
Zehn Jahre nach dem Jahrtausendwechsel legte Jonathan Franzen seinen Roman Freiheit vor. Es handelt sich um die Familiengeschichte der Berglunds, von Patty und Walter sowie ihren beiden Kindern Jessica und Joey, die zunächst im Stadtteil Ramsey Hill in St. Paul bei Minneapolis, Minnesota, ihr beschauliches Leben leben. Die Handlung spannt der Autor über mehrere Jahrzehnte bis hin zum Beginn der Präsidentschaft von Barack Obama. Seine Geschichte schließt ein langes Kapitel der Entwicklung einer westlichen Gesellschaft, die wir aus deutscher oder europäischer Sicht über Jahrzehnte hinweg als beispielhaft, wenn auch keineswegs immer als vorbildlich empfunden haben mögen. Spätestens seit der albtraumhaften Präsidentschaft von Donald Trump ist dieses Kapitel endgültig abgeschlossen. Denn es wird keine Fortsetzungen mehr geben. – Jedenfalls nicht mehr für mich.
Rahmenbedingungen & Umfeld
Ich hatte meine Nabelschau der US-amerikanischen Gesellschaft vor Jahrzehnten mit den Romanen von John Updike begonnen und versucht, sie hier mit einer Zusammenfassung der Rabbit-Serie zu akzentuieren. Später hinzu kamen dann mehrere Werke von T. C. Boyle, von denen einige zu meiner Lieblingslektüre zählen. Und im Zusammenhang mit der Freiheit komme ich sicher auch nicht umhin, Franzens eigenen Vorgänger-Roman Die Korrekturen in die Waagschale zu werfen. Denn diese Erzählung rund um die Familie Lambert (Vater, Mutter, Tochter und zwei Söhne) hat mich nämlich besonders in ihren Bann gezogen. Ich habe sie mehrmals gelesen und höre bis heut immer wieder gern die Vorlesefassung auf CD.
All das waren Romane oder Romanserien, die bisher mein Verständnis von US-amerikanischen Familien-, Partnerschafts- und sogar Gesellschaftsverhältnissen geprägt haben. Ich habe diese Erzählungen geliebt; zum einen wegen der amerikanischen „Normalität“, die sich auf ihren Oberflächen widerspiegelte, die unserer europäischen manchmal so ähnlich und dann doch wieder so anders, fremder, vielleicht interessanter war. Zum anderen wegen der Abgründe, die sich unterhalb des äußeren Anscheins auftaten. Und auch wegen ihrer oft rätselhaften, offen vorgetragenen Sexualität, die die Autoren im abstrusen Gegensatz zur offiziellen US-Prüderie heraufbeschworen.
Freiheit heute?
Und nun habe ich Franzens Freiheit ein zweites Mal gelesen. Zehn Jahre nach dem Erscheinen des Romans. Vier Jahre nach dem Auftritt eines Präsidenten Trump, dessen politisches Vermächtnis darin besteht, diese nach außen chromglänzende und im Inneren doch oft großzügige Gesellschaft grundlegend zerstört zu haben. Was viele Kriege und politische Skandale nicht vermocht hatten, Donald Trump hat es geschafft: Die Amerikaner sind zutiefst gespalten, ein rot-blau polarisiertes, ekstatisch aufgepeitschtes Volk, dessen Extreme beim geringsten Anlass erbarmungslos aufeinander losgehen.
Vor diesem gewaltigen Graben, der jetzt mitten durch die Gesellschaft geht, nimmt sich die Geschichte der Berglunds aus Minnesota wie eine verblasste Vergangenheit aus, deren Werte, deren Begegnungen und selbst deren Konfrontationen sich vor der monströsen Gegenwart prähistorisch ausnehmen. Es gehört also schon einiges an Wehmut dazu, sich mit der Tragikomödie dieser Familiengeschichte auseinanderzusetzen.
Worum es geht
Auf den ersten Blick unterscheidet sich Freiheit thematisch nicht allzu sehr von Die Korrekturen. Denn in beiden Romanen begleitet der Autor US-amerikanische Familien über mehrer Jahrzehnte hinweg und lässt dabei die einzelnen Mitglieder zu Wort kommen. Solange bis sich aus den verschiedenen Perspektiven für die Leserschaft nicht nur ein tiefer Einblick in die Familiengeschichte(n) ergibt, sondern auch in die Gesellschaft(en), in denen sich diese Familien bewegen.
