Freiheit

Jonathan Franzen, Freiheit, 2010
Jonathan Franzen, 2010

Zehn Jahre nach dem Jahr­­tau­send­­­wech­sel legte Jona­than Franzen seinen Roman Frei­heit vor. Es handelt sich um die Fami­lien­­­­geschich­te der Berg­lunds, von Patty und Walter sowie ihren beiden Kin­dern Jessica und Joey, die zu­nächst im Stadt­­teil Ramsey Hill in St. Paul bei Minnea­­polis, Minne­sota, ihr beschau­­liches Leben leben. Die Hand­lung spannt der Autor über meh­rere Jahr­­zehnte bis hin zum Beginn der Präsi­dent­­schaft von Barack Obama. Seine Ge­schich­te schließt ein langes Kapi­tel der Ent­wick­­lung einer west­­lichen Ge­sell­­schaft, die wir aus deut­scher oder europä­ischer Sicht über Jahr­zehnte hinweg als bei­spiel­­haft, wenn auch keines­wegs immer als vor­bild­­lich emp­funden haben mögen. Späte­stens seit der alb­traum­­haften Präsi­dent­­schaft von Donald Trump ist dieses Kapi­tel end­­gültig ab­ge­­schlos­sen. Denn es wird keine Fort­­set­zungen mehr geben. – Jeden­falls nicht mehr für mich.

Freiheit – Rahmenbedingungen & Umfeld

Ich hatte meine Nabel­­schau der US-amerika­ni­schen Gesell­­schaft vor Jahr­­zehnten mit den Roma­nen von John Updike begonnen und versucht, sie hier mit einer Zusammen­­fassung der Rabbit-Serie zu akzen­tuieren. Später hinzu kamen dann mehre­re Werke von T. C. Boyle, von denen eini­ge zu meiner Lieblings­­­lektüre zählen. Und im Zusammen­­hang mit der Freiheit komme ich sicher auch nicht umhin, Franzens eigenen Vor­gänger-Roman Die Korrek­turen in die Waag­­schale zu werfen. Denn diese Erzäh­lung rund um die Fami­lie Lambert (Vater, Mutter, Tochter und zwei Söhne) hat mich näm­lich beson­ders in ihren Bann gezogen. Ich habe sie mehr­­mals gele­sen und höre bis heut immer wieder gern die Vor­lese­­­fassung auf CD.

All das waren Romane oder Roman­­­serien, die bis­her mein Ver­­ständ­nis von US-amerika­nischen Familien-, Partner­­schafts- und sogar Gesell­­schafts­­­verhält­nis­sen geprägt haben. Ich habe diese Erzäh­­lungen geliebt; zum einen wegen der amerika­­nischen „Norma­lität“, die sich auf ihren Ober­­flächen wider­­spiegelte, die unse­rer europä­ischen manchmal so ähnlich und dann doch wieder so anders, frem­der, viel­leicht interes­santer war. Zum ande­ren wegen der Ab­grün­de, die sich unter­­halb des äuße­ren An­scheins auf­taten. Und auch wegen ihrer oft rätsel­haften, offen vorge­tra­genen Sexu­­alität, die die Auto­­ren im abstru­sen Gegen­­satz zur offi­zi­ellen US-Prüderie herauf­­beschworen.

Freiheit heute?

Und nun habe ich Franzens Freiheit ein zweites Mal gelesen. Zehn Jahre nach dem Er­schei­nen des Romans. Vier Jahre nach dem Auf­­tritt eines Präsi­­denten Trump, dessen poli­­ti­sches Vermächt­­nis darin be­steht, diese nach außen chrom­­g­län­zende und im Inneren doch oft großzügige Gesell­­schaft grund­­legend zer­stört zu haben. Was viele Kriege und poli­ti­sche Skan­­dale nicht vermocht hatten, Donald Trump hat es ge­schafft: Die Ameri­kaner sind zu­tiefst ge­spalten, ein rot-blau polari­­siertes, eksta­tisch auf­ge­peitschtes Volk, dessen Extre­me beim gering­­sten An­lass erbar­mungs­los auf­ein­ander los­gehen.

