Obwohl T. Coraghessan Boyle, US-amerikanischer Autor von mittlerweile siebzehn Romanen, längst mehr als ein Geheimtipp ist, hatte ich vor Drop City noch keinen seiner Texte gelesen. Das wird sich jetzt ändern. Denn seine rasante Geschichte über die Konflikte zwischen enttäuschten Utopien einer kalifornischen Hippiekommune und den viel bodenständigeren Anforderungen des Überlebens in der Wildnis Alaskas hat meinen Hunger nach mehr Boyle geweckt.
„Drop City“ ist der Name einer Hippiekommune in der Nachbarschaft der kalifornischen Stadt Sonoma. Die Romanhandlung setzt im Juni 1970 ein; längst nach dem Höhepunkt des gelebten Nirvana, nach Easy Rider. Das Szenario ist romantisch bis fantastisch: Die Kommune lebt im pausenlosen Traumsommer. Sie verfügt über eigene Ziegen, eine Sammlung von Schallplatten, die weltweit ihresgleiche sucht (Jimmy Hendrix, Jefferson Airplane, Janis Joplin, Country Joe and the Fish, …). Es gibt Zucchini im Garten, Acid im Orangensaft, Marihuanakekse. Und freie Liebe zwischen den wechselnden Bewohnern, den langhaarigen „Freaks“ und BH-befreiten „Bräuten“. – Was mehr braucht der Mensch?
Leben in Utopia
Doch die Idylle, die das „Millionen-Kilowatt-Lächeln“ seiner zugedröhnten Bewohner verspricht, trügt. Längst bröckelt nämlich die Fassade. Denn das Versprechen, ein jeder dürfe hier ganz einfach „nur sein Ding durchziehen“, lässt sich nicht mehr einhalten: Der Abwasseranschluss der Wohngebäude ist überfordert. Überall liegen Exkremente in den Büschen. Niemand fühlt sich mehr verantwortlich für die Angelegenheiten, die menschliche Gemeinschaften am Leben erhalten.
Und auch das Traumbild der freien Liebe hat Risse bekommen: Die Protagonistin Star ist – wie auch einige der anderen Frauen – nicht mehr bereit, mit jedem ins Bett zu steigen. Sie nimmt also in Kauf, als verklemmt eingestuft zu werden und schlechtes Karma fürs nächste Leben zu sammeln. Star verweigert sich Ronnie, alias Pan, ihrem Jugendfreund und bisherigen Begleiter. Die junge Frau wendet sich statt dessen dem fahnenflüchtigen Neuankömmling Marco zu. Die Situation auf Drop City eskaliert, als eine Gruppe fragwürdiger Neu-Hippies eine vierzehnjährige Ausreißerin vergewaltigt.
Der Gegenentwurf
Nach knapp hundert Seiten springt die Handlung nach Alaska. Genau genommen befinden wir uns in Boynton, der letzten befestigten Ortschaft westlich von Fairbanks. Drei Kanustunden von Boynton lebt dort Sess Harder, der „letzte echte Amerikaner“: Schweigsam, gerecht und unter keinen Umständen bereit, Provokationen ohne passende Antwort hinzunehmen. Sess lebt vom Fallenstellen und von seinen ausgeprägten Fähigkeiten zum Überleben in der eiskalten Wildnis des nördlichsten US-Bundesstaates.
Diesem amerikanischen Prototypen zur Seite steht seine Braut Pamela. Pam war ihr Leben als moderne Städterin leid. Sie wählte nach dem Schema der TV-Bachelorette den Mann ihres Lebens aus drei konkurrierenden Trappern aus: letztlich Sess Harder.
Sess‘ (und Pamelas) Gegner weitab jeder Gerichtsbarkeit ist Joe Bosky, ein überheblicher und brutaler Nachbar. Die Qualität der gegenseitigen Attacken zwischen Joe und Sess steigert sich beständig.
Ausbruch und Aufbruch
In diese Welt des Überlebenskampfes am Thirty-Mile-River platzt eines schönen Tages die Hippiekommune von Drop City. – Was war passiert?
Nach einigen Schockerlebnissen in der Gemeinschaft der Brüder und Schwestern stand die Situation auf der Farm auf der Kippe. Als die Behörden den Abriss der Gebäude verfügen, packen die Freaks und Bräute um den Anführer Norman Sender ihre sieben Sachen. Sie verlegen die Kommune nach Alaska. Denn dort hatte Sender von einem Onkel ein Grundstück geerbt. Dieser Onkel war einst Nachbar, Mentor und Lehrer Sess Harders. Und eben dieser Sess bekommt es nun mit ungewohnter Nachbarschaft zu tun: mit den Hippies von Drop City, die ihre Kommune eins zu eins nach Alaska zu verlegen versuchen.