Natürlich liegen zwischen beiden Erzählungen ein paar Jahrzehnte politischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Allein schon dadurch ergeben sich völlig unterschiedliche Strukturen und Verhältnisse zwischen den jeweils handelnden Personengruppen.
Die Berglunds – eine Psychoanalyse
Auch diesmal seziert Franzen seine Protagonisten geradezu. Es ist ein großes Vergnügen, seinem sprachlich messerscharfen und analytisch pointierten Erzählfluss zu folgen. Ja, auch diesmal wird die eine Leserin oder der andere Leser womöglich betroffen die eigene Lebenswelt samt persönlicher Wertevorstellungen wiedererkennen. Auch diesmal begleiten wir die Charaktere bei ihren Entwicklungen aus der Jugend ins Erwachsenendasein, stets in wechselnden Einstellungen und zeitlichen Sprüngen.
Die Eltern
Vater Walter Berglund ist ein Gutmensch, der die Frustrationen seiner Jugend zu überwinden versucht. Er will einen ökologisch einwandfreien Fußabdruck setzen, indem er Umweltprojekte verfolgt, die der bedrohten amerikanischen Vogelwelt ihr Überleben garantieren soll. Leider scheitert er dabei; ebenso durch wirtschaftlich-politische Rahmenbedingungen, vor denen er zunächst die Augen verschließt, wie auch durch seine eigenen Defizite.
Mutter Patty, eine traumatisierte Ex-Spitzensportlerin, scheitert ebenfalls. Sie ist dem Zwiespalt der Versuche nicht gewachsen, Erziehungsfehler ihrer Eltern nicht zu wiederholen und gleichzeitig eigene Lebensziele überhaupt nur zu erkennen, geschweige denn zu formulieren oder zu verfolgen.
Die Kinder
Sohn Joey startet als Schwarzes Schaf der Familie in die Geschichte. Er treibt den Vater an den Rande des Wahnsinns, brüskiert die Mutter und wird zum Feind der Schwester. Doch dadurch bringt er sich letztlich selbst in Zugzwang. Er liiert sich früh mit der Nachbarstochter Connie Monaghan, versucht dann aus dieser zu früh zementierten Beziehung auszubrechen. Er entwickelt Interesse an der nicht gelebten jüdischen Religion seiner Familie. Außerdem wechselt er aus dem demokratischen Lager der Familie zu den Republikanern, macht dubiose Geldgeschäfte am Rande des Irakkrieges und entkommt nur mit Müh und Not den Konsequenzen des eigenen illegalen Handelns. (Joey hat mich noch am meisten an eine Figur aus den Korrekturen erinnert: Er trägt so einige Wesenszüge von Chip Lambert.)
Die Tochter Jessica hat den geringsten Anteil an der Romanerzählung. Sie fungiert nicht wirklich als eigener Charakter. Vielmehr hat ihr Franzen die Rolle eines Korrektivs zugedacht. Jessica tritt immer dann auf den Plan, wenn ihre Eltern oder ihr Bruder dabei sind, wieder einmal alles kaputt zu machen.
Sonst noch jemand?
Wichtiger als Jessica ist unbedingt die Figur des Richard Katz. Der ist einstiger Mitbewohner von Walter aus Universitätszeiten, Rockmusiker, Lebemann und unberechenbarer Faktor in der Entwicklung der Berglunds. Richard und Walter verbindet eine unverbrüchliche Männerfreundschaft. Aber leider macht dieser Richard auch schwer Eindruck auf die wankelmütige Patty. Mit wohligem Schauer hört die ihrer College-Freundin zu, die von Katz mit unverhohlen sexueller Konnotation als dem „Riesenradierer“ schwärmt. Richard wird für die Berglunds zu so ziemlich allem: zum Beziehungsstifter, zum Ehebrecher, zum Spalter und zum Versöhner. Ein Mann für alle Fälle, im wahrsten Sinne des Wortes.
Implosion
Die Familie Berglund zerbricht nicht nur. Sie implodiert geradezu. Die drei Hauptfiguren – Patty, Walter und Joey – drohen an ihren persönlichen Schwächen und unerfüllten Erwartungen zugrunde zu gehen. Dabei sehen sie aber keinesfalls davon ab, sich durch die Betten ihrer jeweiligen Lieblingsmenschen zu vögeln.