Vor diesem gewal­tigen Graben, der jetzt mitten durch die Gesell­­schaft geht, nimmt sich die Geschichte der Berg­lunds aus Minne­sota wie eine ver­­blasste Vergan­­gen­heit aus, deren Werte, deren Begeg­­nungen und selbst deren Konfron­­tationen sich vor der mon­strösen Gegen­wart prä­hi­storisch aus­­nehmen. Es gehört also schon einiges an Weh­mut dazu, sich mit der Tragi­­komödie dieser Fami­lien­­­geschich­te aus­­einander­­zu­setzen.

Freiheit – Worum es geht

Auf den ersten Blick unter­­scheidet sich Freiheit thema­­tisch nicht allzu sehr von Die Korrek­turen. Denn in beiden Roma­­nen beglei­tet der Autor US-amerika­ni­sche Fami­lien über mehrer Jahr­­zehnte hin­weg und lässt dabei die einzel­nen Mit­glie­der zu Wort kommen. Solange bis sich aus den verschie­­denen Perspek­­tiven für die Leser­­schaft nicht nur ein tiefer Ein­blick in die Familien­­­geschich­te(n) ergibt, son­dern auch in die Gesell­­schaft(en), in denen sich diese Fami­lien bewe­gen.
Natür­lich liegen zwi­schen bei­den Erzäh­­lungen ein paar Jahr­­zehnte poli­ti­scher und gesell­­schaft­licher Ver­än­derun­gen. Allein schon da­durch erge­ben sich völlig unter­­schied­liche Struk­turen und Verhält­­nisse zwischen den jeweils handeln­den Per­sonen­­gruppen.

Freiheit – Die Berglunds – eine Psychoanalyse

Auch diesmal seziert Franzen seine Prota­­gonisten geradezu. Es ist ein großes Vergnü­gen, seinem sprach­lich messer­­schar­fen und analy­­tisch pointier­ten Erzähl­­fluss zu folgen. Ja, auch diesmal wird die eine Lese­rin oder der andere Leser womög­lich betrof­fen die eige­ne Lebens­­welt samt persön­­licher Werte­­­­vor­­stel­­lungen wieder­­er­kennen. Auch dies­mal beglei­­ten wir die Charak­­tere bei ihren Ent­wicklun­gen aus der Jugend ins Er­wach­­senen­­dasein, stets in wech­selnden Ein­stel­lungen und zeit­lichen Sprün­gen.

Die Eltern

Vater Walter Berg­lund ist ein Gut­­mensch, der die Fru­stra­ti­onen seiner Jugend zu über­­winden versucht. Er will einen öko­­logisch einwand­­freien Fuß­­abdruck setzen, indem er Umwelt­­­pro­jekte ver­folgt, die der bedroh­ten amerika­nischen Vogel­­welt ihr Über­l­eben garan­­tieren soll. Leider schei­tert er dabei; ebenso durch wirt­schaft­­lich-politi­sche Rahmen­­­­bedin­gungen, vor denen er zunächst die Augen ver­­schließt, wie auch durch seine eige­nen Defi­zite.

Mutter Patty, eine trauma­­tisier­te Ex-Spitzen­­sportle­rin, scheitert eben­­falls. Sie ist dem Zwie­­spalt der Ver­suche nicht ge­wach­sen, Erzie­hungs­fehler ihrer Eltern nicht zu wieder­­holen und gleich­­zeitig eigene Lebens­­ziele über­­haupt nur zu er­ken­nen, geschwei­ge denn zu formu­­lieren oder zu ver­­folgen.

