Literaturskandal um eine heute 53-jährige französische Autorin: Catherine Millets Buch, das in der deutschen Übersetzung immerhin 284 Seiten umfasst, enthält in der Hauptsache unverblümte und detallierte Beschreibungen sexueller Spielarten. Was der Titel verspricht, hält der Inhalt: eine Autobiografie, die auf den sexuellen Anteil des Lebens der Autorin eingeschränkt bleibt.
Als Millets Buch in Frankreich erschien, gingen täglich bis zu 5.000 Exemplare über die Ladentische. Die Franzosen – und später auch Leser einer der Übersetzungen in mittlerweile fünfundzwanzig Sprachen – beschäftigten sich mit der Frage: Wie kommt eine freundliche, zurückhaltende, fast schüchtern wirkende Frau von über fünfzig Jahren dazu, ihr ungewöhnlich ausuferndes, unersättliches Sexualleben in epischer Breite vor dem Leserpublikum auszurollen.
Catherine Millet ist Gründerin und Chefredakteurin der Avantgarde-Zeitschrift art press. 1981 war sie französische Kuratorin bei der Biennale in Venedig, ein bisschen also eine Figur des öffentlichen Lebens. Von der Autorin Millet stammt auch ein Werk über Zeitgenössische Kunst. Dieses Werk ist ebenfalls im Jahr 2001 im Lübbe Verlag erschienen, hat jedoch nicht annähernd so viel Resonanz erfahren wie Das sexuelle Leben der Catherine M.
Inhaltsübersicht
Über den Aufbau des autobiographischen Werks gibt es nur wenig zu berichten. Das liegt daran, dass eine klassische Handlung vollständig fehlt. Es gibt weder Aufbau und Auflösung von Konflikten noch persönliche, gesellschaftliche oder sonstige Entwicklungen. Statt dessen beschreibt die Autorin Millet ihr Sexualleben in einzelnen Szenen, die allesamt Wiederholungen, Variationen, Konkretisierung oder Erweiterungen darstellen. Als strukturellen Überbau zu den Momentaufnahmen könnte man Millets komplexe Ansätze der Selbstanalyse ansehen. Wie ein Hintergrundbild durchbrechen diese immer wieder die Handlung, werden später erneut aufgenommen.
Strukturelle Betrachtung
Die Autobiographie ist in vier Teile gegliedert, die Catherine Millets Sexualleben aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Im ersten Teil, der mit Die Zahl überschrieben ist, widmet sich die Autorin einer mengenmäßigen Betrachtung. Um keine falschen Erwartungen zu wecken: Es geht nicht um eine Aufzählung aller Sexualpartner, sondern um Millets Faszination von Mengen und zahlenmäßiger Größe. Bereits als Kind hatte sie sich mit der Fragestellung beschäftigt, wie viele Männer eine Frau haben könne. Diese damals theoretischen, in keiner Weise sexuell gefärbten Überlegungen übertrug sie ab dem Alter von 18 Jahren auf ihre Sexualpraktiken. Im ersten Teil findet sich folgerichtig auch Millets Faszination vom Gruppensex wieder.
Der Raum lautet die Überschrift des zweiten Teils. In den Kapiteln dieses Abschnitts schreibt die Autorin über den Einfluss, den Freiräume, Landschaften und die Bewegung im Freien auf ihr sexuelles Leben hatte. Im dritten Teil, Der geschlossene Raum, gilt die Betrachtung bestimmten Örtlichkeiten, Zimmern und Häusern, innerhalb derer sich Millets Sexualleben abspielte.
Der vierte Teil ist mit Details überschrieben. Die Reflexionen dieses letzten Abschnitts beschäftigen sich mit bildhaften Eindrücken, die Millet während ihrer Praktiken erfuhr. Sie beschreibt, was sie sah oder zu sehen glaubte. Sie erwähnt, was auf Videoaufnahmen zu sehen ist, die von ihren sexuellen Begegnungen aufgezeichnet wurden.
In allen vier Teilen kommt die Autorin immer wieder auf Szenen zurück, die bereits vorher unter anderen Gesichtspunkten erzählt worden waren, oder referenziert auf spätere Schilderungen zum gleichen Thema. Immer wieder präzisiert Millet, wie sie bestimmte sexuelle Aspekte erlebte und empfand.
Pornografie oder forensische Präzision?
Die Formulierungen Catherine Millets sind teilweise drastisch. Sie wirken schockierend und manchmal vulgär. Sie schläft nicht etwa bei, sondern sie bumst, vögelt und fickt. Aber die schonungslose Art und Weise der Autorin, teilnahmslos, wie aus der Perspektive einer äußerst gelassenen Beobachterin, nicht einer Teilnehmenden, darüber zu schreiben, was sie in ihrem Leben alles mit Schwänzen, Mösen und Ärschen getrieben hat, entkräftet den Vorwurf, es handle sich bei ihrem Buch um Pornographie.
Tatsächlich enthalten Millets Berichte nicht das geringste Quentchen Leidenschaft, Rausch oder Ekstase, Erotik, Verführung oder Hingabe. Es fehlt selbst der Anschein derartiger Assoziationen, ohne den Pornographie nicht auskäme. Erzählt wird von der Funktionalität der Körper, der Mechanik von Geschlechtsorganen und den psychischen Effekten, die bei deren Einsatz hervorgerufen werden. Die Autorin sagte dazu: „Ich versuche mit äußerster Präzision, die Gesten und Körperregungen zu beschreiben, die während des Liebesakts passieren.“
Catherine Millet seziert mit einer minutiösen, akribischen, ja chirurgischen Präzision den Sexualakt. Sie analysiert ihre sexuellen Praktiken und sie analysiert die Gedanken, die sie dabei hatte. Absichtlich wähle ich den Begriff „Gedanken“, da mir das Wort „Gefühle“ und die damit verbundenen Gefühlszustände, Gefühlswelten, Emotionen zu weit gingen. Millet fühlt rein mechanisch.
