
Beinahe sechs Jahre nach seinem vorhergehenden Auftritt in Mord im Herbst gibt Kurt Wallander nun endgültig seine literarische Abschiedsvorstellung. Henning Mankell hat seinem zwölften und letzten Band der Wallanderromanserie den Titel Der Feind im Schatten gegeben. Die Handlung setzt im Januar 2007 ein, also beinahe auf den Tag genau siebzehn Jahre nach dem ersten Wallander, Mörder ohne Gesicht. Der schwedische Kultkommissar wird jetzt 60 Jahre alt und hatte sich erst vier Jahre zuvor endlich seinen Traum erfüllt: Er war aus seiner Wohnung in der Mariagatan in Ystad hinaus aufs Land gezogen, in Richtung Löderup, wo sein Vater gelebt hatte. Und Wallander hat sich tatsächlich – auch wie erträumt – einen Hund zugelegt: einen Labrador, den er nach seinem Lieblingstenor Björling „Jussi“ nennt.
Wallanders letzter Fall ist eigentlich gar nicht sein Fall. Er ermittelt nämlich nebenbei in seiner Freizeit in einer familiären Angelegenheit. Tochter Linda ist Mutter geworden: Mit ihrem Lebensgefährten Hans von Enke hat sie Kurt zum Großvater einer Enkelin namens Klara gemacht. Da hatte Wallander natürlich auch die künftigen Schwiegereltern Lindas kennengelernt, Håkan und Louise von Enke; einen pensionierten Marinekapitän und eine ehemalige Lehrerin. Nach der Feier von Håkans Fünfundsiebzigsten verschwindet erst der Mann spurlos und einige Zeit später auch seine Frau Louise. Kurt Wallander gräbt in der Vergangenheit der beiden und deckt dabei Merkwürdiges, Beunruhigendes auf.
Worum geht es?
Anfang der Achtzigerjahre, während des Kalten Krieges zwischen Ost und West, kam es in schwedischen Küstengewässern zu mehreren Vorfällen von Eindringen ausländischer U-Boote, vermutlich russischer oder polnischer Herkunft. In einem Fall gelang es der Marine, eines dieser U-Boote einzukesseln. Doch kurz bevor das fremde Unterseeboot zum Auftauchen gezwungen werden konnte, wurden die Schiffe der schwedischen Marine ohne Begründung abgezogen. Diesen unverständlichen Befehl hatte Håkan von Enke nicht unwidersprochen hinnehmen wollen. Er stellte Nachforschungen an und erzwang sogar eine Audienz bei Ministerpräsident Palme. Dennoch wurde von Enke damals stillgestellt, seine Karriere dadurch ausgebremst.
Gut zwanzig Jahre später:
Nach dem Verschwinden des Ex-Kapitäns nimmt Wallander Kontakt zu einem ehemaligen Kollegen und Freund Håkans bei der Marine sowie zu einem ebenfalls befreundeten US-amerikanischen U-Bootkommandanten in Kalifornien auf. Schließlich deckt er die geheim gehaltene Existenz einer älteren Schwester seines Schwiegersohns in spe auf, einer schwerstbehinderten Frau namens Signe, die seit vier Jahrzehnten versteckt in einem Heim lebt. Bei Signe findet er kryptische Aufzeichnungen Håkans, die mit dem alten U-Bootskandal zu tun haben. Einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der von Enkes kann Wallander lange Zeit trotzdem nicht herstellen.
Doch schließlich deckt er in akribischer Kleinarbeit ein gut verborgenes Geheimnis der beiden von Enkes auf. Mehr sei hier nicht verraten.
Großer Bahnhof
Neben all den Privatermittlungen, die seine Urlaubstage aufzehren, beschäftigt sich Wallander mit Abschieden. Es beginnt schon auf der Dienststelle in Ystad. Da ist fast keiner der Kollegen mehr dabei, die Kurt treu und ergeben über viele Jahre hinweg durch die Ermittlungen begleitet hatten. Kein Hansson mehr, keine Ann-Britt Höglund, keine Lisa Holgersson. Auch der letzte Neuzugang Peter Lindman, ein vielversprechender Flirt Lindas, ist wieder verschwunden.
Es bleiben noch Martinsson, der tatsächlich der einzige Polizeikollege Wallanders ist, der in allen Romanbänden seine Auftritte hatte; und Sven Nyberg, der stets nörglerische und doch so zuverlässige Kriminaltechniker. Aber Nyberg geht noch im Sommer 2008 in Pension, und Martinsson quittiert den Dienst, um bei einer privaten Sicherheitsfirma zu arbeiten. Wallander ist also der letzte Mohikaner in Ystad; um ihn herum nur noch Bleichgesichter.
