
Jeffrey Eugenides, Amerikaner mit griechischen Wurzeln, hat eine ebenso wunderbare wie wunderliche Familienchronik mit dem Titel Middlesex abgeliefert. Um die Figur des Hermaphroditen Cal (geborene Calliope) Stephanides – Erzähler und Protagonist – spinnt der Autor eine Tragikomödie. Facettenreich schildert er die genetischen Folgen von Inzest und erzählt die Geschichte einer amerikanischen Einwandererfamilie aus Griechenland über drei Generationen hinweg. Außerdem beleuchtet er historische Details aus dem zwanzigsten Jahrhundert – beginnend mit dem Exodus der Griechen von heute türkischem Gebiet, bis zu Ereignissen der jüngeren amerikanischen Geschichte.
Der Autor Jeffrey Eugenides wurde im Jahr 1960 in Amerika, Detroit, geboren. Heute lebt er mit Frau und Tochter in Berlin, wohin es ihn durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes verschlug. Das selbst gewählte Exil führt der Schriftsteller als Erfolgsfaktor für Middlesex an. Erst in Deutschland fand er die Muße, den Roman zu schreiben, für den er insgesamt neun Jahre Zeit aufwandte. Väterlicherseits ist Eugenides griechischer Abstammung, von Seiten der Mutter hat er britische Vorfahren. Middlesex ist nach den Selbstmordschwestern sein zweiter Roman und wurde im Jahr 2003 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Zur Handlung
Das Buch gibt Abschnitte aus dem Leben dreier Generationen der Familie Stephanides wieder. 1922 verlassen die Geschwister Desdemona und Eleutherios Smyrna – heute Izmir. Türkische Truppen setzten zum Angriff auf die kleinasiatische Stadt an. Auf dem Schiff, das die beiden in die USA bringt, nutzen sie die Gelegenheit, ihr Familienverhältnis zu verschleiern. Sie heiraten sich gegenseitig. In Detroit schließt sich das Ehepaar Stephanides der Familie ihrer Cousine Sourmelina an. Eleutherios nennt sich von nun an Lefty, Sourmelina kennt als einzige die wahre Vergangenheit des Paares.
Die bereits zu diesem Zeitpunkt verstrickten Familienverhältnisse komplizieren sich in der weiteren Handlung noch einmal: Der Sohn Desdemonas und Leftys, Milton, ehelicht die Tochter Sourmelinas, seine eigene Cousine Tessi. Frucht dieser Beziehung ist Calliope. Sie wächst als Mädchen auf, stellt im Alter von vierzehn Jahren jedoch fest, dass sie genetisch ein Mann ist. In Folge einer Mutation, deren Ursache in den inzestuösen Familienverhältnissen liegt, ist Calliope ein Hermaphrodit. Der geplanten operativen Geschlechtsumwandlung zur Frau entzieht sich Calliope, um als Cal ihren eigenen Weg zu finden. Soviel sei zum Gerippe der Handlung gesagt.
Worum es geht
Erzählt wird die Geschichte von Cal(liope), der Protagonistin oder dem Protagonisten. Diese(r) berichtet grundsätzlich chronologisch aus einer Art Perspektive der Allwissenheit über die Familienhistorie. Gelegentlich werden jedoch Begebenheiten aus seinem späteren Leben eingeflochten, speziell wenn es um Folgen historischer Ereignisse geht. In Interviews weist Jeffrey Eugenides gerne darauf hin, dass ihn die Idee faszinierte, eine Ich-Erzählung aus Sicht eines Hermaphroditen zu schreiben:
„Es schien mir, als ob Schriftsteller hermaphroditische Vorstellungskraft haben müssten, da sie in der Lage sein sollten, sich in den Köpfen von Männern und Frauen einzunisten, um Bücher zu schreiben. Was wäre ein besseres Vehikel für diese Fähigkeit als ein hermaphroditischer Erzähler? […] Ich habe den Hermaphroditen nicht gewählt, um eine Geschichte über ein Monster oder eine Abnormität zu erzählen, sondern als Sinnbild der Verwirrung im Sexuellen und in Bezug auf die Identität, die jeder von uns während der Pubertät durchlebt.“
Middlesex ist ein Roman über Metamorphosen: Die Wandlung vom Geschwister- zum Ehepaar; vom Europäer zum Amerikaner; vom Mädchen zum Mann; oder – wie im Fall einer Nebenfigur – vom unerfüllten Ehemann zum Glaubensstifter. Die willkürliche Odyssee eines mutierten Gens durch Zeit und Raum.
Die Unwahrscheinlichkeit von verketteten Zufällen, das Kreisen um sich selbst, die letztliche Unabwendbarkeit der Geschehnisse; all dies macht die Geschichte zu einem literarischen Ereignis.