„Der Grund, warum das System in diesem Land nicht umgestürzt werden kann, ist einzig und allein die Freiheit.“
(Walter zu Richard, auf Seite 472)
Interessanterweise verzichtet Autor Franzen darauf, seine Berglunds vollständig zu zerstören. Ja, gegen Ende des Romans ist Walter zwar drauf und dran, als unverstandener, mürrischer Eremit zu enden, der seiner Nachbarschaft gehörig auf den Geist geht. Patty steht knapp vor einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung. Und Joey scheint sein Leben aufzugeben, bevor es überhaupt begonnen hat.
Doch dann schnippt Franzen mit einem Mal noch unerwartet mit den Fingern.
Erfolgsrezept
Auch in diesem Roman erweist sich Jonathan Franzen wieder als brillanter Erzähler. Er errichtet ein Gebäude aus Erzählfragmenten, die natürlich nicht in chronologischer Abfolge stehen. Jede der eben genannten Personen (ausgenommen Jessica) darf ihre Version der Geschehnisse erzählen. Immer wieder, über lange Jahre hinweg. Tatsächlich war es mir ein besonderes Vergnügen, ab und an wieder zu früheren Passagen zurückzuspringen, wenn ich Bezüge dazu in einem späteren Kapitel entdeckt habe. Dieses Mosaik von Passagen macht in meinen Augen einen guten Teil der Attraktivität des Romans aus.
„Es wurden Fehler gemacht“
Ein besonderes Bonbon präsentiert der Autor seiner Leserschaft in Form des zweiten Roman-Teils. Unter der Überschrift Es wurden Fehler gemacht, lässt er Patty Berglund über zweihundert Seiten lang in einer Art verschleierten Ich-Form eine gnadenlose Selbstreflexion niederschreiben, die ihr ein Therapeut auftragen hatte, um ihre persönlichen Schwierigkeiten aufzuarbeiten. Dieses psychologische Tagebuch ist jedoch nicht nur Teil der Romanerzählung sondern spielt zu einem späteren Zeitpunkt als enthüllendes Manuskript in der Geschichte eine wichtige Rolle.
Er hat es schon wieder gemacht.
Wer? – Jonathan Franzen.
Was? – Er hat eine Romangeschichte geschrieben, die man als Kind der gleichen Ära durchaus zur Lektür empfehlen könnte, wenn einmal ein Enkel fragt: Wie war das denn damals, als Du noch nicht so alt warst und als Mama und Papa aufwuchsen?
Warum? – Mein Lebensgefühl aus den Neunzigern und Nullerjahren steckt da ganz gut drin. Ich habe Wesenszüge und Parallelen im Handeln sowohl des braven Walter als auch des unverantwortlichen Richard und sogar von Joey in mir wiederentdeckt. Verrückt aber wahr.
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Wem diese Buchbesprechung gefallen hat, der möchte sich vielleicht auch meine Rezension zu Franzens Roman Die Korrekturen ansehen? Oder meinen Überblick zu John Updikes Epos um Harry „Rabbit“ Angstrom? Eine weitere Empfehlung wäre T. C. Boyles Blue Skies.
Fazit:
Franzens Freiheit ist ein ausgeklügeltes, perfekt inszeniertes Monumentalwerk um die Entwicklung einer US-amerikanischen Familie rund um den Jahrtausendwechsel. Ein sprachliches Feuerwerk, eine meisterhafte Komposition, an der drei oder vier Protagonisten abwechselnd mitwirken. Sie alle tragen mit Überzeugung ihre eigenen Konzepte von Freiheit bei, torpedieren sich dabei immer wieder gegenseitig und machen doch letztlich keinen Hehl aus ihrer Zuneigung zueinander. – Ein grandioses, allerletztes gesellschaftliches Gemälde aus der vor-trumpschen Epoche.
Die Freiheit ist mir ohne jeden Zweifel vier von fünf möglichen Sternen wert. Lediglich ein paar wenige inhaltliche Längen auf den mehr als 700 Romanseiten haben äußerst knapp verhindert, dass aus den vier tatsächlich fünf Sterne geworden wären.
Jonathan Franzen: Freiheit
Rowohlt Verlag, 2010
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