Der italienische Schriftsteller Fabiano Massimi hat im Januar 2020 einen historischen Roman mit dem Titel L’angelo di Monaco veröffentlicht, der sofort die Bestsellerlisten südlich der Alpen stürmte. Eine spanische Übersetzung mit dem Titel El ángel de Múnich erschien Anfang Juli. Sie wurde ebenso begeistert aufgenommen wie das Original in Italien. In den Niederlanden wird De engel van München im Januar 2021 erscheinen.
Alle meine Anfragen an Verlage und an den Autor selbst, ob denn ein deutscher „Engel von München“ geplant sei, wurden knapp beantwortet: Nein, da sei nichts in Planung. Hat die Zurückhaltung der Deutschen vielleicht damit zu tun, dass der Roman auf dem angenommenen Selbstmord von Adolf Hitlers Nichte Geli Raubal im Jahr 1931 aufbaut? Ist das etwa ein Thema, das wir hier in Deutschland lieber nicht noch einmal aufwärmen wollen?
Nun, so ganz ohne Potenzial für geschichtliche Verwerfungen ist die Romangeschichte Massimis tatsächlich nicht. Schließlich zeichnet er das Bild eines allen Anscheins nach nicht nur inzestuösen sondern geradezu paraphilen Verhältnisses zwischen Geli Raubal und ihrem Onkel Adolf Hitler. Hitler war Halbbruder von Gelis Mutter Angela Hammitzsch. Zum Zeitpunkt der Geschehnisse war er außerdem bereits seit acht Jahren Gelis Vormund und seit 1926 alleiniger Führer der NSDAP. Ein Skandal um sein Verhältnis zur Nichte oder gar eine Verwicklung in deren Tod hätte Hitler womöglich um die Reichskanzlerschaft im Jahr 1933 gebracht. – Und folglich die ganze Welt vielleicht um den Zweiten Weltkrieg?
Notiz am Rande: Das Buchcover der italienischen und der spanischen Ausgaben zeigt das Bild einer jungen Frau im weißen Badeanzug. Der Autor selbst erklärt, dass es sich dabei trotz einer gewissen Ähnlichkeit nicht um Geli Raubal handelt. Das Portrait der unbekannten jungen Frau stammt von Karl Schenker aus dem Jahr 1932. Schenker war jüdischer Fotograf, Illustrator und Maler, der überwiegend in Berlin arbeitete und 1938 nach London emigrierte.
Worum also geht es im Roman?
Es ist Samstag, der 19. September 1931. An diesem Wochenende beginnt also das Oktoberfest in München. Die beiden Kriminalkommissare Siegfried Sauer und Helmut Forster haben Bereitschaftsdienst. Sie werden von ihrem Chef unter dem Siegel der Verschwiegenheit auf einen delikaten Todesfall in der Prinzregentenstraße 16 angesetzt. In einem großzügigen Appartment im zweiten Stock lebt der damalige Parteichef der NSDAP, Adolf Hitler. In einem der Räume seiner Wohnung entdeckten Hausangestellte eine weibliche Leiche, nämlich die der Nichte Hitlers, Angela Maria Raubal, genannt „Geli“.
Die beiden Beamten untersuchen den Tatort minutiös. Alle Indizien und Zeugenaussagen deuten auf einen Selbstmord der jungen Frau hin. Wenn nicht …
Ja, wenn nicht das Zimmer der lebenslustigen Geli Raubal allzu klinisch aufgeräumt und geordnet wirken würde. Und wenn nicht der von innen verschlossene Raum gar nicht vom Hausverwalter geöffnet worden wäre, wie es alle Zeugen unisono behaupten; wenn nämlich nicht ausgerechnet zur fraglichen Zeit ein Schlüsseldienst hinzugezogen worden wäre.
Nun, dieser Dienstleister kann leider nicht mehr befragt werden. Denn auch er hat sich nur wenige Stunden nach seinem Einsatz selbst gerichtet. So scheint es zumindest.
Trotzdem schiebt der Münchener Polizeichef noch am gleichen Tag alle Bedenken beiseite, erklärt den Fall für abgeschlossen und belobigt seine beiden Kriminaler für die rasche Aufklärung.
Da stimmt doch etwas nicht!
