Die Korrekturen

Die Korrekturen
Jonathan Franzen, 2002

Jonathan Franzen por­trä­tiert in sei­nem um­fang­rei­chen Ro­man Die Korrekturen die Lam­berts, eine ame­ri­ka­ni­sche Fa­mi­lie der Mit­tel­schicht aus dem mitt­le­ren Wes­ten. Dabei er­schafft der Autor ein ein­drucks­vol­les, le­ben­di­ges, al­ler­dings letzt­lich be­klem­men­des Bild der Cha­rak­te­re von Va­ter Al­fred, Mut­ter Enid, de­ren bei­der Söh­ne Gary und Chip, so­wie der Toch­ter De­ni­se. Der Ro­man han­delt im aus­lau­fen­den zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert.

Der deut­sche Klap­pen­text wirkt nach der Lek­türe merk­wür­dig ver­un­glückt, gibt er doch ledig­lich einen knap­pen Aus­schnitt aus der Rah­men­hand­lung des Romans wie­der: Ange­sichts der Alz­hei­mer-Erkran­kung ihres Man­nes Alfred will Enid die Fami­lie ein letz­tes Mal ver­sam­meln. Deshalb lädt sie ihre Kin­der zu Weih­nach­ten ins Eltern­haus nach St. Jude ein. Dass diese Kurz­fas­sung für den Inhalt des Wer­kes belang­los ist, erschließt sich dem Leser jedoch ziem­lich rasch.

Die Korrekturen – Worum es geht

In der drit­ten Per­son, jedoch stets aus Sicht der han­deln­den Fig­uren erzählt Fran­zen in stän­di­gen Zeit­sprün­gen die Fami­lien­ge­schich­te. Dabei setzt er ein mit dem Zeit­punkt des Ken­nen­ler­nens von Enid und Alfred und endet mit Alfreds Tod. Im Wech­sel zwi­schen der Schil­de­rung von Gescheh­nis­sen und per­sön­li­chen Gedan­ken­gän­gen der Per­so­nen lässt er fünf tie­fen­scharfe Cha­rak­tere ent­ste­hen. Der Leser kann sich nur allzu gut in jede die­ser Figu­ren hin­ein ver­set­zen.

Die Lamberts – eine Psychoanalyse

In der prä­zi­sen Psy­cho­ana­lyse der Lam­berts liegt die haupt­säch­li­che Attrak­tivi­tät des Buches. Mit beein­dru­cken­dem Aus­drucks­ver­mö­gen, einem unver­gleich­li­chen ana­lyti­schen Scharf­blick und einer immer wie­der über­raschen­den Liebe zum Detail gelingt es Fran­zen, seine Leser in eine Fami­lie hin­ein­zuzie­hen, als ob es ihre eigene wäre. Manch einer wird nicht umhin kom­men, Paral­le­len zur eige­nen Exis­tenz zu zie­hen.

Vater Alfred ist im Grunde genom­men ein Scheu­sal, das in puri­tani­sche Grund­fes­ten ein­ge­mau­ert durch seine uner­schüt­ter­li­chen Grund­sätze Frau und Kinder regel­recht tyran­ni­siert. Enid, einer­seits kör­per­lich von Alfred ange­zo­gen, ihn ande­rer­seits als Men­schen ver­ach­tend, ver­sucht ihren Lebens­weg zwi­schen Mann, Kin­dern und eige­nen Wün­schen zu gestal­ten. Jedoch schei­tert sie stets an ihrer Umge­bung oder am eige­nen Man­gel an Durch­set­zungs­wil­len.
Gary, der dem Augen­schein nach erfolg­rei­che Älteste, ent­puppt sich als depres­si­ver Stamm­hal­ter sei­nes Vaters. Trotz klaren Vor­sat­zes gelingt es Gary nicht, die Erzie­hung durch sei­nen Vater in der eige­nen Rolle zu „kor­rigie­ren“. Sein jünge­rer Bru­der Chip, das schwarze Schaf der Fami­lie, ver­liert nach einer Affaire mit einer Stu­den­tin seinen Job als Lite­ratur­do­zent. Er ver­sucht sich erfolg­los als Dreh­buch­autor, wobei er von einer Katas­tro­phe in die nächste schlit­tert. Das Nest­häk­chen Denise, zunächst Papas Lieb­ling, ver­liert sich in Affai­ren mit männ­li­chen und weib­li­chen Part­ner und ist unfä­hig, ihren plan- und zügel­lo­sen Lebens­stil zu „kor­rigie­ren“.

