Der Geschichten­verkäufer

Der Geschichtenverkäufer
Jostein Gaarder, 2002

Jostein Gaarder, be­kannt ge­wor­den vor al­len Din­gen als Autor von So­fies Welt, hat eine un­ge­wöhn­li­che, auto­bio­gra­fisch an­mu­ten­de Me­ta­ge­schich­te ge­schrie­ben: Der Geschichtenverkäufer, eine Er­zäh­lung über das Er­fin­den von Ge­schich­ten, über die Fan­ta­sie des Ge­schich­ten­er­zäh­lers und über die Sprach­lo­sig­keit der mo­der­nen Auto­ren­gil­de.

Die Lek­tü­re die­ses Bu­ches ver­dan­ke ich der Neu­gier, die mich beim Über­flie­gen des Klap­pen­tex­tes über­fiel: „Man­chen Schrift­stel­lern ge­hen sie aus, ihm flie­gen sie un­ab­läs­sig zu: Ge­schich­ten. Schon in der Schu­le be­ginnt er einen schwung­haf­ten Han­del da­mit …“
Frap­pie­rend! Das er­in­ner­te mich an mei­ne eige­ne Ver­gan­gen­heit. Al­so blät­ter­te ich zum ers­ten Ka­pi­tel und las wei­ter:

„Mir raucht der Kopf. Ich gehe stän­dig mit neu­en Ide­en schwan­ger. Und stän­dig drän­gen neue nach. In mir bro­delt es von wit­zi­gen For­mu­lie­run­gen, ich kann sie kaum fest­hal­ten, ehe sie von neu­en Ein­fäl­len ver­drängt wer­den. Es ge­lingt mir nicht, einen Ge­dan­ken vom an­de­ren zu tren­nen.“
(Seite 7)

Der Geschichtenverkäufer – Worum es geht

Von der ers­ten Seite an hatte ich das Gefühl, als würde Gaar­der Gedan­ken kon­se­quent wei­ter spin­nen, die ich selbst hatte oder gar noch habe. Das vor­der­grün­dige Thema des Romans lau­tet: Was fange ich mit all den Geis­tes­blit­zen an, die mir durch den Kopf gehen?

Auf Basis die­ser Vor­gabe erzählt der Autor die Ge­schich­te von Pet­ter, des­sen Leben auf der Ver­mark­tung sei­nes Ideen­reich­tums beruht. Als Junge gibt er Schul­arbei­ten gegen Süßig­kei­ten und kleine Geld­be­träge an Schul­kame­ra­den ab. Spä­ter nutzt er sein Talent, mit Ge­schich­ten zu bezau­bern, um von der Weib­lich­keit sexu­elle Gefäl­lig­kei­ten zu erlan­gen.
Schließ­lich ins­titu­tio­nali­siert er seine Fähig­kei­ten und grün­det das „Auto­ren­hilfs­werk“:

Petter ver­kauft Ideen, Synop­sen, oder aus­ge­feilte Roman­ideen an ein­falls­lose Schrift­stel­ler. Ein Thema selbst aus­zuar­bei­ten und zu ver­öffent­li­chen, lehnt er ab. Das könne er nicht, seine gedank­li­che Pro­duk­tivi­tät lenke ihn von solch lite­rari­scher Schwer­ar­beit in Details ab.

Der Geschichtenverkäufer – Hintergrund

Zunächst ist ein­mal der Gedanke an sich betö­rend, jemand – eine ein­zelne Per­son – stünde hin­ter einer Viel­zahl schrift­stel­leri­scher Bio­gra­phien. Er macht das Buch zu einer tief­sin­ni­gen Refle­xion über Iden­titäts­stif­tung. Der Stil Gaar­ders passt aus­gezeich­net zu der Ge­schich­te. In kla­ren, prä­zi­sen Sät­zen schreibt er in der Ich-Form über Pet­ters Ent­wick­lung. Seine Gedan­ken­gänge sind zwar oft erstaun­lich, aber durch­weg fol­gerich­tig und in sich schlüs­sig. Die Motive und Beweg­gründe Pet­ters sind einer­seits mons­trös in ihrer Kon­se­quenz, blei­ben aber im Detail immer nach­voll­zieh­bar.