Kommissar Sauer ist jedoch keinesfalls überzeugt: Diese übertriebene Ordnung in Gelis Zimmer? – Der tote Schlüsseldienstler? – Ein fehlendes Lieblingsschmuckstück der jungen Frau, ein goldenes Hakenkreuz? – Zeugenaussagen zu einer angeblichen Schwangerschaft der Toten? – Ein nach außen sehr kooperativer aber im Kern unerbittlicher Auftritt Adolf Hitlers am Tatort? – Und dessen unerklärlicher Hinweis auf spirituelle Sitzungen, an denen seine Nichte teilgenommen habe?
Zu viele lose Enden. Die tote Geli Raubal erscheint dem Ermittler schließlich im Traum:
„Schau genauer hin – sagte Geli – Du musst genauer hinschauen.“
Also schaut Siegfried Sauer genauer hin:
Es erweist sich, dass die Tote gar nicht am Leichenfundort gestorben war. Doch leider verbrennen alle Fundortfotos in der Gerichtsmedizin. Außerdem wird die Leiche aus fadenscheinigen Gründen nicht obduziert sondern freigegeben und sofort nach Österreich verfrachtet. Der zuständige untersuchende Gerichtsmediziner quittiert unangekündigt den Dienst und setzt sich ab.
Nun läge natürlich die Vermutung nahe, Adolf Hitler selbst habe seine Finger im schmutzigen Spiel. Doch genau dieser bittet Sauer inständig um rücksichtslose Aufklärung des Todesfalles. Dazu stattet Hitler den Ermittler mit allen nötigen Vollmachten zur Recherche innerhalb seiner Partei aus.
Wer also könnte Interesse am Tod Geli Raubals gehabt haben? Sauer und Forster laufen sich die Hacken ab. Längst handelt es sich nicht mehr um offizielle polizeiliche Ermittlungsarbeit. Ins Zentrum der Nachforschungen geraten abwechselnd nicht nur die politischen Spitzen der NSDAP und ihre Satelliten – Hitler, Himmler, Heydrich, Hoffmann, Göring, Goebbels, die Strassers; auch die Gegner der Bewegung stehen im Visier der beiden Ermittler.
Nichts bleibt, wie es zunächst scheint. Immer wieder geben unerwartete Wendungen der Geschichte neue Richtung. Und im letzten Romanviertel legt der Autor noch einmal einen Zahn zu: Jetzt gerät sogar der methodische Siegfried Sauer aus dem Tritt. Immer wieder scheinen ihm seine Kontrahenten einen Schritt voraus zu sein. Und dennoch kommen weitere überraschende Ergebnisse der Ermittlungen ans Licht des Tages.
Welches Ende die Geschichte um den Tod Geli Raubals letztlich nimmt, werde ich hier gewiss nicht verraten. (Vielleicht wird es ja doch noch irgendwann eine Romanübersetzung für deutsche Leser geben.)
Nur soviel sei gesagt: Das Finale hat es wahrlich in sich! – Ein Thriller allererster Güteklasse.
Erfolgsrezept
Der Roman umfasst (in seiner hier zugrunde liegenden spanischen Übersetzung) über fünfhundert Seiten. Die Handlung setzt am 19. September 1931 ein, einem Samstag, und endet am Freitag, den 25. September. Diese fünf Tage füllt Fabiano Massimi mit einer packenden Geschichte, die durchgängig aus der Sicht von Siegfried Sauer, einem der beiden ermittelnden Kriminalbeamten, wiedergegeben wird.
Es gelingt dem Autor nicht nur, den Spannungsbogen bis zum Schluss auf einem stetig ansteigenden Niveau zu halten. Er schafft es darüber hinaus, alle Irrungen und Wirrungen so zu präsentieren, dass seine Leserschaft nicht abgehängt wird. Doch andererseits wird die Erzählung auch niemals langweilig. – Der schwierige Spagat zwischen atemloser Spannung und stimmiger Argumentation ist Massimi auf eindrucksvolle Weise geglückt.
Personal
Dem schlanken, hochgewachsenen, blonden Kommissar Sauer stellt der Autor einen Freund und Mitarbeiter in der Figur des dunkelhaarigen, rundlichen, stets hungrigen, aber immer gut und zu Scherzen aufgelegten Helmut Forster zur Seite. Die beiden Ermittler ergänzen sich hervorragend und verstehen sich beinahe blind. Meint man zumindest.
