Tod eines Kritikers

Tod eines Kritikers
Martin Walser, 2002

Nach der Ankündigung der Frank­furter All­gemei­nen Zei­tung, sie verwei­gere dem Schrift­steller Martin Walser den geplan­ten Vorab­druck des Buches, da es sich um einen anti­semi­ti­schen Roman handle, hat Tod eines Kritikers den Litera­tur­skan­dal schlecht­hin im Früh­jahr 2002 aus­gelöst. Dem Ver­kauf des Buches hat die har­sche Kritik frag­los gut getan, den Ruf des „Opfers“ Marcel Reich-Ranicki hat sie zemen­tiert.

Aus der Warte eines lange Zeit anonym blei­ben­den Michael Landolf schreibt Martin Walser über die Gescheh­nisse nach einer litera­tur­kriti­schen Fernseh­sendung namens Sprech­stunde. In der Sen­dung zer­fetzte Kriti­ker­papst André Ehrl-König das neuste Werk des Schrift­stel­lers Hans Lach, Mäd­chen ohne Zehen­nägel, in der Luft. Zur Feier­stun­de nach der Sen­dung in der Villa eines bekann­ten Verle­gers verschafft sich Lach unge­laden Zugang und bedroht Ehrl-König: „Die Zeit des Hin­neh­mens ist vorbei. Sehen Sie sich vor, Herr Ehrl-König. Ab heute nacht Null Uhr wird zurück­ge­schlagen.“

Nach der Feier ver­schwin­det der Kritiker­papst, nur sein mit Blut ver­schmier­ter Pull­over wird gefun­den. Lach gerät unter Mord­ver­dacht, wird ver­haf­tet. Erst gegen Ende des Romans taucht Ehrl-König wohl­behal­ten wieder auf. Er hatte einige Zeit bei einer seiner Bewun­de­rin­nen verbracht, ohne sich zu melden.

Tod eines Kritikers – Worum es geht

Die Buch­seiten zwischen dem Ver­schwin­den und der Auf­erste­hung des Litera­tur­papstes füllt der Autor Walser mit den Nach­for­schungen Landolfs. Dieser glaubt nicht an eine Tat Hans Lachs. Er ver­sucht, durch Gespräche mit Perso­nen des Litera­tur­betriebs, Freun­den und Fein­den von Ehrl-König und Lach, dessen Un­schuld nach­zu­weisen. Erst nach der Auf­lö­sung des ver­meint­lichen Mord­falles outet sich Michael Landolf als Hans Lach selbst.

Michael Landolf, Hans Lach, Martin Walser – alle drei sind eine Person. Dass Walser mit der Figur des Kriti­ker­papstes Ehrl-König tat­säch­lich Marcel Reich-Ranicki meint, ist jedem sofort klar, der ein paar Male Das Lite­rari­sche Quar­tett im Fern­sehen verfolgt hat. Unver­hoh­len be­schreibt der Autor die Person Ehrl-König, die sich benimmt wie der reale Reich-Ranicki, die „spericht“ wie Reich-Ranicki und argu­men­tiert wie Reich-Ranicki.

Auch histo­rische Paral­lelen festi­gen die Zusam­men­hänge zwi­schen Iden­titä­ten des Romans und der realen Litera­tur­szene Deutsch­lands. So wie im Buch Ehrl-König den guten Roman von Philip Roth dem schlech­ten von Lach gegen­über­stellt, ver­fuhr in der Reali­tät einst Reich-Ranicki mit den Wer­ken von Martin Walser und eben des glei­chen Philip Roth. Wahr­schein­lich wird auch der Rest der han­deln­den Roman­figu­ren sein Spiegel­bild in der Reali­tät finden. Allein, ich kann dies nicht beur­tei­len, da ich in keiner Weise sattel­fester Kenner der deutschen Litera­tur­szene bin.

Tod eines Kritikers – Erfolgsrezept

Was bleibt zu kommentieren, wenn die perso­nellen Zuord­nun­gen zwi­schen Reali­tät und Roman klar sind?

Zum einen muss gesagt werden, dass Reich-Ranicki in der Ge­schich­te sehr schlecht weg­kommt. Walser ver­steht es, einer­seits Respekt und Ach­tung vor der Figur des Kriti­kers in den Vor­der­grund zu stel­len. Auf der ande­ren Seite lässt er jedoch glas­klar durch­blicken, wie ver­achtens­wert, wie ab­scheu­lich der Mann tat­säch­lich ist. Sein Habi­tus, seine Neigun­gen, sein gesamtes Wesen werden analy­siert und vernich­tend beur­teilt. Übrig bleibt ein hoff­nungs­loser Ego­mane, ein sich stän­dig selbst zele­brie­ren­der Popanz, ein Macho ohne Gefühl für Reali­tät, ohne Gna­de für seine gesam­te Umwelt. Zwar impo­tent, aber den­noch sexuell gierig mit an­gedeu­teter pädo­philer Ten­denz. Schlicht­weg: ein Scheu­sal.

Bei seiner Beur­tei­lung gene­riert Martin Walser ein Bild der Objek­tivi­tät, indem er den Ich-Erzäh­ler kaum werten lässt. Viel­mehr schil­dert er ver­meint­liche Tat­sachen und lässt darü­ber hinaus die ande­ren handeln­den Perso­nen ihre Urtei­le über Ehrl-König alias Reich-Ranicki abge­ben. Ein Mei­ster­werk der spit­zen Feder, um nicht zu sagen: der per­fide­sten Ver­leum­dungs­kunst!

