
Die Erwartungshaltung unter den Fans der Romanserie ist enorm, der Run auf die Verkaufsregale schlägt alle Rekorde. Allein schon am ersten Tag wurden in den USA 6,9 Millionen Bände der sechsten und voraussichtlich vorletzten Folge abgesetzt, in Großbritannien weitere zwei Millionen. Das literarische Phänomen setzt die Autorin Joanne Rowling unter Druck. Ist es ihr mit Harry Potter und der Halbblutprinz gelungen, die gespannte Leserschaft erneut in den Bann der Geschichte um den heranwachsenden Zauberer Harry Potter zu ziehen?
Bemüht hat sie sich ohne Zweifel. Zumindest zu Beginn durchbricht sie das Handlungsmuster, das nach fünf Bänden langweilig zu werden drohte. Statt nämlich der üblichen Einleitung aus dem Hause der Dursleys, in dem der Protagonist gelangweilt auf den Beginn des Schuljahres wartet, lässt Rowling diesmal den neuen Minister für Zauberei beim britischen Premier – unverkennbar Tony Blair – vorsprechen. Grund dafür sind Anschläge in der Welt der nicht-magischen Muggel, die der Bösewicht Voldemort zu verantworten hat. – Ein deutlicher Versuch, die Romanhandlung in das ganz reale, aktuelle Klima der Bedrohung durch islamistische Terrorgruppen einzuweben.
Im Anschluss daran findet sich eine Szene, in der die Mutter von Draco Malfoy, dem Gegenspieler Harrys, Professor Snape einen Schwur abnimmt. Denn er soll ihrem Sohn während des Schuljahres bei einem geheimnisvollen Auftrag beistehen. Das Gerüst für den Konflikt scheint zu stehen.
Zur Handlung
Doch nach diesem ungewohnten Start gleitet die Handlung leider in allzu bekannte Verlaufsschemata zurück. Harry Potter beendet die Schulferien erneut bei der befreundeten Familie Weasley. Danach reist er mit dem Hogwarts-Express zur Zaubererschule. Auch dort verläuft das Leben ebenfalls in längst gewohnten Bahnen. Krach mit Malfoy, Ärger mit Severus Snape, dem ewigen Drangsalierer Harrys, und die üblichen Querelen um Quidditch. Natürlich ergeben sich auch im sechsten Band unerklärliche Unfälle und Anschläge auf Leib und Leben einiger der Romanfiguren. So überlebt Harrys bester Freund Ron einen Giftanschlag nur dank der schnellen Reaktion des Helden. Potter rettet damit einem weiteren Weasley das Leben.
Doch mittlerweile wirken die Attacken Voldemorts und seiner üblen Gefolgschaft ziemlich abgedroschen. Die rechte Spannung will sich einfach nicht mehr einstellen. Über weite Strecken zieht sich die Handlung als matter Abklatsch früherer Abenteuer dahin, zäh wie Kaugummi unter der Schuhsohle. Erst gegen Ende des Romans erhöht die Autorin endlich das Tempo. Sie lässt ihren Protagonisten durch einen Showdown taumeln, der inhaltlich jedoch ebenfalls kaum Überraschungen bietet. Abgesehen vielleicht von der Begegnung mit den lebenden Toten, den Inferi. Letztlich bestätigt der Plot nur Mutmaßungen der Leserschaft.
Ein Übergangsroman
Verlässt Frau Rowling ihre Inspiration? Dies könnte man vermuten. Beim Lesen erkennt man unweigerlich, dass ein Großteil der über sechshundert Buchseiten mit vertrauten, um nicht zu sagen abgedroschenen Handlungsmustern gefüllt wurden. Andererseits hatte die Autorin im vorletzten der angekündigten Romanfolgen zwei wichtige Aufgaben zu erfüllen. Zum einen mussten einige offene Enden erklärt und verknüpft werden. Diese hatte sie nämlich in den fünf vorausgegangenen Bänden konstruiert. Und zum anderen musste sie die Figur des Harry Potter für den letzten Kampf im siebenten Roman so positionieren, dass er als wahrer und einziger Held entweder triumphieren oder untergehen wird können.
