Jostein Gaarder, bekannt geworden vor allen Dingen als Autor von Sofies Welt, hat eine ungewöhnliche, autobiografisch anmutende Metageschichte geschrieben: Der Geschichtenverkäufer, eine Erzählung über das Erfinden von Geschichten, über die Fantasie des Geschichtenerzählers und über die Sprachlosigkeit der modernen Autorengilde.
Die Lektüre dieses Buches verdanke ich der Neugier, die mich beim Überfliegen des Klappentextes überfiel: „Manchen Schriftstellern gehen sie aus, ihm fliegen sie unablässig zu: Geschichten. Schon in der Schule beginnt er einen schwunghaften Handel damit …“
Frappierend! Das erinnerte mich an meine eigene Vergangenheit. Also blätterte ich zum ersten Kapitel und las weiter:
„Mir raucht der Kopf. Ich gehe ständig mit neuen Ideen schwanger. Und ständig drängen neue nach. In mir brodelt es von witzigen Formulierungen, ich kann sie kaum festhalten, ehe sie von neuen Einfällen verdrängt werden. Es gelingt mir nicht, einen Gedanken vom anderen zu trennen.“
(Seite 7)
Worum es geht
Von der ersten Seite an hatte ich das Gefühl, als würde Gaarder Gedanken konsequent weiter spinnen, die ich selbst hatte oder gar noch habe. Das vordergründige Thema des Romans lautet: Was fange ich mit all den Geistesblitzen an, die mir durch den Kopf gehen?
Auf Basis dieser Vorgabe erzählt der Autor die Geschichte von Petter, dessen Leben auf der Vermarktung seines Ideenreichtums beruht. Als Junge gibt er Schularbeiten gegen Süßigkeiten und kleine Geldbeträge an Schulkameraden ab. Später nutzt er sein Talent, mit Geschichten zu bezaubern, um von der Weiblichkeit sexuelle Gefälligkeiten zu erlangen.
Schließlich institutionalisiert er seine Fähigkeiten und gründet das „Autorenhilfswerk“:
Petter verkauft Ideen, Synopsen, oder ausgefeilte Romanideen an einfallslose Schriftsteller. Ein Thema selbst auszuarbeiten und zu veröffentlichen, lehnt er ab. Das könne er nicht, seine gedankliche Produktivität lenke ihn von solch literarischer Schwerarbeit in Details ab.
Hintergrund
Zunächst ist einmal der Gedanke an sich betörend, jemand – eine einzelne Person – stünde hinter einer Vielzahl schriftstellerischer Biographien. Er macht das Buch zu einer tiefsinnigen Reflexion über Identitätsstiftung. Der Stil Gaarders passt ausgezeichnet zu der Geschichte. In klaren, präzisen Sätzen schreibt er in der Ich-Form über Petters Entwicklung. Seine Gedankengänge sind zwar oft erstaunlich, aber durchweg folgerichtig und in sich schlüssig. Die Motive und Beweggründe Petters sind einerseits monströs in ihrer Konsequenz, bleiben aber im Detail immer nachvollziehbar.
Die Erzählform aus der Perspektive des Autors legt einen autobiographischen Zusammenhang nahe. Allerdings schafft Gaarder es, auch dem Leser die Perspektiven Petters so zu vermitteln, dass er sich mit ihm identifiziert. Jedenfalls lässt sich die Entwicklung Petters vom kleinen Jungen mit extrem ausgeprägter Fantasie zum literarischen Übervater einer ganzen Generation von Schriftstellern Schritt für Schritt nachvollziehen.
Schließlich kommt es im Roman zum Eklat: Das Netzwerk von Petters Kunden ist so groß geworden, dass er befürchten muss, das Stillschweigen der Abnehmer sei gebrochen worden. Anlässlich einer Buchmesse fühlt sich Petter von Bekannten und Kunden geschnitten. Ein Zeitungsartikel mutmaßt gar über „die Spinne“, die hinter vielen Schriftstellern zu stehen scheine. Petter fühlt sich bedroht, fürchtet gar ein Mordkomplott und flieht aus der Großstadt in ein italienisches Provinznest.
Bewertung
Dieser zuletzt angesprochene Abschnitt des Romans wirkte beim Lesen auf mich dramatisch recht hochgespielt. Die Bedrohung, die Petter empfindet, mutet diffus, überzogen und an den Haaren herbei gezogen an. Der plötzliche Stimmungsumschwung erscheint aufgesetzt; als ob Gaarder aus der Präzision seiner Schilderungen nicht heraus gefunden und ein gekünsteltes Ende eingeschoben hätte. – Endete die Geschichte tatsächlich an dieser Stelle, ich wäre aufrichtig enttäuscht gewesen.