Es wird deut­lich: Alle Lam­berts sind geschei­terte Exis­ten­zen. Doch liegt es an den beste­chen­den For­mu­lie­run­gen und Beschrei­bun­gen des Autors, dass diese ver­korks­ten und doch so nor­ma­len Leben den Leser unwi­der­steh­lich in den Bann zu zie­hen ver­mö­gen. Mit erstaun­li­cher Leich­tig­keit ver­setzt Fran­zen uns etwa in die Gedan­ken­welt eines in Demenz ver­sin­ken­den Alz­hei­mer-Patien­ten hin­ein. Als ob man durch einen nächt­li­chen Alb­traum trudle, frisst man sich durch die para­noi­den Wahn­vor­stel­lun­gen Alfreds. Wir seh­nen das Ende her­bei und wün­schen uns dabei doch, dass der Wahn­sinn immer noch einen Schritt wei­ter gehen möge.

Die Korrekturen – Erfolgsrezept

Mit der gleichen chi­rur­gi­schen Prä­zi­sion, mit der der Autor die uner­bitt­li­chen Kon­se­quen­zen von Krank­heit und Alter for­mu­liert, schafft er Bil­der zer­mür­ben­der mensch­li­cher Schwä­chen und Ange­wohn­hei­ten, in denen der Leser sich selbst oder seine Umwelt wie­der­zuer­ken­nen glaubt.

Viel­leicht ein wenig abge­dro­schen erschie­nen mir dage­gen die Bil­der, die Fran­zen in seine Stu­die ein­flicht, um sie in die Rea­li­tät des ver­gan­ge­nen Jahr­zehnts ein­zuwe­ben. Seine Ge­schich­ten über Ärzte, die Psy­cho­phar­maka ver­ab­rei­chen, die Rege­lung von Alfreds Patent­ange­legen­hei­ten, Epi­so­den über Aktien- und Inter­net­boom waren mir zu flach. Selbst wenn auch diese Sequen­zen her­vor­ra­gend for­mu­liert sind und nie­mals lang­wei­lig wur­den.

An dieser Stelle sei ein­mal ange­merkt, dass ich zwar das engli­sche Ori­gi­nal nicht kenne, den­noch der deut­schen Über­set­zung Lob zol­len will. Wort­wahl und Aus­druck sind man­cher­orts ein­fach atem­berau­bend. Man ist dann ver­sucht, ein­zelne Absätze wie­der und wie­der zu lesen, obwohl man sie bereits annä­hernd aus­wen­dig kennt. Zu sol­chen Lecker­bis­sen zählt zum Bei­spiel Alfreds Zwie­ge­spräch mit einer sei­ner Wahn­krea­tu­ren, dem „Scheiß­hau­fen“.

Die Korrekturen – Rezeption

In fast allen Buch­bespre­chun­gen wer­den die Paral­le­len der Korrekturen zu John Updikes Rabbit-Serie erwähnt. In der Tat fällt es leicht, Gemein­sam­kei­ten zu ent­de­cken. Aller­dings gibt es einen ent­schei­den­den Unter­schied: Updikes Romane wer­den von einer posi­ti­ven Grund­ein­stel­lung gegen­über den Men­schen getra­gen.

Fran­zens Ge­schich­te dage­gen ist von Sar­kas­mus geprägt. Seine Figu­ren sind nicht nur schwach, son­dern durch die Bank nie­der­träch­tig und selbst­süch­tig. Ihnen allen man­gelt es an der Fähig­keit zum Mit­ge­fühl. Sie han­deln heim­tü­ckisch und stets auf den eige­nen Vor­teil fixiert.

Für Die Korrekturen erhielt Jona­than Fran­zen im Jahr 2001 den Natio­nal Book Award. In der Süd­deut­schen Zei­tung lobte Tho­mas Stein­feld das Buch als einen „der größ­ten und wich­tigs­ten Romane der jüngs­ten Zeit. Ein Denk­mal des Huma­nen.“ Der Roman erreichte 2002 in Deutsch­land Platz eins der Spie­gel-Best­sel­ler­liste.

Hat Dir diese Buch­bespre­chung gefal­len? Dann wirst Du womög­lich auch meine Rezen­sion von Frei­heit, des Nach­folge­romans von Fran­zen, gerne lesen.

Fazit:

Dass Die Korrekturen trotz aller Kri­tik der­ar­tig fes­seln, liegt am Witz des Autors und sei­ner offen­kun­di­gen Freude am Erzäh­len. Ich habe die Lek­türe unge­heuer genos­sen und werde im nächs­ten Schritt das (gekürz­te) Hör­buch auf mich wir­ken las­sen. Für den Spaß beim Lesen hat sich Fran­zen die vier von fünf mög­li­chen Sterne mei­ner Bespre­chung auf jeden Fall ver­dient. Einer der Romane, die immer wie­der zum erneu­ten Lesen ein­la­den!

Jonathan Franzen: Die Korrekturen
Rowohlt Verlag, 2002

* * * * *

Kaufempfehlungen
Thalia ist als Onlineshop ausgewählt

Wenn Du über diese Links bestellst, erhalte ich eine kleine Provision auf Deinen Einkauf (mehr darüber)

Cookie-Hinweis