Das karmesinrote Blütenblatt

Das karmesinrote Blütenblatt
Michael Faber, 2002

Als Michael Fabers Roman im Jahr 2002 er­schien, ur­teil­te das Time Maga­zine über­schwäng­lich: „Die­ses Buch zu lesen ist bes­ser als Sex!“ Der­lei Wer­bung macht natür­lich Appe­tit auf die Geschich­te. Doch nach der Lek­türe muss ich lei­der anmer­ken, dass der Ver­gleich aus der Time-Rezen­sion jeder Grund­lage ent­behrt. Trotz­dem, das will ich gleich hinter­her­schie­ben, ist der Roman ein abso­luter Lecker­bissen für Lese­ratten.

Die Roman­hand­lung trägt sich im vikto­ria­nischen Lon­don zwi­schen Novem­ber 1874 und Febru­ar 1876 zu. Etwa zwei Drit­tel der Bevöl­ke­rung gehö­ren der sozia­len Unter­schicht an. In der ersten Hälf­te des Jahr­hun­derts verschlim­merten sich die unge­sun­den und unhy­gieni­schen Lebens­verhält­nisse in den briti­schen Städ­ten. Die obere Mittel­schicht hin­ge­gen strebte einen Lebens­wan­del nach aristo­krati­schem Vor­bild an.

Das karmesinrote Blütenblatt – Zur Handlung

Der rote Faden der Geschich­te ist schnell erzählt: William Rack­ham, müßig­gehen­der Erbe eines Parfüm­her­stellers und Ehe­mann einer über­spannten Dame aus ade­liger Fami­lie, trifft auf die neun­zehn­jährige Prosti­tuier­te Sugar. Das Mäd­chen zieht den älte­ren Mann in ihren Bann. Er nimmt sogar das verhasste Familien­geschäft auf, nur um stets flüs­sig zu sein. Ausrei­chend vorhan­denes Geld soll es ihm ermög­lichen, sich Sugar als persön­liche Kurti­sane zu halten. Das Strich­mädchen sieht seine Chance gekom­men.

Sie schmeichelt sich ein, macht sich unent­behr­lich und zieht schließ­lich als Gouver­nante der klei­nen Toch­ter der Rack­hams in deren Haus­halt. Der vermeint­liche soziale Auf­stieg ent­puppt sich jedoch rasch als Enttäu­schung. Die Geschich­te gipfelt schließ­lich in einer Kurz­schluss­handlung Sugars, die ich zwecks Erhalt der Lese­spannung lieber für mich behalte.

Der Autor glie­dert die 1.053 Roman­seiten in fünf Teile, die dem eben angeris­senen Ablauf ent­spre­chen: Die Straße, Das anrüchige Haus, Die Privat­wohnung und das Gesell­schafts­leben, Der Schoß der Fami­lie und letzt­lich Die weite Welt. Ober­fläch­lich betrach­tet beschränkt er sich bei seinen Erzäh­lun­gen auch auf den offen­sicht­lichen Ablauf der Geschichte. Dieser für sich allein genom­men wäre aller­dings ein mäßi­ges Vergnü­gen. Sonder­lich einfalls­reich oder über­raschend ist die Rahmen­hand­lung keines­wegs.

Das karmesinrote Blütenblatt – Pornographie? – „Besser als Sex“?

Diese Erkenntnis könnte den Schluss nahe legen, Faber habe ledig­lich ein Trans­port­mittel für porno­grafi­sche Schilde­run­gen gesucht. Dies trifft jedoch nicht zu. Zwar geizt der Autor nicht mit teil­weise detaillier­ten Beschrei­bun­gen der Begeg­nungen zwischen Prosti­tuier­ten und deren Freier. Aber wie auch in Das sexu­elle Leben der Cathe­rine M. fehlt den Schilde­run­gen das erre­gende Moment.

Selbst wenn Sperma in die verschiedensten weiblichen Körperöffnungen spritzt, betrachtet Michael Faber die Geschehnisse aus unbeteiligter Perspektive. Er verwendet unspektakuläres Vokabular und stellt die Szenen in Zweckzusammenhänge, so dass erotische Lust beim Lesen kaum aufkommen mag. Insofern ist der erwähnte Vergleich mit Sex durch das Time Magazine schlichtweg nicht zutreffend.

Wirkliche Lese-Lust entsteht viel­mehr durch die Geschichten hinter der Geschichte. Autor Faber räumt zwar im Abspann ein, „dass diese Erzäh­lung zweifel­los voller Irr­tümer steckt“. Dennoch ist es ihm gelun­gen, ein farben­prächti­ges, mit Original­gerü­chen ausge­statte­tes, drei­dimen­siona­les Gemälde des Lebens im vikto­riani­schen Lon­don zu erschaffen.

Man lebt quasi Seite an Seite mit den Haupt­perso­nen des Romans, der nicht etwa nur aus Sicht Sugars geschrie­ben ist. Alle auftre­ten­den Figu­ren – insbe­son­ders aber William, dessen Frau Agnes, die Tochter Sophie, der Bruder Henry und dessen erzwun­gen-plato­ni­sche Liebe Emmeline Fox – tei­len ihre Gedan­ken, Ängste und Vorlie­ben mit dem Leser. Wir tau­chen  ein in eine längst verges­sene Welt, in deren Gefah­ren und Reize, in deren Moral­vorstel­lungen und Gebräuche. Aus den verschie­denen Sicht­wei­sen des wohl­haben­den Bürger­tums, ihrer Dienst­boten, der Straßen­händler und Dirnen Lon­dons setzt sich ein kom­plexes Puzzle zusam­men. Stück für Stück wird das Lon­do­ner Leben erkenn­bar, so wie es sich gegen Ende des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts zuge­tragen haben mag.