Einsichten
Einmal abgesehen von der Menge an Erkenntnissen, die der Leser gewinnen kann, wenn er nur mag: Das Buch ist prall gefüllt mit Randnotizen und Details, mit Charakteren und historischen Begebenheiten. Man weiß nie, wie wichtig diese im weiteren Verlauf der Geschichte noch werden. Die Sprache des Romans strotzt nur so vor Freude am Fabulieren. Allein schon der Name der Protagonistin ist ein Omen, war doch Calliope einst die Muse des Erzählens.
Eine solch ungeheure Fülle muss der Leser erst einmal verkraften können. Es mag sein, dass die eine oder der andere der ganzen Geschichte nicht mehr folgen möchte, weil sie ihm zu verwinkelt, zu unwahrscheinlich angelegt ist. Oder weil sie zu unmittelbar unterbrochen wird von Zeitsprüngen, scheinbar zu ziellos vor sich hin mäandert. Der Autor selbst entschuldigt sich bereits auf den ersten Seiten für den „homerischen Schreibstil“, dem er oft erläge.
Doch mir zumindest hat gerade dieser Stil sehr viel Spaß bereitet: diese aus der Zukunft rückwärts gerichtete Erzählwarte, die mit der Vergangenheit beginnt, aber immer wieder kurze Einblicke in spätere Folgen der Geschehnisse gewährt. Oder die gar zwischendurch wissenschaftliche Abhandlungen einschiebt, wenn es darum geht, das genetische Phänomen zu erklären, das aus Calliope Cal werden lässt.
Parallelen und Unterschiede
Wegen vergleichbarer Themen und Autoren rückt Eugenides‘ Middlesex an die Seite von Jonathan Franzens Korrekturen. Auch bei Franzen geht es um einen amerikanischen Familienroman, der sich über mehrere Generationen entwickelt. Auch bei ihm spielen physiologische Probleme einer der Hauptfiguren eine tragende Rolle. Aber trotz aller zunächst gefühlten Parallelität unterscheiden sich die Romane letztendlich enorm.
Ich möchte einmal absehen davon, dass Eugenides den Prototypus europäischer Einwanderer nach Amerika portraitiert, Franzen hingegen die prototypische Mittelschicht des Mittleren Westens. Denn vollends unterschiedlich sind die sprachlichen Bilder und Stimmungen, die beide Autoren auszeichnen. Franzen ist ein Zyniker, der sarkastisch und mit chirurgischer Präzision seine Figuren zerlegt. Eugenides hingegen schreibt nicht nur mit offenbarem Vergnügen, sondern auch mit einer Gelassenheit, die selbst tragischen Ereignissen eine komische Komponente verleiht.
Perspektive und Unerschütterlichkeit
Die Vertreibung der Griechen aus Smyrna etwa empfindet man beim Lesen kaum so dramatisch, wie sie es wohl gewesen sein muss. Aber auch das genetische Schicksal, das sich in Erlebnissen von Cal als furchtbar darstellt, schildert der Autor mit einem Augenzwinkern. Ganz so, als ob alles nur halb so schlimm sei. Mit mediterraner Gelassenheit steigen die Figuren des Romans über Abgründe hinweg, in die Franzens Charaktere mit Sicherheit hinabgestürzt wären.
Diese über sich selbst und seine eigenen Gefühle erhabene Erzählweise lässt Eugenides auch Passagen meistern, die andere Schriftsteller leicht in eine Zwickmühle gebracht hätten. So seziert er zum Beispiel die sexuellen Experimente des heranwachsenden Zwitters Cal(liope) mit expliziten, minutiösen Beschreibungen körperlicher Handlungen und Reaktionen. Nun hätten solche Beschreibungen ohne Zweifel in Pornografie abgleiten können, wenn da nicht stets dieses relativierende Achselzucken wäre. Denn auf diese Weise erlebt der Leser sexuelle Findung nicht in schlüpfrigen Details. Vielmehr erfährt er sie als überraschende Entdeckung an der Seite eines Menschen, der selbst nicht weiß, wie ihm geschieht.
Fazit:
Middlesex ist ein großartiges Epos über das Leben, die Liebe und über die Geschichte Amerikas. Darüber hinaus aber ist der Roman auch noch eine Aufforderung, das Schicksal zu nehmen, wie es gerade kommt. Liebe das Leben, akzeptiere Dich selbst und nimm Dich dabei nicht wichtiger als Du es bist!
Für enormes Lesevergnügen, Lerneffekt und Selbsterkenntnis bleibt mir gar nichts anderes übrig, als Jeffrey Eugenides die vollen fünf Punkte zu verleihen. Der Roman ist und bleibt eine meiner drei Top-Leseempfehlungen.
Jeffrey Eugenides: Middlesex
Rowohlt Verlag, 2003
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