Im Rahmen der Abschiedsgala …
ziehen auch noch weitere Personen aus der Vergangenheit an unserem Protagonisten vorüber: Baiba Liepa, Kurts lettische Geliebte während der ersten Hälfte der Neunzigerjahre erscheint noch einmal zu Besuch, um endgültig Lebewohl zu sagen. Sie leidet unheilbar an Krebs und lenkt auf der Rückfahrt nach Riga ihren Wagen gegen einen Brückenpfeiler.
Auch Wallanders Ex-Frau Mona bekommt einen letzten Vorhang. Die schwer Alkoholabhängige darf noch ein paar Male krakeelen und wird schließlich von Linda und deren Vater in einer Entzugsklinik verabschiedet.
Und noch mit einem weiteren, allerletzten Abschied muss Wallander klar kommen, vermutlich mit dem schwersten von allen: dem Abschied von seinen grauen Zellen. Das Gedächtnis des Kommissars setzt in immer engeren Zeitabständen aus. Er weiß nicht mehr, wo er ist, warum er dort hin wollte, oder wer Personen in seiner Umgebung sind. Noch sind diese erschreckenden Black-Outs von sehr kurzer Dauer. Aber sowohl Wallander selbst als auch der Leserschaft ist klar: Das wird nicht so bleiben. Das Vergessen wird den Mann immer tiefer ins Dunkel ziehen. – Der Feind im Schatten!
Meine Wertung
Ein bisschen traurig ist es schon, all das zu Ende gehen zu sehen, was wir lieb gewonnen hatten in und an den Wallanderromanen; mit jedem Umblättern dem Unvermeidlichen eine Seite näher zu kommen. Der Autor ist unerbittlich. Hier gibt es nun wirklich kein Entrinnen mehr, jede auch noch so vage Hoffnung auf eine versöhnlichere Fortsetzung wird gnadenlos zertrampelt. Das düstere Schicksal, in das Mankell seinen Wallander schickt, ist uns auch kein Trost. Ich habe diesen letzten Band mit dem Gefühl einer betrübten Verlorenheit zur Seite gelegt, nachdem ich die letzte Seite gelesen hatte. So musste es also enden.
Bei aller Wehmut muss man allerdings eingestehen, dass Mankell diesen Abschied ziemlich gut komponiert hat. Konsequent und stilsicher. Da gibt es keinen geschmacklosen Kitsch, keine gefühlsduseligen Tränenszenen. Auch wenn Wallander ab und an doch ein Kloß im Hals sitzt. Es ist eben so, wie es ist; immer getreu Wallanders Motto, das uns durch viele der Romanfolgen begleitet hat:
„Leben und Tod, alles hat seine Zeit.“
Der Kriminalfall im familiären Umfeld Wallanders, der den Abschied des Protagonisten umrahmt, kommt dabei nach meinem Geschmack zu kurz. Kalter Krieg, Spionage, Skandale und dann doch noch eine letzte unerwartete Wendung – die Ergebnisse sind purer Sprengstoff! Dennoch verläuft zuletzt alles im Sande. Dabei hätte Wallander mit einer Veröffentlichung der Recherchen seiner kriminalistischen Karriere eine Krone aufsetzen können. Und doch behält er die Auflösung lieber für sich, spricht noch nicht einmal mit seiner Tochter. Fast wirkt es so, als nähme Wallander seine Ermittlungen mit in die Finsternis der Demenz.
~
Notiz am Rande: Der Zsolnay Verlag schließt seine Wallanderserie auch gestalterisch gebührend ab. Für den Schutzumschlag verwendet er eine Abbildung der Medusa Rondanini (ca. 440 v. Chr.), die womöglich vom antiken Bildhauer Phidias stammen könnte. Heute kann die Plastik in der Glyptothek in München betrachtet werden.
Wer diese Rezension gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für Buchbesprechungen anderer Wallanderromane oder möchte sich meine Themenseite über Kurt Wallander ansehen.
Fazit:
Natürlich ist der letzte Wallander, Der Feind im Schatten, ein unabdingbares Muss für alle, die dem schwedischen Kult-Kommissar durch alle vorangegangenen Abenteuer gefolgt sind. Auch wenn es kein Abschied mit Pauken und Trompeten ist. Auch wenn sich Kurt Wallander eher leise davonschleicht, statt sich ein Denkmal zu setzen. Aber wahrscheinlich ist das Leben tatsächlich so: Kaum einer tritt mit einem fulminanten Kracher von der Bühne ab. Wir gehen doch alle auf leisen Sohlen davon.
Passend dazu gibt es von meiner Seite auch kein laut knatterndes Feuerwerk an Bewertungssternen. Der Feind im Schatten bekommt aber richtig gute, grundsolide drei von fünf möglichen Sternen. Wallander geht so, wie er siebzehn Jahre zuvor gekommen ist, und hat sich einen festen halben Meter Platz in meinem Bücherregal gesichert.
Henning Mankell: Der Feind im Schatten
Paul Zsolnay Verlag, 2010
* * * * *
Wenn Du über diese Links bestellst, erhalte ich eine kleine Provision auf Deinen Einkauf (mehr darüber)