Das karmesinrote Blütenblatt – Gesellschaftlicher Voyeurismus

Michael Faber bedient sich eines Kunst­griffes, um seine Leser­schaft in den Bann der Schil­derun­gen zu zie­hen, der mir persön­lich sehr gefällt. Wie auch Jeffrey Euge­nides in Middle­sex zieht Faber den Leser ganz nah an seine Seite, indem er ihn direkt anspricht und einbe­zieht. Er weist uns den Weg durch das Buch wie der kundig­ste aller Londo­ner Stadt­führer, verrät kleine Geheim­nisse, um die keine der Roman­figu­ren weiß. Der Autor macht uns zu Kompli­zen, die seine Prota­gonis­ten mit voyeuris­tischem Vergnü­gen beglei­ten.

Nach all meinen Lob­gesän­gen auf die intellek­tuelle Keusch­heit des Romans muss ich nun aber trotz­dem darauf einge­hen, dass das Haupt­thema die Prosti­tution im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert behan­delt. Die Prota­gonis­tin Sugar ist schließ­lich eine neun­zehn­jährige Dirne, der im Alter von drei­zehn von der eige­nen Mutter die ersten Freier zuge­führt wur­den. Neben Sugar tritt eine Viel­zahl weite­rer Prosti­tuier­ter in Erschei­nung. Einige dieser Berufs­kolle­gin­nen spie­len durch­aus tr­agen­de Neben­rol­len, der Groß­teil aber bleibt anonym. Dank all dieser Auf­tritte bekommt der Leser ein anschauvliches Bild der Lebens­um­stände von „gefal­lenen Frauen“ im vikto­riani­schen Eng­land.

Insbesonders durch die gedank­lichen Aus­flüge Sugars in ihre Ver­gangen­heit als Kinder­hure kann man sich ausma­len, wel­che seeli­schen und körper­lichen Grau­sam­keiten Prosti­tuierte erdul­den mussten. Von den psychi­schen Folgen kann man sich zumin­dest annä­hernd ein Bild machen, wenn Sugar Frag­mente aus ihrem selbst geschrie­benen, gehei­men Roman zum Besten gibt. In ihrer Fanta­sie ist sie stets damit beschäf­tigt, ihre Freier zu miss­han­deln und gar abzu­schlach­ten.

Kritikpunkt

An dieser Stelle muss ich aller­dings auch gering­fügig nega­tive Kritik an Fabers Buch ein­flie­ßen las­sen. Dieser nie­mals abge­schlos­sene, geschweige denn ver­öffent­lichte Roman Sugars wirkt zumin­dest auf mich aufge­setzt und will sich nicht so recht einfü­gen in die ansonsten so perfekt gestaf­felten Roman­szenen. Tatsäch­lich stören – nicht etwa verstören! – mich diese Sequen­zen. Selbst wenn der unvoll­endete Roman im Roman zuletzt noch eine ziem­lich wich­tige Rolle im Hand­lungs­verlauf erhält, bin ich der Ansicht, der Autor hätte die Bedeu­tung der Prosti­tuierten­litera­tur deut­licher akzen­tuieren sollen. Dass er dazu in der Lage gewe­sen wäre, bewei­sen andere Bücher im Buch, näm­lich die Tage­bücher Agnes Rack­hams. Diese Schrif­ten dokumen­tieren auf bestür­zende Weise die Umstände und Konse­quen­zen, die letzt­lich zum Ver­fall der Ehe­frau von William führ­ten.

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Der Roman wurde im Jahr 2011 als britische Fernsehserie in vier Episoden verfilmt. Gedreht wurde in Kent und Liverpool. In der Rolle Sugars ist die Schauspielerin Romola Garai zu sehen, Regie führte Marc Munden. Die Verfilmung wurde vornehmlich negativ aufgenommen, im Vergleich zum Roman sei die Inszenierung „chaotisch und unkonzentriert“, weise eine „gewisse Schlaffheit“ und „einen Mangel an Charakterentwicklung“ auf (Zitate von John Preston, The Daily Telegraph).

Fazit:

Wer ein Buch lesen möchte, das „besser als Sex“ ist, kann Das karme­sin­rote Blüten­blatt getrost zur Seite legen. Der Roman ist keine ero­ti­sche Lite­ra­tur. Wer jedoch daran inte­ressiert ist, in das pralle Leben der briti­schen Haupt­stadt vor 130 Jahren ein­zu­tau­chen, ist mit die­sem Roman bes­tens bedient. Michael Faber erzählt ein­fach meister­lich, spart nichts aus und erspart dem Leser auch die uner­freuli­cheren Facet­ten der histo­ri­schen Gesell­schaft nicht.

Wären da nicht ein paar Schwä­chen im Aus­bau eini­ger weni­ger Perso­nen und Zusam­men­hänge, ich hätte nicht gezö­gert, dem Roman die Höchst­punkt­zahl zuzu­sprechen. Vier von mögli­chen fünf Ster­nen aber ist mir Das karmesin­rote Blüten­blatt auf jeden Fall wert.

Michael Faber: Das karmesinrote Blütenblatt
List Verlag, 2002

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