Die erste Aufgabe löst Joanne Rowling, indem sie Harrys Mentor Dumbledore seinen Schützling – und gleichzeitig den Leser – über die Vergangenheit seines Widersachers Voldemort aufklären lässt. Schade ist nur, dass dabei die ständigen Zeitreisen in Dumbledores Denkarium auf die Dauer langweilig werden. Besser zu Gesicht gestanden hätte der Geschichte, sich auf literarische Möglichkeiten der Variation zu beschränken.
Ihre zweite Aufgabe, nämlich Harry als eigenständige Heldenfigur aufzubauen, gelingt der Autorin durch eine Wendung, die längst vermutet wurde. Eine der wichtigsten Nebenfiguren wird im sechsten Roman beseitigt. Der Konkurrent kann also Potter seine unangefochtene Protagonistenrolle nicht mehr streitig machen. Auch wenn der Todesfall alles andere als überraschend ist, befindet sich Joanne Rowling am Ende der aktuellen Folge und am Ausgangspunkt des Abschlussromans in einer komfortablen Situation. Sie braucht keine allzu großen Zugeständnisse an Vergangenheitsbewältigung mehr zu machen. Harry Potter wird aus dramatischer Position in ein weit offenes Abenteuer starten können, das Rowling wieder viel Spielraum für hoffentlich überraschende und spannende Ideen gibt.
Erfolgsrezept
Ein paar gute Ideen muss ich Rowling allerdings dann doch zu Gute halten. Die Erklärung zu Voldemorts Unsterblichkeit zum Beispiel, seine Seelenspaltung und -deponie in Trägergefäßen – den sechs sogenannten Horcruxen –, hat Potenzial. Sie dient einerseits dazu, Merkwürdigkeiten wie das Tagebuch des Tom Riddle aus dem zweiten Band zu erklären, und andererseits einen Weg zum möglichen Endsieg über das Böse aufzuzeigen.
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Immer wenn ein Zauberer jemanden tötet, spaltet sich die Seele des Mörders für kurze Zeit in zwei Teile. Mit einem geeigneten Zauberspruch kann man dann einen der beiden Seelenteile in einem beliebigen Gefäß einsperren und dort aufbewahren. Stirbt der Mörder schließlich irgendwann selbst, kann der Horcrux mit jeder Menge Schwarzer Magie zu einer Art Wiederauferstehung des vermeintlich Toten verwendet werden.
Voldemorts Horcruxe
„Der, dessen Name nicht genannt werden darf“, hatte sich nun geradezu selbst übertroffen, von seiner Seele insgesamt sechs Stücke abgespalten und diese in Horcruxe ausgelagert. Voldemort kann also erst dann endgültig sterben, wenn zusätzlich zu seiner aktuellen Seele auch alle sechs anderen Horcruxe vernichtet werden. Den ersten Horcrux hatte Harry Potter, natürlich ohne es zu ahnen, bereits in Band zwei vernichtet: den Taschenkalender Tom Riddles.
Vier weitere Horcruxe sind der Schwarze Ring und ein Medaillon Salazar Slytherins, ein Becher Helga Hufflepuffs, ein Diadem Rowena Ravenclaws, alles Gegenstände aus dem Besitz von Schulgründern Hogwarts. Der sechste Horcrux schließlich ist in Voldemorts Schoßtierchen eingeschlossen, der Riesenschlange Nagini.
Und last but not least hat Rowling noch ein allerletzte, schreckliche Überraschung in Petto. Denn bei seinem Versuch, den Säugling Harry zu töten, hatte Voldemort unbeabsichtigt einen siebenten Teil seiner Seele abgespalten und in Harry Potter selbst eingeschleust. Dies ist der Grund für die merkwürdige Verbindung zwischen den beiden Widersachern. Dokumentiert ist diese Verbindung in einer kryptischen Weissagung Sibyll Trelawneys:
Der Eine mit der Macht, den Dunklen Lord zu besiegen;
jenen geboren, die ihm drei Mal die Stirn geboten haben;
und der Dunkle Lord wird Ihn als Ebenbürtigen kennzeichnen, aber Er wird eine Macht besitzen, die der Dunkle Lord nicht kennt;
und der Eine muss von der Hand des Anderen sterben, denn keiner kann leben, während der Andere überlebt;
der Eine mit der Macht, den Dunklen Lord zu besiegen, wird geboren werden, wenn der siebte Monat stirbt.
