(Seite 203 f.)

Zwar kommt es dann auf Ini­tia­tive Babas hin auf Seite 258 tat­säch­lich zu einem inti­men Kuss in einem dunk­len Trep­pen­haus. Doch der nimmt ein jähes Ende und fin­det auch spä­ter kei­ne Fort­set­zung. – Ohne­hin ist in die­sem Tage­buch nie zwei­fels­frei klar, was tat­säch­lich geschieht, was womög­lich Traum ist, oder was der Autor Fran­cesco selbst im Nach­hin­ein als Erfin­dung klas­sifi­ziert.

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Inzest – Eigenheiten

Dass Mora­via sein Roman­per­so­nal gerne mit bewähr­ten Bio­gra­fien aus­stat­tet, darauf habe ich hier schon oben im drit­ten Absatz hin­gewie­sen. Doch das Fai­ble des Autors, öfter auf den glei­chen Men­schen­ty­pus zurück­zugrei­fen, gilt auch für seine Sprach­bil­der.

In La Noia etwa lässt er Dino über seine Idee, Ceci­lia hei­ra­ten zu wol­len, auch wenn er sie gar nicht liebte, sagen: „Das war, als ste­cke man sein Haus in Brand, um sich eine Ziga­rette anzu­zün­den.“ (La Noia, Seite 323)
In Inzest ver­wendet Fran­cesco seine Ent­schei­dung, gegen seine eigene poli­ti­sche Über­zeu­gung für eine kon­ser­va­tive Zei­tung zu schrei­ben, das glei­che auf­fäl­lige Sprach­bild: „[Das] machte mich jenem Mann ver­gleich­bar, der seine Woh­nung in Brand steckt, um eine Ziga­rette anzu­zün­den.“ (Inzest, Seite 6)

Eine wei­tere Beson­der­heit vie­ler, wenn nicht aller Roman­ge­schich­ten Mora­vias besteht in sei­nem Hang zur obs­zes­si­ven Befra­gung durch den Pro­tago­nis­ten. In mei­nen bis­heri­gen Bespre­chun­gen habe ich diese Beob­ach­tung noch nicht erwähnt. Doch detek­ti­visch anmu­tende Ver­hör­sze­nen sind feste Bestand­teile sei­ner Romane. So unter­zieht auch Fran­cesco vor allem seine Ehe­frau und die Stief­toch­ter viele Buch­sei­ten fül­lende Befra­gun­gen.

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Diese Buch­bespre­chung ist Teil mei­ner Retro­spek­tive im Som­mer 2022. Wem sie gefal­len hat, wird viel­leicht auch meine ande­ren Rezen­sio­nen zu Alberto Mora­vias Roma­nen lesen wol­len.

Fazit:

Mit Inzest hat Alberto Mora­via eine merk­wür­dige Erzäh­lung abge­lie­fert. Der Pro­tago­nist Fran­cesco wollte einen Roman über sein Leben schrei­ben und führte des­halb Tage­buch. Die­ses Tage­buch füllte er mit der Ge­schich­te sei­nes Begeh­rens nach der Stief­toch­ter. Diese Ge­schich­te ent­zün­dete sich im Wesent­li­chen in Fran­cescos Gedan­ken und Träu­men. Und so spielte sich in sei­nen Tage­buch­ein­trä­gen tat­säch­lich nichts ab. Zuletzt erklärt Fran­cesco zwar sein Roman­pro­jekt für geschei­tert, ent­schließt sich aller­dings, das Tage­buch direkt zu ver­öffent­li­chen. Natür­lich nicht, ohne uns, sei­ner Leser­schaft, mit­zutei­len, dass „es mög­lich ist, neben roman­haf­ten Roma­nen auch sol­che Romane zu schrei­ben, in deren Ver­lauf nichts geschieht“ (Seite 307).

Wer sich Skan­dalö­ses erhofft hat von Inzest, Tabu­lo­ses, gar Straf­ba­res und gesell­schaft­lich Ver­fem­tes, wird ganz sicher ent­täuscht. Es han­delt sich mit­nich­ten um eine ita­lie­ni­sche Ver­sion von Vla­di­mir Nabo­kovs Lolita, die nur fünf Jahre zuvor erschie­nen war. Nur wenn eine(r) wil­lens ist, sich in die Kon­flikt­stürme die­ses Fran­cesco hinein­zuden­ken und sich mit sei­ner Art der Bewäl­ti­gung durch Erfin­dun­gen auf rea­ler und auf Traum­ebene aus­ein­ander­zuset­zen, die oder der wird Mora­vias Ge­schich­te mögen.

Meine Ent­scheidung ist sehr, sehr knapp aus­gefal­len. Inzest bekommt mit Ach und Krach gerade mal noch drei der fünf mög­li­chen Sterne. Haupt­säch­lich des­halb, weil es dem Autor dank sei­nes plas­ti­schen Stils ein wei­te­res Mal geglückt ist, mich ohne Hän­ger durch eine Ge­schich­te zu tra­gen, deren „Hand­lung“ mich längst hätte auf­ge­ben las­sen.

Alberto Moravia: Inzest
Verlag Kurt Desch, 1966

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