Tod eines Kritikers – Ein Rundumschlag

Der Vollständigkeit halber sei noch hinzu­gefügt, dass die gesam­te Litera­tur­szene Deutsch­lands in dem Roman nicht viel besser beur­teilt wird als Reich-Ranicki. Sozu­sagen als Rahmen­hand­lung konstru­iert Walser ein Gerüst aus Eitel­keiten, gegen­seiti­gen Anschul­digun­gen und Ver­achtung. Das ist der zentra­le Grund­tenor des Wer­kes: Der Roman han­delt von der Macht­aus­übung und den Ränke­spie­len des Litera­tur­betriebes in den Zei­ten des Fern­sehens.

Auch sich selbst spart Walser nicht ganz aus. Selbst wenn die höch­ste Form der Selbst­kritik darin be­steht, Hans Lach zwar als sympa­thisch, dabei aber als un­selb­stän­dig und ent­scheidungs­schwach dar­zu­stellen. Aber gerade durch die läss­lichen Schwä­chen, die labi­le Un­schuld des Kon­trahen­ten von Ehrl-König, gewin­nen dessen Kontu­ren noch an Besti­alität.

Ist der Roman antisemitisch?

Der Jude Moshe Zimmer­mann formu­lier­te eine recht gute Dis­kussions­grund­lage zur Beant­wor­tung dieser Frage: „Wer nicht von einer Person, sondern von einem Ver­tre­ter der Juden spricht, der setzt sich dem Vor­wurf des Anti­semi­tismus aus.“
Beim Lesen des Romans habe ich ver­sucht, mir diesen Satz ständig vor Augen zu halten. Nur des­halb ist es mir ge­lun­gen, die Text­passa­gen aus­findig zu machen, die ver­däch­tig sein könn­ten. Einem weniger vor­bela­steten Leser wären solche Stellen wohl kaum auf­gefal­len.

Die Vermutung, Walser schreibe über einen „Ver­tre­ter der Juden“, nicht bloß über den Men­schen Reich-Ranicki wird vor allen Din­gen durch die bereits zu An­fang zitier­te Passa­ge, die Dro­hung Lachs gegen­über dem Kriti­ker als eine verba­le Hitler-Varia­tion, gestützt.

„Als Adolf Hitler seine Kriegs­erklä­rung gegen Polen formu­lierte, war dies auch eine Kriegs­erklä­rung an den damals in Polen leben­den Marcel Reich und seine Familie. Nicht viele europä­ische Juden haben diesen Satz von Adolf Hitler über­lebt.“

So formu­lierte FAZ-Heraus­geber Frank Schirr­macher seine Kritik am Walser-Roman. Er wolle keinen Roman drucken, der den Juden­mord fiktiv nach­hole. Er denke nicht daran, der These, der ewige Jude sei unver­letz­lich, ein Forum zu bieten.

Tod eines Kritikers – Einordnung

Wenn ich aber auf den Gesamt­ein­druck des Romans zurück­denke, kann ich nicht anders als fest­zu­halten, dass ich nie den Ein­druck hatte, Anti­semi­tisches zu lesen. Schirr­machers Gedan­ken­gänge kann ich nicht nach­voll­ziehen. Der Tod eines Kriti­kers ist keine Mord­fanta­sie an einem Über­leben­den des Holo­caust. – Aber die Gedan­ken sind frei. Das ist wohl wahr, und Gedan­ken eines Schrift­stel­lers sind dop­pelt frei.

Zumindest aber handelt es sich bei Martin Walsers Roman um eine beklem­mende Hass­tirade gegen eine Person des öffent­lichen Lebens; gegen einen, der sich Wal­ser zum Feind gemacht hat. Viel­leicht ist diese Tat­sache der eigent­liche Grund dafür, dass die FAZ einen Vor­ab­druck ab­lehnte? Wollte sie sich nicht zum Sprach­rohr eines persön­lichen Rache­feld­zuges machen lassen? Einen sol­chen Gedan­ken­gang könnte ich nach­voll­ziehen. Liefer­ten dann aber die zeit­gleich ver­laufen­den anti­semiti­schen Äuße­rungen von Karsli und Mölle­mann nur den Vor­wand, sich von Walsers Werk zu dis­tan­zieren?

Fazit:

Wer Marcel Reich-Ranicki kennt, wer den einst­mali­gen deut­schen Litera­tur­papst mögli­cher­weise nicht beson­ders gemocht hat, der wird seine Freu­de an Tod eines Kriti­kers haben. Denn selbst wenn man ein­schrän­kend fest­stellt, dass Walsers Beschrei­bungen über­spitzt, gemein und extrem aggres­siv sind, auch wenn man ein­räumt, dass die Persön­lich­keits­rechte nicht nur Reich-Ranickis ver­letzt werden, so muss trotz­dem fest­ge­halten werden, dass Walsers Schreibe bril­lant ist und einfach messer­scharf schneidet.

Rein hand­werk­lich gese­hen, hätte Walser dafür locker vier Sterne ver­dient. Dass ich dann letzt­lich „nur“ drei von fünf mög­li­chen ver­gebe, liegt ledig­lich an einem gewis­sen Un­be­ha­gen an­gesichts dieser auf Papier aus­getra­genen persön­li­chen Fehde.

Martin Walser: Tod eines Kritikers
Suhrkamp Verlag, 2002

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