Aber schließlich setzt der Autor noch eine letzte Episode an den Schluss, die der Geschichte ein erstaunliches Profil gibt. Petter, der sein Leben lang stets unfähig gewesen war, eine feste Liebesbeziehung einzugehen, verliebt und verliert sich. Zu seiner Mutter hatte der Junge eine sehr enge Beziehung gehabt. Durch die Trennung seiner Eltern hatte er bereits in jungen Jahren eine Ersatzrolle im Leben der Mutter gespielt, als Gesprächspartner oder Begleiter bei Theater- und Kinobesuchen. Nach dem Tod der Mutter hatte es einige Jahre gedauert, bis sich Petter in eine Frau verliebte. Diese Frau, Maria, verließ ihn jedoch aus Angst vor seiner monströsen Fantasie.
Zum Ende des Romans trifft Petter erneut auf eine Frau, mit der ihn eine Seelenverwandtschaft verbindet. Beate, eine Deutsche, ist zwar fast zwanzig Jahre jünger als er selbst. Es scheint aber Liebe auf den ersten Blick zu sein. Die überraschende, unerhörte Wendung, die sich dann auf den allerletzten Seiten ergibt, hat Petter seinem Umgang mit der eigenen Fantasie zu verdanken.
Erfolgsrezept
Als ich das Buch aus der Hand legte, war ich zunächst wie erschlagen. Erschlagen von der unerwarteten letzten Wendung, aber auch erschlagen von der Komplexität der Vermischung aus Wirklichkeit und Fantasie.
Über seine Romanfigur merkt Gaarder an, er habe stets Probleme mit der Unterscheidung zwischen „erinnerter Wirklichkeit“ und „erinnerter Fantasie“ gehabt. So lässt er uns im Unklaren darüber, wieviel in der Geschichte wahr ist, vielleicht gar seiner eigenen Biographie entstammt. Die gesamte Erzählung wirkte auf mich, als ob sie einem Traum entsprungen sei.
Dazu beigetragen hat auch eine Begleitfigur, die Gaarder seinem Petter zur Seite stellt: einen kleinen Mann im grauen Anzug und grünem Hut, der stets mit einem Stock herumfuchtelt. Nur Petter selbst kann diese bizarre Gestalt sehen, die er wegen ihrer Körpergröße Meter nennt. Meters Auftritte relativieren viele der Aussagen der Hauptfigur. Er tritt als personifiziertes Gewissen Petters auf und kehrt dessen Erklärungen oftmals in ihr Gegenteil um.
Durch die Präzision seiner Sprache einerseits und der Verwischung zwischen Dichtung und Wahrheit auf der anderen Seite schafft Gaarder eine Spannung, der man sich schwerlich entziehen kann.
In mehrfacher Hinsicht handelt es sich um eine Metageschichte. Zum einen ist Der Geschichtenverkäufer ja ohne jeden Zweifel eine Geschichte über das Geschichtenerzählen. Darüber hinaus besteht ein guter Teil des Buches in der Ausformulierung der Geschichten, die Petter zum Besten gibt, Geschichten in der Geschichte über das Geschichtenerzählen. Und letztlich entwickelt sich die Erzählung zu einer Geschichte über sich selbst: „Der Geschichtenverkäufer“ wird zu einer der Geschichten der Romanfigur Petter. Durch die letzte Wendung wird der Roman selbst zur Variation eines der Motive, die in ihm erzählt wurden.
Fazit:
Auch wenn der Roman einen merkwürdigen Eindruck hinterlässt und wohl kaum jedermanns Geschmack treffen wird, hat er zumindest mich enorm fasziniert. Deshalb habe ich ihm ohne zu Zögern vier von möglichen fünf Sternchen verpasst.
Erst auf der allerletzten Seite wird dem Leser klar, wie kunstvoll Gaarder im gesamten Handlungsverlauf Motive entwickelt, die zur Auflösung des Spannungsbogens beitragen. Einige der Passagen mögen beim Lesen zunächst irritieren, erhalten aber zu guter Letzt unerwartet Bedeutung. Ich kann nur raten, den Roman nicht vorzeitig aus der Hand zu legen, sondern mit höchster Aufmerksamkeit bis zum bitteren Ende durchzuhalten.
Jostein Gaarder: Der Geschichtenverkäufer
Carl Hanser Verlag, 2002
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