Interessant ist vielleicht, dass aus historischen Originalakten hervorgeht: Damals im Jahr 1931 waren tatsächlich zwei Kriminalbeamte namens Sauer und Forster mit den Ermittlungen befasst. Die Vornamen der beiden Protagonisten und insbesonders den ungewöhnlichen Spitzname „Mutti“ für Helmut Forster hat sich Massimi ausgedacht.
Überhaupt finden sich im Engel von München viele Personen mit freundschaftlich-burschikosen Spitznamen: Abgesehen von der Leiche der Angela Raubal, die alle immer nur „Geli“ nannten, wird also Helmut Forster fast ausnahmslos als „Mutti“ tituliert. Siegfried Sauer ist manchmal „Siggi“ oder „Sieg“. Hermann Göring ist „Hermi“ und Hitler selbst ist „Onkel Alf“. Doch abgesehen natürlich von „Siggi“ und „Mutti“ sei der Gebrauch dieser Spitznamen historisch verbürgt, versichert der Autor.
Lokalkolorit
Wenn wir einen halben Tag in Wien ausklammern, handelt der gesamte Roman in München. Man merkt es der Geschichte an: Fabiano Massimi hat ganze Arbeit geleistet und offensichtlich im Detail vor Ort recherchiert. Die Handlung wird immer wieder durchbrochen von sehr anschaulichen Schilderungen örtlicher Gegebenheiten. Egal, ob es sich nun um architektonische Details handelt, etwa das Wohnhaus Hitlers und Gelis in der Prinzregentenstraße, oder um den Englischen Garten samt Chinesischem Turm, die Gegend um den Friedensengel oder um den Viktualienmarkt. Nur die Oktoberwies’n erspart uns der Autor, obwohl der Roman ja tatsächlich während der Festzeit spielt.
Jedenfalls: Der Leser folgt den beiden Kommissaren gern durch die Straßen des alten Münchens. Ich bin sehr angetan von der Einbindung der Stadt in die kriminalistische Handlung des Romans. (Zwar selbst in München aufgewachsen, bin ich doch ein paar Jahre zu jung, um das Lokalkolorit vor fast neunzig Jahren als Zeitzeuge beurteilen zu können. Aber Erzählungen meiner eigenen Eltern und Großeltern bestätigen dem Autor grundsolide Recherchearbeit.)
Sprache und Struktur
Vorweg geschickt sei die Feststellung, dass ich bis heute weder das italienische Original noch – aus genannten Gründen – eine deutsche Version lesen konnte. Aber die spanische Übersetzung überzeugt sprachlich auf der ganzen Linie. Der Text fließt kraftvoll dahin, es ist eine wahre Freude, Massimis Formulierungen zu folgen.
Beschreibungen des historischen Münchens wechseln sich ab mit der Kriminalhandlung, mit persönlichen Details aus dem Leben Siegfried Sauers und mit Geschichtlichem aus der Historie der Entstehung der NSDAP und deren Personal. Das alles ist eine wohl sortierte, abwechslungsreiche Mischung, die es einem im Laufe der Lektüre immer schwerer macht, das Buch aus der Hand zu legen.
Die Geschichte ist stimmig, da zieht sich nichts in die Länge. Und andererseits erschien mir die Erzählung nur in wenigen Fällen zu knapp. Doch wenn überhaupt, dann könnte dies ein Ansatz zu Kritik sein: Die eine oder andere Schlussfolgerung wird ein bisschen schwach begründet. Der Leser fragt sich, wieso die Ermittler an einigen Stellen unreflektiert über Augenscheinliches hinweg gehen, wo sie doch in der Regel so unglaublich akribisch vorgehen.
Tja, und dann & wann zieht der Autor eben auch richtig heftige Überraschungen aus dem Hut. Da muss man als Leser jedesmal kurz innehalten, den Kopf schütteln und sich fragen: Das gibt es doch nicht?! Das ist ja unglaublich … und passt doch so ausgezeichnet in die Erzählung.
Dichtung und Wahrheit
Wenn man das Buch nach der letzten Seite aus der Hand legt, ein- oder zweimal durchatmet und die Geschichte Revue passieren lässt, sieht man sich zweifellos mit der Frage konfrontiert, welche der Details historisch überliefert sind; und welche Fabiano Massimi hinzu gedichtet haben muss. Inbesondere zur Figur Hitlers, zu dessen Beziehung zu seiner Nichte und generell zu Frauen plagen den Leser Zweifel.