Die Kinder

Sohn Joey startet als Schwarzes Schaf der Fami­lie in die Geschich­te. Er treibt den Vater an den Rande des Wahn­­sinns, brüs­kiert die Mutter und wird zum Feind der Schwes­ter. Doch dadurch bringt er sich letzt­­lich selbst in Zug­­zwang. Er liiert sich früh mit der Nach­bars­­toch­ter Connie Monaghan, ver­sucht dann aus die­ser zu früh zemen­­tier­ten Bezie­hung aus­­zu­brechen. Er ent­­wickelt Inte­resse an der nicht geleb­ten jüdi­schen Reli­gion seiner Fami­lie. Außer­­dem wechselt er aus dem demo­­krati­schen Lager der Fami­lie zu den Repu­bli­ka­nern, macht dubi­ose Geld­­­geschäf­te am Rande des Irak­­­krie­ges und ent­kommt nur mit Müh und Not den Kon­se­quen­zen des eige­nen ille­ga­len Handelns. (Joey hat mich noch am mei­sten an eine Figur aus den Korrek­turen erinnert: Er trägt so eini­ge Wesens­­züge von Chip Lam­bert.)

Die Tochter Jessica hat den gering­sten Anteil an der Roman­­­er­zählung. Sie fun­giert nicht wirk­­lich als eige­ner Charak­ter. Viel­­mehr hat ihr Franzen die Rolle eines Korrek­tivs zuge­dacht. Jessica tritt immer dann auf den Plan, wenn ihre Eltern oder ihr Bruder dabei sind, wieder einmal alles kaputt zu machen.

Sonst noch jemand?

Wichtiger als Jessica ist unbe­dingt die Figur des Richard Katz. Der ist einsti­ger Mit­­be­wohner von Walter aus Uni­­versi­täts­­­­zeiten, Rock­mu­siker, Lebe­mann und un­be­rechen­barer Faktor in der Ent­­wicklung der Berg­lunds. Richard und Walter verbin­det eine unver­­brüchli­che Männer­­­freund­schaft. Aber leider macht dieser Richard auch schwer Ein­druck auf die wankel­­mü­tige Patty. Mit wohli­gem Schauer hört die ihrer College-Freun­din zu, die von Katz mit un­ver­hoh­len sexu­­eller Konno­tation als dem „Riesen­­radierer“ schwärmt. Richard wird für die Berg­lunds zu so ziem­lich allem: zum Be­ziehungs­­­­stifter, zum Ehe­­brecher, zum Spal­ter und zum Ver­­söh­ner. Ein Mann für alle Fälle, im wahr­sten Sinne des Wor­tes.

Implosion

Die Familie Berg­lund zer­bricht nicht nur. Sie im­plo­diert gera­de­zu. Die drei Haupt­­figu­ren – Patty, Walter und Joey – dro­hen an ihren per­sön­­lichen Schwä­chen und un­er­füll­ten Er­war­tun­gen zu­­grunde zu gehen. Dabei sehen sie aber keines­­falls davon ab, sich durch die Betten ihrer je­weili­gen Lieb­lings­­men­schen zu vögeln.

„Der Grund, warum das System in diesem Land nicht um­gestürzt werden kann, ist einzig und allein die Freiheit.“
(Walter zu Richard, auf Seite 472)

Interessanter­­­weise verzich­tet Autor Franzen darauf, seine Berg­lunds voll­­ständig zu zer­stö­ren. Ja, gegen Ende des Romans ist Walter zwar drauf und dran, als un­ver­­stan­dener, mürri­scher Ere­mit zu enden, der seiner Nach­bar­­schaft ge­hörig auf den Geist geht. Patty steht knapp vor einer schi­zo­­phre­nen Per­sön­lich­­keits­­­­stö­rung. Und Joey scheint sein Leben auf­zu­geben, bevor es über­­haupt begonnen hat.

Doch dann schnippt Franzen mit einem Mal noch un­er­war­tet mit den Fingern.