Die Erzähl­form aus der Per­spek­tive des Autors legt einen auto­bio­gra­phi­schen Zusam­men­hang nahe. Aller­dings schafft Gaar­der es, auch dem Leser die Per­spek­ti­ven Pet­ters so zu ver­mit­teln, dass er sich mit ihm iden­tifi­ziert. Jeden­falls lässt sich die Ent­wick­lung Pet­ters vom klei­nen Jun­gen mit extrem aus­gepräg­ter Fan­ta­sie zum lite­rari­schen Über­va­ter einer gan­zen Gene­ra­tion von Schrift­stel­lern Schritt für Schritt nach­voll­zie­hen.

Schließ­lich kommt es im Roman zum Eklat: Das Netz­werk von Pet­ters Kun­den ist so groß gewor­den, dass er befürch­ten muss, das Still­schwei­gen der Abneh­mer sei gebro­chen wor­den. Anläss­lich einer Buch­messe fühlt sich Pet­ter von Bekann­ten und Kun­den geschnit­ten. Ein Zei­tungs­arti­kel mut­maßt gar über „die Spinne“, die hin­ter vie­len Schrift­stel­lern zu ste­hen scheine. Pet­ter fühlt sich bedroht, fürch­tet gar ein Mord­kom­plott und flieht aus der Groß­stadt in ein ita­lieni­sches Pro­vinz­nest.

Der Geschichtenverkäufer – Bewertung

Dieser zuletzt ange­spro­chene Abschnitt des Romans wirkte beim Lesen auf mich dra­ma­tisch recht hoch­ge­spielt. Die Bedro­hung, die Pet­ter emp­fin­det, mutet dif­fus, über­zo­gen und an den Haa­ren her­bei gezo­gen an. Der plötz­li­che Stim­mungs­um­schwung erscheint auf­ge­setzt; als ob Gaar­der aus der Prä­zi­sion sei­ner Schil­derun­gen nicht her­aus gefun­den und ein geküns­tel­tes Ende ein­ge­scho­ben hätte. – Endete die Ge­schich­te tat­säch­lich an die­ser Stelle, ich wäre auf­rich­tig ent­täuscht gewe­sen.

Aber schließ­lich setzt der Autor noch eine letzte Epi­sode an den Schluss, die der Ge­schich­te ein erstaun­li­ches Pro­fil gibt. Pet­ter, der sein Leben lang stets unfä­hig gewe­sen war, eine feste Lie­bes­bezie­hung ein­zuge­hen, ver­liebt und ver­liert sich. Zu sei­ner Mut­ter hatte der Junge eine sehr enge Bezie­hung gehabt. Durch die Tren­nung sei­ner Eltern hatte er bereits in jun­gen Jah­ren eine Ersatz­rolle im Leben der Mut­ter gespielt, als Gesprächs­part­ner oder Beglei­ter bei Thea­ter- und Kino­besu­chen. Nach dem Tod der Mut­ter hatte es einige Jahre gedau­ert, bis sich Pet­ter in eine Frau ver­liebte. Diese Frau, Maria, ver­ließ ihn jedoch aus Angst vor sei­ner mons­trö­sen Fan­ta­sie.

Zum Ende des Romans trifft Pet­ter erneut auf eine Frau, mit der ihn eine See­len­ver­wandt­schaft ver­bin­det. Beate, eine Deut­sche, ist zwar fast zwan­zig Jahre jün­ger als er selbst. Es scheint aber Liebe auf den ers­ten Blick zu sein. Die über­ra­schende, uner­hörte Wen­dung, die sich dann auf den aller­letz­ten Sei­ten ergibt, hat Pet­ter sei­nem Umgang mit der eige­nen Fan­ta­sie zu ver­dan­ken.