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Auch die Konstruktion einer Begräbnisfeier in der Welt der Hexen und Zauberer im letzten Kapitel gefällt mir gut. Denn selbst wenn sich Joanne Rowling beim Ablauf an die Protokolle der normalsterblichen Welt hält, verzichtet sie immerhin auf gängige religiöse Elemente. Vielmehr verpasst sie der Zeremonie einen heidnischen Schlusspunkt, der einen perfekten Aufhänger für erneuten Händel mit den christlichen Kritikern der Romanserie hergibt.
Als lupenreiner Übergangsroman ist Harry Potter und der Halbblutprinz zum Einstieg für Neulinge überhaupt nicht geeignet. Wer nicht über recht genaue Erinnerungen an die fünf vorausgehenden Bände verfügt, verliert sich schon nach kurzer Lesestrecke in Anspielungen, Fantasiebegriffen ohne jede Erklärung und einer höchst unübersichtlichen Schar an Romanpersonal. Denn neben einer ganzen Menge bekannter Figuren stellt Frau Rowling auch einige neue Charaktere vor. Aber der Großteil sowohl der Alten, als auch der Neuen dienen nur als verbale Ornamente; sie alle spielen inhaltlich keine Rolle, wie man am Ende des Buches enttäuscht feststellt.
Zielgruppen
Für hartgesottene Fans des Zaubererlehrlings ist jedoch gerade diese Folge unentbehrlich. Immerhin erklärt sie, was der Leser schon immer über Harry Potter wissen wollte, auch wenn die Autorin die erforderlichen Zentralinhalte fantasie- und abwechslungsreicher unterfüttern hätte können, um die Leserschaft bei Laune zu halten.
Die Zielgruppe der pubertierenden, mehrheitlich weiblichen Fangemeinde wird zwar begeistert sein, wenn sich die Freundesgruppe um Harry mit wechselnden Partnern durch die Romankapitel knutscht. Wer nicht geküsst werden will, erhält nach Zaubererart den nötigen Schubs durch Verabreichen von Liebestränken. Auf die Dauer aber vermissen wir an der Sommernachtsorgie auf Schloss Hogwarts shakespearsche Geniezüge. Die Knutscherei wäre besser aufgehoben in einem weitaus preiswerteren Groschenroman. Aber immerhin habe ich meinen englischen Wortschatz ohne nachzuschlagen aus dem ständig wiederkehrenden Kontext um einen wichtigen Begriff des Alltagslebens erweitern können: to snog heißt ohne jeden Zweifel knutschen!
Hat Dir diese Buchbesprechung gefallen? Dann interessierst Du Dich vielleicht auch für meine Rezensionen zu den anderen sechs Harry-Potter-Romanen? Du findest sie auf meiner Autorenseite über Joanne K. Rowling.
Fazit:
Joanne Rowlings Versuch, in ihrer Geschichte gleichzeitig aufzuräumen, ihre geistigen Kinder zu hüten und eine spritzige Party für die Leserschaft zu geben, ist gescheitert. Harry Potter und der Halbblutprinz ist zwar allen Interessierten als Kompendium zu den Folgen eins bis fünf zu empfehlen. Erzählfreude und Spannung seiner Vorgänger jedoch vermisse ich. Im Großen und Ganzen wirken die Romanszenen blass und konturlos.
Die Diskrepanz zwischen Formulierung und Hintergrund des Romantitels ist symptomatisch: Erwartungen, die an die geheimnisvolle Figur eines „Prinzen der Halbblüter“ geknüpft wurden, bleiben bis zum Ende hin unerfüllt. Was es mit dem Prinzen auf sich hat, findet zuletzt eine logische, aber unbefriedigende, ja geradezu läppische Erklärung.
Nein, Frau Rowling, mehr als zwei von möglichen fünf Sternen habe ich für diese Geschichte nicht übrig.
Joanne K. Rowling: Harry Potter and the Half-Blood Prince
| Harry Potter und der Halbblutprinz
🇬🇧 Bloomsbury Publishing, 2005
🇩🇪 Carlsen Verlag, 2005
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