Und sie schreibt dazu eine emotionslose Bestandsaufnahme. Dass zu einer solchen Bestandsaufnahme auch die Schilderung des Vergnügens gehört, das die Autorin bei ihren Exzessen empfindet, ist konsequent. Trotzdem beschreibt sie ihre eigene Erregung so kühl, als ob es sich um die Aufzeichnungen eines Elektroenzephalogramms handelte. Die Präzision der Beschreibungen wird so konsequent durchgezogen, dass der Text machmal monoton wirkt.
Bewertung
Diese Monotonie dient bei anderen Rezensenten des Buchs als Ansatzpunkt für negative Kritik. Sich zu konzentrieren, den Willen weiterzulesen beizubehalten, würde wahrscheinlich jedem Leser früher oder später schwer fallen, hieß es da. Der Anschein jedoch trügt. Tatsächlich ist die Monotonie Folge von Millets Anspruch, nichts auszulassen. Kein Detail entgeht ihrer scharfen Beobachtungsgabe. Immer wieder bringt sie ergänzende Gedanken zu bereits Geschriebenem zur Kenntnis des Lesers. Die Monotonie ist kein Fehler der Autorin, sondern entspricht dem Ziel ihres Textes.
Catherine Millet erweckt zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, sie habe ihr Liebesleben als ganz besonders außergewöhnlich, sich selbst etwa als unersättlich, nymphoman oder krank empfunden. Einen Schlüsselsatz zu ihrer Selbsteinschätzung findet der Leser bereits auf Seite 34:
Ich war völlig verfügbar. In der Liebe wie im Berufsleben hatte ich kein Ideal, das ich erreichen wollte, man definierte mich als eine Person ohne Tabu, ohne jegliche Hemmungen, und ich hatte keinen Grund, diese Rolle nicht anzunehmen.
Sie war verfügbar, nicht mehr und nicht weniger. – Es gibt keine befreiende Beichte, keine Geständnisse, oder andererseits gar den Hinweis auf Stolz auf ihre Lebensweise. Die Autorin selbst nennt ihr Buch in einem 3sat-Chat schlicht „ein Zeugnis, weil es die Wahrheit sagt“.
Rezeption
Als Bemerkung am Rande möchte ich noch einen Gedanken ansprechen, der nicht nur mich, sondern offenbar auch andere Leser während der Lektüre bewegte. Das Thema der gesundheitlichen Problematik, speziell die Gefahr von AIDS, wird von Millet nicht angesprochen. Einzig zu Anfang des Buches nennt sie das Brennen des Trippers „ein gemeinsames Erkennungszeichen, das gemeinsame Schicksal all jener, die eben viel vögeln“ (Seite 18). Das fehlende Bewusstsein um eine gesundheitliche Gefährdung, deren faktisches Ausblenden sind symptomatisch für die Zeit der sexuellen Revolution der Generation der 68er, zu der die Autorin gehört.
„Dieses Buch wird ein Klassiker der französischen erotischen Literatur“, urteilte Kritikerpapst Bernard Pivot. Dieser Meinung kann ich mich nicht kommentarlos anschließen. Denn mit Erotik hat Das sexuelle Leben der Catherine M. überhaupt nichts zu tun. Millet schreibt zwar über Sex. Der Gewinn, den man aus der Lektüre ziehen sollte, besteht aber keinesfalls im Kennenlernen neuer, kamasutraartiger Praktiken, sondern in der Erkenntnis der Freiheit, mit der ein Mensch über ein Tabuthema reflektieren kann.
Die eigentliche Botschaft an den Leser besteht darin, dass es keine bad words, keine don’t-s gibt. Dass nämlich solche nur als gesellschaftliche Vorgaben existieren, die sich der Mensch wissentlich oder unbewusst zu eigen macht. Wenn jemand wie Catherine Millet so unprätentiös und beherrscht über seine sexuellen Erfahrungen schreiben kann, dann ist er (oder sie) tatsächlich frei von allen inneren und äußeren Zwängen.
Es mag schwer fallen zu akzeptieren, dass jemand derartig kaltblütig sein sollte, gesellschaftliche und soziale Konsequenzen seiner Publikation vollkommen außer Acht zu lassen. Aber man oder frau könnte durchaus einmal in sich hineinhorchen und sich gegebenenfalls an Frau Millets Offenheit anderen, vor allen Dingen aber sich selbst gegenüber orientieren.
Fazit:
Das Werk ist fraglos nicht geeignet für Leser, die offen sexuelles Vokabular verabscheuen. Auch Menschen, die den Geschlechtsverkehr als Tabu begreifen, werden wenig Freude an dem Buch haben. Ebenso wenig aber spricht Catherine Millet diejenigen an, die erotische Literatur, Animierndes, Erregendes suchen. – Wer hingegen bereit ist, eine Erfahrung in einem absoluten Grenzgebiet gesellschaftlicher Akzeptanz zu machen, dem sei Das sexuelle Leben der Catherine M. ganz ausdrücklich empfohlen. Vier Sterne von fünf möglichen für dieses persönliche Zeugnis sind keinesfalls übertrieben.
Catherine Millet: Das sexuelle Leben der Catherine M.
Goldmann Verlag, 2001
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