Erfolgsrezept

Als ich das Buch aus der Hand legte, war ich zunächst wie erschla­gen. Erschla­gen von der uner­war­te­ten letz­ten Wen­dung, aber auch erschla­gen von der Kom­ple­xi­tät der Ver­mi­schung aus Wirk­lich­keit und Fan­ta­sie.

Über seine Roman­fi­gur merkt Gaar­der an, er habe stets Pro­bleme mit der Unter­schei­dung zwi­schen „erin­ner­ter Wirk­lich­keit“ und „erin­ner­ter Fan­ta­sie“ gehabt. So lässt er uns im Unkla­ren darü­ber, wie­viel in der Ge­schich­te wahr ist, viel­leicht gar sei­ner eige­nen Bio­gra­phie ent­stammt. Die gesamte Erzäh­lung wirkte auf mich, als ob sie einem Traum ent­sprun­gen sei.
Dazu bei­getra­gen hat auch eine Begleit­fi­gur, die Gaar­der sei­nem Pet­ter zur Seite stellt: einen klei­nen Mann im grauen Anzug und grü­nem Hut, der stets mit einem Stock herum­fuch­telt. Nur Pet­ter selbst kann diese bizarre Gestalt sehen, die er wegen ihrer Kör­per­größe Meter nennt. Meters Auf­tritte rela­tivie­ren viele der Aus­sa­gen der Haupt­figur. Er tritt als per­soni­fizier­tes Gewis­sen Pet­ters auf und kehrt des­sen Erklä­run­gen oft­mals in ihr Gegen­teil um.

Durch die Prä­zi­sion sei­ner Spra­che einer­seits und der Ver­wi­schung zwi­schen Dich­tung und Wahr­heit auf der ande­ren Seite schafft Gaar­der eine Span­nung, der man sich schwer­lich ent­zie­hen kann.
In mehr­fa­cher Hin­sicht han­delt es sich um eine Meta­ge­schich­te. Zum einen ist Der Geschichtenverkäufer ja ohne jeden Zwei­fel eine Ge­schich­te über das Ge­schich­ten­erzäh­len. Darü­ber hin­aus besteht ein guter Teil des Buches in der Aus­for­mulie­rung der Ge­schich­ten, die Pet­ter zum Bes­ten gibt, Ge­schich­ten in der Ge­schich­te über das Ge­schich­ten­erzäh­len. Und letzt­lich ent­wi­ckelt sich die Erzähl­ung zu einer Ge­schich­te über sich selbst: „Der Geschichtenverkäufer“ wird zu einer der Ge­schich­ten der Roman­fi­gur Pet­ter. Durch die letzte Wen­dung wird der Roman selbst zur Varia­tion eines der Motive, die in ihm erzählt wur­den.

Fazit:

Auch wenn der Roman einen merk­wür­di­gen Ein­druck hin­ter­lässt und wohl kaum jeder­manns Geschmack tref­fen wird, hat er zumin­dest mich enorm fasziniert. Des­halb habe ich ihm ohne zu Zögern vier von mög­li­chen fünf Stern­chen ver­passt.

Erst auf der aller­letz­ten Seite wird dem Leser klar, wie kunst­voll Gaar­der im gesam­ten Hand­lungs­ver­lauf Motive ent­wi­ckelt, die zur Auf­lö­sung des Span­nungs­bo­gens bei­tra­gen. Einige der Pas­sa­gen mögen beim Lesen zunächst irri­tie­ren, erhal­ten aber zu guter Letzt uner­war­tet Bedeu­tung. Ich kann nur raten, den Roman nicht vor­zei­tig aus der Hand zu legen, son­dern mit höchs­ter Auf­merk­sam­keit bis zum bit­te­ren Ende durch­zuhal­ten.

Jostein Gaarder: Der Geschichtenverkäufer
Carl Hanser Verlag, 2002

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