Die Autorin Charlotte Roche hat einen Erstlingsroman veröffentlicht, der sich von Frühjahr bis Herbst 2008 ein halbes Jahr lang auf dem ersten Platz vieler deutscher Bestsellerlisten gehalten hat. Diese ungewöhnliche Beständigkeit im Literaturvertrieb wird ergänzt durch die ebenso ungewöhnliche, scharfe Diskrepanz zwischen sensationellen Verkaufszahlen und der durchgängigen Ablehnung durch den sogenannten ernsthaften deutschen Literaturbetrieb. Da darf man sich schon fragen, welche Ursachen dem Buch seinen kommerziellen Erfolg beschert haben.
Eines ist sicher: Der Roman polarisiert. Die einen preisen ihn als genial, andere empfinden ihn als pornografisch oder einfach ekelerregend. Gleichgültig steht dem Text wohl kein(e) Leser¦in gegenüber.
Rezeption
Die Fangemeinde von Frau Roche lässt sich in drei Kategorien einteilen: Zum ersten sind da sicher diejenigen, die sich mehr oder weniger insgeheim von Schilderungen sexueller Praktiken und Vorgänge anregen lassen. Insbesondere wohl von Praktiken, die in unserer Gesellschaft zu den Tabuthemen gehören.
Daneben stehen solche Leser, die den Roman als gelungene Satire auf den Hygiene- und Schönheitswahn begreifen. Ihnen gefällt das überzeichnete Bild der Romanheldin als Gegenentwurf zur sterilen Welt der Frauen aus Werbung und Fernsehen.
Und zuletzt verstehen einige Leser¦innen die Geschichte als Re-Aktion zur etablierten feministischen Bewegung. Damit stünde die Autorin im Kontrast zum Beispiel zu Alice Schwarzer. Schwarzer allerdings ist glücklicherweise nie der Versuchung erlegen, ihre Ideen und Theorien mit ihrem Privatleben zu vermischen. Frau Roche wird nun unterstellt, sie bringe mit ihrer exhibitionistisch anmutenden Parabel auf die moderne Frau frischen Wind in die verstaubten Ideale des Feminismus.
Der Autorin selbst gefällt vermutlich diese letztgenannte Interpretation. Sie ist der Ansicht, dass der Feminismus in Deutschland von ihrem neuen Blickwinkel profitiert. Andererseits räumt sie ein, dass ihre Absicht darin bestand, das Publikum zu unterhalten. Sie lässt also ihren Lesern die Illusionen, egal in welche der drei Richtungen diese tendieren.
Einerseits verzichtet sie auf das Öffnen von Leserbriefen aus Desinteresse an pornografischen Kontakten, wie sie sagt. Andererseits entkräftet sie auch nicht die weniger seriösen Interpretationen ihres Romans. In einem Interview, das sie direkt nach der Veröffentlichung des Romans gegeben hatte, bezeichnete sie immerhin den Inhalt als zu siebzig Prozent autobiografisch. Später distanzierte sie sich jedoch von dieser Aussage und nannte die Protagonistin Helen eine „Comedy-Version“ ihres eigenen Lebens.
Zur Handlung
Auch wenn mittlerweile der Inhalt des Romans weitestgehend einer breiten Öffentlichkeit bekannt sein sollte: Es ist an dieser Stelle angebracht, einmal kurz über den Plot des Romans zu schreiben. Kurz jedoch allein deshalb, weil es in der Tat wenig dazu zu sagen gibt.
Die achtzehnjährige Helen Memel schreibt im Tagebuchformat über einen Klinikaufenthalt. Diesen muss sie über sich ergehen lassen, nachdem sie sich bei der Rasur des Intimbereiches eine Analfissur zugezogen hatte. Alleine dieser Einleitungssatz lässt bereits erahnen, mit welch schonungsloser Detailtreue die Schilderung des Krankenhausaufenthaltes im Roman von statten geht.
Das junge Mädchen liebt es, den eigenen Körper zu erforschen und Experimente mit körpereigenen Flüssigkeiten durchzuführen. Sie liebt es, wenn der Geruch ihrer Vagina auch durch den Stoff der Hosen wahrnehmbar ist, und sie verliert sich in minutiösen Schilderungen über die Technik der Masturbation mit Duschköpfen. Helen kennt also weder Scham noch Tabus. Im no-go-freien Plauderton schreibt sie sich durch den Genesungsprozess nach ihrer Rektaloperation.