Freiheit – Erfolgsrezept

Auch in diesem Roman er­weist sich Jona­than Franzen wieder als brillan­ter Erzäh­ler. Er er­rich­tet ein Gebäu­de aus Erzähl­­­frag­­menten, die natür­lich nicht in chrono­­logi­scher Ab­folge stehen. Jede der eben genann­­ten Perso­­nen (aus­ge­nommen Jessica) darf ihre Ver­sion der Ge­scheh­­nisse er­zäh­len. Immer wieder, über lange Jahre hin­weg. Tat­­säch­lich war es mir ein be­son­­deres Ver­gnügen, ab und an wieder zu frü­heren Passa­gen zurück­­zu­­springen, wenn ich Bezüge dazu in einem späte­ren Kapi­tel ent­­deckt habe. Dieses Mosaik von Passa­­gen macht in meinen Augen einen guten Teil der Attrak­­tivi­tät des Romans aus.

„Es wurden Fehler gemacht“

Ein besonderes Bonbon präsen­tiert der Autor seiner Leser­­schaft in Form des zwei­ten Roman-Teils. Unter der Über­­schrift Es wur­den Fehler gemacht, lässt er Patty Berg­lund über zwei­­hun­dert Seiten lang in einer Art ver­schlei­­erten Ich-Form eine gna­den­­lose Selbst­­reflexion nieder­schrei­ben, die ihr ein Thera­peut auf­­tragen hatte, um ihre per­sön­li­chen Schwie­rig­­kei­ten auf­zu­arbei­ten. Dieses psycho­logi­sche Tage­buch ist jedoch nicht nur Teil der Roman­­erzäh­lung sondern spielt zu einem späte­ren Zeit­­punkt als ent­hül­len­des Manu­skript in der Geschich­te eine wich­tige Rolle.

Er hat es schon wieder gemacht.

Wer? – Jonathan Franzen.
Was? – Er hat eine Roman­­­geschich­te geschrie­ben, die man als Kind der gleichen Ära durch­­aus zur Lek­tür emp­­fehlen könnte, wenn einmal ein Enkel fragt: Wie war das denn da­mals, als Du noch nicht so alt warst und als Mama und Papa auf­­wuch­sen?
Warum? – Mein Lebens­gefühl aus den Neun­zigern und Nuller­­jahren steckt da ganz gut drin. Ich habe Wesens­­­züge und Paral­­lelen im Han­deln sowohl des bra­ven Walter als auch des unver­­antwort­­­lichen Richard und sogar von Joey in mir wieder­­ent­deckt. Ver­rückt aber wahr.

~

Wem diese Buch­be­sprechung gefal­len hat, der möchte sich viel­­leicht auch meine Rezen­­sion zu Fran­zens Roman Die Korrek­turen anse­hen? Oder meinen Über­­blick zu John Updikes Epos um Harry „Rabbit“ Angstrom? Eine weitere Emp­­feh­lung wäre T. C. Boyles Blue Skies.

Fazit:

Franzens Freiheit ist ein aus­ge­­klü­gel­tes, per­fekt ins­ze­nier­tes Monu­men­tal­­­­werk um die Ent­­wick­lung einer US-amerika­­nischen Fami­lie rund um den Jahr­­tau­send­­­wechsel. Ein sprach­­liches Feuer­­werk, eine mei­ster­hafte Kom­po­­sition, an der drei oder vier Prota­­goni­sten ab­wech­­selnd mit­wirken. Sie alle tragen mit Über­­zeu­gung ihre eige­nen Kon­­zepte von Frei­heit bei, torpe­­die­ren sich dabei immer wieder ge­gen­­sei­tig und machen doch letzt­­lich keinen Hehl aus ihrer Zu­nei­­gung zu­ein­­ander. – Ein gran­di­oses, aller­­letztes gesell­­schaft­­liches Ge­mälde aus der vor-trump­schen Epoche.

Die Freiheit ist mir ohne jeden Zwei­fel vier von fünf mög­­lichen Ster­nen wert. Ledig­­lich ein paar wenige inhalt­­liche Län­gen auf den mehr als 700 Roman­­seiten haben äußerst knapp ver­hin­dert, dass aus den vier tat­­sächlich fünf Sterne gewor­den wären.

Jonathan Franzen: Freiheit
Rowohlt Verlag, 2010

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