Der weitere Verlauf der Geschichte erzählt von den Schwierigkeiten, mit denen sich die Hippies konfrontiert sehen in einer Umgebung, die keine Fehler verzeiht. Aber es geht auch um unverhoffte Freundschaften. Und wir erleben Persönlichkeitsentwicklungen, mit denen niemand, am wenigsten der Leser, gerechnet hat.
Boyle erzählt vom persönlichen Scheitern und von Erfolgen. Die Handlung gipfelt in einer gnadenlosen Konfrontation am Polarkreis, die im Laufe der Handlung immer unausweichlicher wurde. In ihrer Konsequenz und Härte lässt diese den Leser buchstäblich erschauern. – Randnotiz an alle: Trinke keinen Schnaps, wenn das Thermometer zig Grade unter Null anzeigt!
Reiz und Magie der Geschichte
Der primäre Reiz von Drop City für die Leserschaft in meinem Alter mag aus einer Sehnsucht heraus entstehen. Die Hard-Core-Hippiezeit haben wir nämlich gerade nicht mehr selbst durchlebt. Doch dank des Beispiels von nur wenig älteren Geschwistern oder Cousins hatten wir das Gefühl, etwas verpasst zu haben. T. C. Boyle rückt nun das Ikonenhafte der Peace-People zurecht, ohne die Ernsthaftigkeit der Grundidee in Frage zu stellen. Seine Hippies stehen am Rande eines Entwicklungsschrittes, mit dem der eine besser, der andere schlechter zurecht kommt.
Die Magie der Geschichte entwickelt sich aus der meisterlichen Fähigkeit des Autors, Personen und Orte zu beschreiben oder zu erschaffen, die den Leser geradezu in die Handlung hineinsaugen. Dies gilt für die kalifornische Kommunenszene ihre Unzulänglichkeiten und ihre exotischen Bewohner einerseits; ebenso jedoch für die eigenbrötlerischen Hinterwäldler und die natürliche Schönheit und Gefahren der unberührten Natur Alaskas. Die verschiedenen Standpunkte, gedankliche und soziale Hintergründe der handelnden Gruppen, vermittelt Boyle dadurch, dass er abwechselnd aus der jeweiligen Sicht seiner fünf Protagonisten erzählt – Star, Marco und Ronnie, sowie Sess und Pamela.
Einschränkungen?
Ich weiß gar nicht, welchem der beiden Handlungsstränge, die sich aufeinander zubewegen, ich mit mehr Neugier und mehr Freude am Lesen folgte. Beide haben durchaus ihre Glanzlichter, aber auch ein paar Hänger. Die Reise der Hippiekommune und schon deren Vorbereitung empfand ich als leicht ermüdend. Auch die Geschichte um Pamelas Auswahlprozess ihres Lebenspartners in Alaska hielt ich für unrealistisch. Von solchen, sehr raren Passagen abgesehen hat mich Drop City von vorne bis hinten maximal gefesselt.
Drop City ist Boyles neunter Roman und erschien drei Jahre nach Ein Freund der Erde und nur eines vor Dr. Sex.
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Wer diese Rezension gern gelesen hat, interessiert sich eventuell auch für das Autorenprofil, das ich zu T. C. Boyle angelegt habe und in dem auch alle anderen Buchbesprechungen von Boyle-Romanen auf dieser Website zu finden sind.
Fazit:
Wer in Bezug auf sein Alter allzu weit von den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts entfernt ist, wird vielleicht Schwierigkeiten haben, die Romanhandlung nachzuvollziehen. Zu fremd und zu unverständlich dürfte das prä-feministische, sex-, drogen- und alkoholfixierte Kommunenleben sein. Und vor allen Dingen könnten die ständig eingewobenen Verweise auf damals aktuelle Rockgruppen, auf deren Songs und Texte aus der Zeit gefallen wirken.
Lesern im passenden Alterskorridor jedoch dürfte T. C. Boyles Abrechnung mit dem Lebensentwurf einer Generation gefallen; vor allen Dingen deshalb, weil der Autor ohne jeden Sarkasmus das Versickern dieser Bewegung in den Notwendigkeiten des Alltagslebens beschreibt. Aus meiner Sicht hat sich Boyle mit Drop City ohne Zweifel alle fünf möglichen Sterne verdient. Mir ist aber schon bewusst, dass jüngere und ältere Leser als ich wahrscheinlich nicht ganz soviel Gefallen an diesem Roman haben werden. Der Roman ist und bleibt dennoch eine meiner drei Top-Leseempfehlungen.
T. C. Boyle: Drop City
🇺🇸 Viking Press, 2003
Carl Hanser Verlag, 2003
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