Einordnung
Lassen wir einmal den pornografischen oder meinetwegen sexuell orientierten Anteil des Buches beiseite. – Was bleibt dann noch übrig?
Ohne den Tabubruch bleibt das Tagebuch eines verstörten Teenagers, der das Schicksal vieler Scheidungskinder teilt. Helen schreibt über die fehlende Beziehung zu ihrer Familie, über mangelnde persönliche Bindung. Sie erlebt das Schlechtmachen des Partners durch die Elternteile. Und sie versucht ihre eigenen Schuldgefühle zu überwinden, indem sie Klinikbesuche so arrangiert, dass sich ihre Eltern am Krankenbett treffen und dadurch womöglich wieder zueinander finden sollen.
Eine weitere Dimension ihrer Familiengeschichte betrifft die Erkenntnis, oder zumindest der Eindruck, in einer Erblinie nervenschwacher Frauen zu stehen, die über Generationen gestört und unglücklich waren. Helen will diese Erbschaftskette ein für allemal durchbrechen. Sie verschreibt sich selbst den Zwang zum Glücklichsein. Und nur für den Fall des Scheiterns unterbindet sie die Weitergabe des genetischen Fluches an eigene Kinder. Kaum volljährig hat sich Helen nämlich sterilisieren lassen. Sie führt ein Ersatzfamilienleben mit ihren „Avokadokindern“, die einer ritualisierten Pflanzenzucht aus Avokadokernen entspringen. Ihre Phobie schlägt bis auf den Einsatz des Vokabulars durch. Helens Lieblingswendung im Roman lautet: „Dies gilt es zu verhindern!“
Vor diesem persönlichen Hintergrund ist es kaum verwunderlich, wenn das Mädchen narzisstische Persönlichkeitsstörungen entwickelt bis hin zu Borderline-Symptomen. Die Fixierung auf den eigenen Körper, auf die eigene Sexualität ist eine folgerichtige, verständliche Konsequenz der psychischen Störungen Helens.
Auch formal passt der Roman in dieses Bild. Der Text bleibt nämlich sowohl strukturell, als auch in der Formulierung schwach; eben reine Tagebuchqualität.
Verdacht
Die ganze Geschichte gehört viel eher auf den Schreibtisch eines Psychotherapeuten als in den Buchhandel. Die Leserschaft sollte sich unbedingt die Frage stellen, ob sich der Romanerfolg auch eingestellt hätte, wenn die Geschichte von einer anderen Autorin geschrieben worden wäre.
Denn Charlotte Roche, dreißig Jahre alt, lebt mit Ehemann und Sohn in Köln. Ihr Mann heißt Martin Keß, ist Gründer von Brainpool, einem Unternehmen, das bekannte TV-Schaffende wie Stefan Raab, Anke Engelke und Oliver Pocher unter Vertrag hat. In 2003 trat Herr Keß als Produzent einer Fernsehserie für PRO7 auf, die unter dem Titel „Charlotte Roche trifft …“ lief.
Fazit:
Der Verdacht liegt nahe, dass bei der Romanplatzierung von Feuchtgebiete mehr Vitamin B im Spiel war als schriftstellerisches Geschick. Böse Zungen behaupten gar, das Buch sei der Versuch, das fragwürdige Niveau von TV-Formaten mit dem Begriff „Superstar“ im Titel in die Literatur zu transportieren. Persönlich kann ich mich nicht der Fangemeinde aus Satire- oder Feministenecke anschließen. Andererseits möchte ich Frau Roche auch nicht den Vorwurf machen, Beziehungen und ihre eigene Popularität als Fernsehmoderatorin auszuweiden, um mit reißerischem Format Leser abzuschöpfen. Ich beschränke mich auf die Bewertung der seichten Story, deren mäßiger Umsetzung und fehlenden handwerklichen Geschicks. Von fünf möglichen Sternen bleibt danach nur einer übrig. Immerhin mit Hinweis auf eine möglicherweise tröstliche Relativierung: Es gibt noch deutlich Schlimmeres auf dem deutschen Buchmarkt.
Charlotte Roche: Feuchtgebiete
DuMont Buchverlag, 2008
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