Öffentlich und auf die Schnelle zugängliche historische Quellen wie die Wikipedia ergehen sich in Andeutungen, Möglichkeiten und Unklarheiten anstelle historischer Tatsachen. Der Autor erklärt hingegen in einem Interview mit dem spanischen Correo Gallego, er habe intensives Quellenstudium betrieben. Alle Leser könnten sich ihre eigene Meinung auf Basis der Bibliografie am Ende des Romans bilden. Dort sind fast 70 teilweise unveröffentlichte Quellen aufgeführt, die er ausfindig gemacht hat.
Im Nachspann des Romans findet sich eine dreiseitige „Anmerkung des Autors“ über Wahrheit und Fakten. In dieser geht er auf Tatsachen ein, die aus Chroniken übernommen wurden, sowie auf Details, die auf seine eigene Kappe gehen. Wenn wir wohlwollend davon ausgehen, dass diese Anmerkungen einer historischen Überprüfung standhalten, dann besteht seine Geschichte um Geli Raubals Tod tatsächlich aus einem erschreckend hohen Anteil an überlieferten Fakten.
Einordnung des Romans
Ich bin noch immer ein bisschen perplex von all dem, was uns Fabiano Massimi in seinem Roman auftischt. Aber selbst wenn man einräumt, dass womöglich ein paar der Fakten doch eher ins Reich der Gerüchte gehören könnten, muss ich dennoch feststellen: Ohne jeden Zweifel ist vieles vertuscht worden, damals im Herbst 1931 in München. Und trotzdem, immer noch ergibt sich ein Bild deutscher Vergangenheit, das uns der Geschichtsunterricht vorenthalten hat. Und dieses Bild gefällt mir – mit Verlaub – ganz und gar nicht.
Verdienst des Autors ist es erstens, uns mit der Nase auf einen Schmutzfleck gestoßen zu haben, den in den vergangenen fast hundert Jahren niemand beseitigt hat, oder beseitigen wollte. Zweitens, an eine historische Person zu erinnern, die den Deckmantel des Totschweigens wohl kaum verdient hat, der über sie gebreitet wurde. Drittens, den Zeitgeist einer Generation wieder aufleben zu lassen, die sich am Scheideweg der Geschichte für eine weltweit folgenschwere Alternative entschied. – Ach ja, und viertens: einen überaus spannenden Thriller geschrieben zu haben.
Ich mag Massimis Einschätzung seines eigenen Buches. Wenn er selbst nämlich nur eine Erklärung zum Engel von München anführen dürfe, dann sei es doch diese:
„Es ist ein Buch, das man als Thriller lesen kann, oder als Kriminalroman, oder als historischen Roman, oder als geschichtliche Erkenntnis (meiner beiden Kriminalkommissare oder des deutschen Volkes). Aber in seinem Kern ist und bleibt es eine leidenschaftliche Huldigung zur Erinnerung an Geli Raubal, nicht als Spiel- oder Nebenfigur sondern als Mensch.“
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Wem diese Buchbesprechung gefallen hat, möchte vielleicht auch meine Rezension zu NSA – Nationales Sicherheits-Amt lesen.
Fazit:
L’angelo di Monaco oder El ángel de Múnich oder (unbestätigt) Der Engel von München ist ein ungeheur spannender Thriller über Ermittlungen um einen ungeklärten historischen Todesfall im privaten Umfeld Adolf Hitlers. Ein Kriminalroman, der sowohl handwerklich als auch thematisch und inhaltlich überzeugt. Der Autor Fabiano Massimi jagt uns durch das historische München, durch Intrigen, durch Vertuschung, durch bestürzenden Verrat. Sein Roman ist ein wunderbares Lehrstück darüber, wie man Historie aufarbeiten und aufbereiten kann, ohne die Geschichte dahinter verblassen zu lassen.
Für Der Engel von München gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung an alle Liebhaber historischer Romane, die einen grundsoliden Faktenhintergrund schätzen, sich aber darüber hinaus über gut konstruierte, intelligente Annahmen freuen, die eben Lücken zwischen den Fakten füllen können. Ich habe da kaum eine Wahl: Der Engel von München bekommt von mir 5 Sterne, die volle Punktzahl.
Fabiano Massimi, El ángel de Múnich
Alfaguara Verlag, 2020
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